Ein Jahr Center for Artificial Intelligence in Medicine

«KI ist ein wertvolles Instrument für die Ärzteschaft»

Tribüne
Ausgabe
2022/10
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20562
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(10):320-323

Affiliations
Redaktorin der Schweizerischen Ärztezeitung

Publiziert am 08.03.2022

Das vor einem Jahr ins Leben gerufene Berner Zentrum für Künstliche Intelligenz (KI) in der Medizin geht gezielt all jene Herausforderungen an, die sich durch die Einführung digitaler Technologien im Medizinsektor ergeben. Diese virtuelle Plattform, die Ärzteschaft und Fachpersonen aus den Ingenieurwissenschaften zusammenbringt, will die neuen Technologien in den Dienst der Patientinnen und Patienten stellen. Eine Reportage.
Prof. Mougiakakou und Ioannis vergleichen die von der App berechneten Nährwerte mit dem Etikett des vorgekochten Gerichts.
Im Gebäude des biomedizinischen Forschungszen­trums der Universität Bern – nur wenige Schritte vom Inselspital entfernt – tritt das Sonnenlicht strahlend durch die grossen Glasfenster in den Raum. Hier gibt es keine Mikroskope, eher Bildschirme, auf denen ­Organe in 3D und komplexe Grafiken zu sehen sind. Im Center for Artificial Intelligence in Medicine (CAIM) rauchen seit März 2021 die Köpfe in dem Bemühen, mit Hilfe medizinischer Spitzenforschung, Ingenieurwissenschaften und Digitalisierung neue Technologien auf den Weg zu bringen. Diese innovativen Projekte sollen klinische Anwendungen finden, die zur Optimierung der Patientenversorgung und der Präzisionsmedizin beitragen. Zwar denken wir bei KI natürlich sofort an Roboter und Science Fiction, doch ermöglicht dieser Bereich auch ganz reale, praxistaugliche Innovationen, beispielsweise im Stil von goFood, mit dem der Nährwert unseres Essens ermittelt werden soll.
Im Büro des Teams von Prof. Stavroula Mougiakakou gibt es zwei Teller, die Appetit machen; der eine enthält unechte Plastiknahrung, der andere echte Pasta mit Gehacktem. Ioannis, ein junger Forscher und Mitverantwortlicher für die Studie, zeigt, wie es geht. Er fotografiert das erste Gedeck aus zwei verschiedenen Perspektiven. Mit Hilfe bestimmter Algorithmen erkennt die Anwendung die Bestandteile des Menüs in Sekundenschnelle. Bevor der Nährwert der einzelnen Komponenten angezeigt wird, fordert mich Prof. Mougiakakou auf, die Kalorienzahl der Mahlzeit zu schätzen. Schwierig, wenn man sich diese Berechnungen nicht gewohnt ist … Sagen wir 600. Berichtigung: 500 Kalorien. «Gar nicht so schlecht!», meint die Elektro­ingenieurin, die seit zehn Jahren KI-Systeme für die ernährungsspezifische Analyse entwickelt und validiert. «Für Personen mit Diabetes ist die Bestimmung der aufgenommenen Zuckerwerte überlebenswichtig. Im Umgang mit Diabetes spielt die Technologie eine wichtige Rolle. Heutzutage wollen jedoch viele ihre Ernährung mit Hilfe von Apps kontrollieren. Aktuell testen wir in den Spitälern eine App, die das Pflegepersonal bei der Identifizierung unterernährter Personen unterstützt.» Mit Hilfe ähnlicher Prinzipien entwickelt die Gruppe auch ein System, das Narben auf der Lunge erkennen kann, um akute und chronische Lungen­erkrankungen, darunter Covid-19, zu diagnostizieren und vorherzusagen.
Die tragbare Brille von PeriVision ermöglicht es, den Verlauf eines Glaukoms zu Hause zu überprüfen.

Riesige Datenmengen

Wie alle anderen Bereiche durchläuft auch die Medizin gerade eine digitale Transformation. Der Gesundheitssektor generiert Milliarden von Daten, die jedoch kaum ausgewertet werden. Nun aber können sie für Patientinnen und Patienten sowie Ärztinnen und Ärzte von Nutzen sein. «Am CAIM entwickeln wir neue Technologien, die in der Lage sind, die von der Medizin generierten Daten zu synthetisieren und profitabel zu machen», erklärt Raphael Sznitman, der Direktor des Zentrums. Das CAIM ist deutlich mehr als nur ein einfaches Versuchslabor; es soll zum «Inkubator für die KI-Techniken in der Medizin werden», fügt der Bioinformatiker hinzu und verweist mit Nachdruck auf die Bedeutung der Übertragung. «Aufgabe der verschiedenen, im Umfeld des CAIM angesiedelten Expertenteams ist es, all jene Prototypen zu identifizieren, die in der Medizin Anwendung finden könnten. Geniale Ideen gibt es viele, doch nicht alle eignen sich für den klinischen Alltag.» Sznitman selbst erforscht das Potenzial von KI in der Ophthalmologie und pflegt einen regelmässigen Austausch mit den Ärztinnen und Ärzten. «Heute Morgen war ich im Spital, um herauszu­finden, ob eines unserer Modelle Chancen hat, von der Ärzteschaft eingesetzt zu werden. So lassen sich in Entwicklung befindliche Produkte optimieren, sie werden praktisch ‘massgeschneidert’.» Laut Raphael Sznitman ist es einzigartig, Berufsgruppen ins Spital zu bringen, die ursprünglich nichts mit der Medizin zu tun hatten. «Unsere Studierenden lernen die verschiedenen medizinischen Disziplinen kennen und können so mögliche neue Anwendungen im klinischen Umfeld besser einschätzen. Diese Zusammenarbeit zwischen Inge­nieurwissenschaften und Medizin ist ein spezifisches Merkmal der CAIM.» Ein Merkmal, das – so hofft der Direktor – die Aufmerksamkeit anderer Institutionen aus der Schweiz und dem Ausland sowie der Industrie wecken und neue Partnerschaften schaffen wird.

Langjährige Tradition

Das CAIM ist alles andere als ein Zufallsprodukt, sondern vielmehr das Ergebnis von Kontinuität. «Bern blickt auf eine lange Tradition in Sachen Medizintechnik und innovative Projekte zurück, bei denen sich ­Ingenieurwissenschaften und Medizin mischen. Dies verdanken wir Prof. Dr. med. Maurice Müller, Chirurg und Orthopäde am Inselspital», erklärt Raphael Sznitman. Dank der Universität Bern, dem Universitätsspital und dem nationalen Kompetenzzentrum für translationale Medizin und Unternehmertum, die eine gute Vernetzung zwischen klinischem Bereich, Forschung und Industrie ermöglichen, erweist sich die Bundeshauptstadt als idealer Standort. Das im Jahr 2008 ins Leben gerufene ARTORG Center for Biomedical Engineering Research ebnete den Weg für das CAIM, das mit der Künstlichen Intelligenz noch eine weitere Komponente beinhaltet. «Wir stellten fest, dass starkes Interesse an der KI-Forschung bestand anhand der zahlreichen Publikationen zu diesem Thema. Ein grosser Teil der Forschenden war in Bern. Daher beschlossen wir, die Kräfte zu bündeln und Synergien zu schaffen, um dieser Nachfrage gerecht zu werden.»
Prof. Mauricio Reyes nutzt die medizinische Bildgebung, um Hirntumore zu erkennen. Die KI liefert diese Informationen in einer Minute.

Keine Black Boxes

Zurück zu den rauchenden Köpfen. Der auf medizinische Bilddiagnostik spezialisierte Elektroingenieur Prof. Mauricio Reyes sitzt vor zwei grossen Bildschirmen, auf denen 3D-Abbildungen des Gehirns zu sehen sind. Gespeist durch tausende von Röntgenaufnahmen – das, was man als machine learning bezeichnet – erkennt KI einen Hirntumor und kann ihn, ebenso wie die anderen Risikopartien im Gehirn, markieren. «Die Segmentierung eines Tumors ist sehr aufwendig für Ärztinnen und Ärzte. KI liefert die entsprechenden Daten in weniger als einer Minute. Zudem lässt sich das Volumen des Tumors ermitteln.» Um den Segmentierungsprozess zu automatisieren, waren allerdings einige Jahre erforderlich. «Wir starteten im Jahr 2008 und sammelten Fallbeispiele aus verschiedenen Ländern. Je umfangreicher und vielfältiger die Daten, desto leistungsstärker die KI.» Basierend auf demselben Prinzip entwickelte Prof. Mauricio Reyes zudem eine Technik, mit der sich der Schweregrad von Covid-19-Fällen kurzfristig vorhersagen lässt. Der aus Chile stammende Ingenieur legt jedoch Wert auf die Verständlichkeit der Daten: «KI kann sehr viel, ist jedoch wie eine Black Box. Wir arbeiten an ihrer Interpretationsfähigkeit und versuchen abzuschätzen, welche Fehler sie machen kann. Die Ärzteschaft muss der Technologie vertrauen können, sonst wird sie nicht eingesetzt.»

Ein schweizweit einzigartiges Zentrum

Das Center for Artificial Intelligence in Medicine (CAIM) wurde im März 2021 eröffnet und ist eine virtuelle, interdisziplinäre Plattform zur Bündelung der Kompetenzen der Universität Bern, des Inselspitals Bern, des nationalen Kompetenzzentrums für translationale Medizin und Unternehmertum (sitem-insel) und der Universitären Psychiatrischen Dienste Bern (UPD). Es ruht auf fünf Säulen: Systemforschung unter Einbezug von Ingenieur­wissenschaften, Medizin und Künstlicher Intelligenz, Aus- und Weiterbildung der nächsten Generation von Fachpersonen im Kontext neuer Technologien, Vernetzung von Personen unterschiedlicher Disziplinen, Anpassung der entwickelten Innovationen an den klinischen Alltag durch die Zusammenarbeit mit der Industrie und unter Berücksichtigung ethischer Aspekte. Das Mandat für CAIM läuft jeweils vier Jahre.
Weitere Informationen: www.caim.unibe.ch
Mit Blick auf die ethischen Fragen, die KI aufwirft, erläutert Raphael Sznitman, dass das CAIM mit einem embedded ethics lab ausgestattet sei, das Spezialistinnen und Spezialisten in Sachen Ethik, Philosophie, Politik und Recht vereint. «KI hat grosse Auswirkungen auf das Leben der Menschen – dessen müssen wir uns ex­trem bewusst sein. Wir können nicht einfach nur Daten in ein System einfliessen lassen, ohne zu hinterfragen, was wir als Ergebnis haben wollen. Es liegt an uns zu bestimmen, was wir von einem System erwarten.»
Der Direktor des Zentrums ist der Ansicht, dass KI Patientinnen und Patienten beispielsweise nicht isolieren darf. KI sollte vielmehr ihre Autonomie stärken und ihnen in Sachen Gesundheit das Heft in die Hand geben. «Wir konzentrieren uns primär auf die Medizin. KI steht nicht im Mittelpunkt unseres Handelns, sie dient als Werkzeug. Im Mittelpunkt steht der Mensch.» Raphael Sznitman möchte all jene beruhigen, die Angst haben, KI könne eines Tages die Ärztin oder den Arzt ersetzen: «Das sind Hollywood-Phantasmen! KI ist sehr weit davon entfernt, eine medizinische Diszi­plin neu zu definieren. Da stellen sich so viele technische, rechtliche und finanzielle Fragen.»

Die extraterrestrische Brille

Damit all diese Ängste bald der Vergangenheit angehören, müssen zukünftige Medizinerinnen und Mediziner bereits ab Studium für Fragen rund um die neuen Technologien sensibilisiert werden. Aus- und Fortbildung ist eine weitere wichtige Säule des CAIM. «Digitalisierungskurse sind erst seit wenigen Jahren Teil der medizinischen Aus- und Fortbildung», betont Raphael Sznitman. Neben der Ausbildung einer neuen Generation von Fachpersonen der Ingenieurwissenschaften und Informatik mit Spezialisierung im medizinischen Bereich richtet sich das CAIM an Ärztinnen und Ärzte in der Weiter- und Fortbildung. «Das Interesse der Ärzteschaft ist gross, vor allem vor dem Hintergrund, dass KI immer mehr im klinischen Alltag präsent ist. Die Ärztinnen und Ärzte wollen die Künstliche Intelligenz besser verstehen und in den praktischen Alltag inte­grieren.»
Nach den Erläuterungen von Prof. Mauricio Reyes zum Potenzial der medizinischen Bilddiagnostik gilt es, noch eine letzte Erfindung zu entdecken. Die junge Post­doktorandin Serife Seda Kucur erwartet uns in einem Seminarraum. Auf dem Tisch liegt eine grosse, futu­ristisch wirkende schwarze Brille. Eine Brille für die Augmented Reality? Dieses tragbare Fernglas wurde von dem Start-up PeriVision entwickelt und dient der schnellen und kostengünstigen Entwicklungskontrol­le von Glaukomen, jener unheilbaren Augenerkrankung, von der knapp 80 Millionen Menschen weltweit betroffen sind. «Diagnostische Abklärungsverfahren und Kontrollen zum Glaukom sind unangenehm und streng», erklärt Serife Seda Kucur, die Mitbegründerin von PeriVision. «Betroffene müssen zur Überprüfung in die ophthalmologische Praxis gehen, und die Daten sind wenig zuverlässig, da die Prüfung lange dauert und das Auge ermüdet.» Mit dieser Brille können Betroffene jederzeit und überall selbst die Entwicklung des Glaukoms beobachten. KI ermöglicht einen Zeit­gewinn von 70% im Vergleich zur klassischen Untersuchung. Die grosse Datenmenge unterstützt die Zuverlässigkeit der Diagnose. Die Daten werden auf eine App übertragen, analysiert, und das Ergebnis wird angezeigt. Im Test erweist sich die Brille als erstaunlich leicht, trotz ihres ausserirdischen Aussehens. Ein roter Punkt in der Mitte muss fixiert werden, und in der Folge ist jedes Mal, wenn ein weiterer Punkt kurz vor den Augen auftaucht, auf eine Art Bedienhebel (der mit der Brille verknüpft ist) zu drücken. Keine Panik! Die Reflexe sind gut; noch droht kein Glaukom.
KI zeigt unendlich viele Möglichkeiten auf. Allerdings sind die Herausforderungen nicht minder zahlreich. Angesichts von Hilfsrobotern und Ferndiagnostik stellt sich vor allem auch die Frage nach der Kostenübernahme. «Wer zahlt die Rechnung? Die Patientin oder der Patient über die Krankenversicherung? Muss die öffentliche Hand in ihre Tasche greifen? In den nächsten zehn Jahren werden wir mit grossen Veränderungen konfrontiert werden, auf die es Antworten zu finden gilt», prophezeit Raphael Sznitman.

Nationale Konferenz zur Digitalisierung im Gesundheitswesen

Das Swiss eHealth Forum findet am 30. Juni und 1. Juli 2022 zum Thema «Pusher der Digitalisierung im Gesundheitswesen» statt. Die hohen Anforderungen an das Vorhandensein von Daten der verschiedensten Akteure und der Wunsch nach Transparenz und Aktualität haben die entscheidenden Fragen rund um die Digita­lisierung des Gesundheitswesens wieder in den Vordergrund ­gerückt. An der Tagung werden zentrale Themen wie Datenbewirtschaftung, Cybersecurity, Praxisbeispiele erfolgreicher Digitali­sierungsprojekte und die Wichtigkeit der internen Kommunikation, EPD und KI aufgegriffen. Am Event nimmt Prof. Dr. med. Roland Wiest teil, Vorstandsmitglied des CAIM. Er wird KI-Projekte aus der medizinischen Forschung präsentieren. Mehr Infos und Anmeldung: e-healthforum.ch