Zu den unspezifischen Effekten von Behandlungen

Zu guter Letzt
Ausgabe
2022/11
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20571
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(11):368

Affiliations
Prof. Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publiziert am 16.03.2022

In der klinischen Praxis sollten wir uns neben der intrinsischen Wirksamkeit auch mit den unspezifischen Effekten von Behandlungen beschäftigen. Es ist nicht zu leugnen, dass – über die reine angewandte medizinische Behandlung hinaus – Linderung oder Heilung in einem Kontext unterschiedlicher Erwartungen stattfinden. Sie werden durch eine Vielzahl von Botschaften, Ritualen und Symbolen vor und während der Konsultation und natürlich auch durch die Arzt-Patienten-Beziehung selbst gefördert. In Verbindung mit den jeweiligen Eigenschaften und Vorstellungen von Patient und Therapeut schaffen all diese Aspekte Vertrauen und Heilungserwartungen (oder auch nicht), deren Einfluss auf die Symptome mitunter erheblich sein kann [1].
«Unspezifische Effekte können klinisch und statistisch signifikante Ergebnisse hervorbringen, wobei die Arzt-Patienten-Beziehung die wichtigste Kom­ponente ist», schreibt T. J. Kaptchuk, Autor verschiedener Studien zum Placebo-Effekt. In einer dieser Studien [2] wurden Patienten mit Reizdarmsyndrom in drei Gruppen eingeteilt. Die erste Gruppe stand auf einer Warteliste, die zweite Gruppe erhielt Scheinakupunktur (rein zufälliges Setzen der Nadeln) und die dritte Gruppe ebenfalls Scheinakupunktur, aber verbunden mit einer stärkeren Zuwendung des Arztes. Sechs Wochen später spürten jeweils 28%, 44% und 62% eine Besserung.
«By far the most frequently used drug in general practice was the doctor himself», schrieb Michael Balint bereits vor mehr als sechzig Jahren [3]. Für zahlreiche Forschende in der Humanwissenschaft und viele von uns stellt die Arzt-Patienten-Beziehung tatsächlich einen wesentlichen Faktor für den Therapieerfolg dar. Eine mehrfach replizierte Studie, auf die häufig verwiesen wird, verdeutlicht ebenfalls dieses Postulat [4]. In ­einem postoperativen Kontext zeigen potente Medi­kamente wie starke Analgetika eine verzögerte und ­signifikant geringere Wirksamkeit, wenn sie über eine vorprogrammierte Maschine ohne jegliche ärztliche Interaktion verabreicht werden, als wenn sie von einem Arzt am Patientenbett und in Interaktion mit der Patientin oder dem Patienten verabreicht werden.
Die subtilen neurobiologischen Veränderungen, welche die Arzt-Patienten-Interaktion auf beiden Seiten auslöst, bilden ein zentrales Element in diesem Beziehungsprozess, der laut H. Adler der primitiven «Einstimmung» zwischen Mutter/Vater und Säugling ­ähnelt [5]. Davon zeugen zum Beispiel die Spannungsgefühle oder andere körperliche Reaktionen, die wir manchmal verspüren, während wir unseren Patientinnen und Patienten zuhören, und die eine Form von Empathie darstellen, die in unserem Körper zum Ausdruck kommt. Der Begriff der «Einstimmung» verweist auf die wichtige Rolle der nonverbalen Kommunikation zwischen den beiden Partnern sowie auf die intersubjektive Dimension der Interaktion. In dieselbe Richtung weist insbesondere die psychotherapeutische Forschung eines Teams in Lausanne, die belegt, wie sich die dynamische Anpassung zwischen Patient und Therapeut auf die therapeutische Allianz und den Therapieerfolg auswirkt – über die Spezifizität der angewandten psychotherapeutischen Methoden hinaus [6].
Bei der Suche nach einem Gleichgewicht der klinischen Praxis zwischen Standardisierung, Subjektivität und Kreativität und angesichts der knappen Zeiten, die wir den Patientinnen und Patienten widmen können, erscheint es mir hilfreich und ermutigend, das erheb­liche Wirkpotenzial der Arzt-Patienten-Beziehung für die Linderung noch einmal bekräftigen zu können. Dieser intersubjektive Raum zwischen Wissenschaft und ärztlichem Handwerk ist eine zentrale Ankerstelle unserer beruflichen Praxis. Diesen wertvollen Raum gilt es, allen Widrigkeiten zum Trotz, gegen Zwänge und technokratische Begehrlichkeiten zu verteidigen.
afallaz[at]bluewin.ch
1 Allaz AF, Cedraschi C. Réflexions sur l’effet placebo en clinique de la douleur. Somatosens Pain Rehab. 2021;18:101–9.
2 Kaptchuk TJ, et al. Components of placebo effects: RCT in patients with IBS. BMJ. 2008;336:999–1003.
3 Balint M. Le médecin, son malade et la maladie. Paris: Payot; 1960.
4 Colloca L, Lopiano L, Lanotte M, Benedetti F. Overt versus covert treatment for pain, anxiety, and Parkinson’s disease. Lancet Neurol. 2004; 3:679–84.
5 Adler HM. Toward a Biopsychosocial Understanding of the Patient–Physician Relationship. J of Gen int Med. 2007;22:280–5.
6 Despland JN, De Roten Y, Kramer U. L’Evaluation des Psychothérapies. Cachan: Lavoisier; 2018.