Die vielen Leben des Artikel 47c KVG

FMH
Ausgabe
2022/08
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20573
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(08):237

Affiliations
Dr. med., Präsidentin FMH

Publiziert am 22.02.2022

Wer das politische Geschehen aufmerksam verfolgt, erlebt immer wieder Déjà-vus. Im Gegensatz zum echten Déjà-vu handelt es sich dabei jedoch meistens nicht um eine Erinnerungstäuschung. Häufig ist die Erinnerung, dass ein politisches Vorhaben bereits mehrfach diskutiert (und verworfen) wurde, völlig korrekt.
Dies ist auch der Fall, wenn in diesen Tagen das Parlament die Ergänzung eines Artikels 47 c im KVG diskutiert, ein Vorhaben von enormer Tragweite für unser Gesundheitswesen. Der Artikel fordert «Regeln zur Korrektur bei ungerechtfertigten Erhöhungen der Mengen und der Kosten». Was erstmal unverdächtig klingt, setzt de facto die Festlegung einer Kostenobergrenze voraus, bis zu der Patientenbehandlungen als «gerechtfertigt» gelten. Wird diese Grenze überschritten, drohen Ärzten und Ärztinnen finanzielle Sank­tionen. Wir sollen also genötigt werden, eine vorab ­definierte Kostengrenze nicht zu überschreiten – unabhängig davon, was unsere Patienten und Patient­innen brauchen.
Wem diese Forderungen seltsam bekannt vorkommen, hat guten Grund dazu: Bereits im Jahr 2017 forderte die teilweise wortgleiche Kommissionsinitiative 17.402 ebenfalls eine solche Budgetierung. Die Gesundheitskommission des Nationalrats SGK-N warb im Mai 2018 mit Verweis auf die Gesundheitskosten eindringlich für diese Initiative, die den Bundesrat «in seinen Bestrebungen, Kostendämpfungsmassnahmen durchzusetzen, unterstützen» sollte [1]. Nach einer inhaltlichen Diskussion u.a. über Rationierung als mögliche Folge von Kostenobergrenzen kam der Nationalrat jedoch zu einer anderen Auffassung und versenkte die Initiative mit 97 zu 91 Stimmen [1].
Mit dieser parlamentarischen Niederlage wären die «Massnahmen zur Steuerung der Kosten und Leistungen» Geschichte gewesen, hätte ihnen nicht das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) ein zweites Leben beschert: Das im Herbst 2018 in die Vernehm­lassung geschickte erste Kostendämpfungspaket umfasste acht Massnahmen, die aus dem Expertenbericht abgeleitet waren – und den auf Wunsch des EDI eingebrachten Artikel 47 c. [2] Im Windschatten des Expertenberichts wurde so die abgelehnte Initiative 17.402 erneut vorgelegt und fand ihren Weg in das vom Bundesrat 2019 verabschiedete Massnahmenpaket.
Im Parlament folgten viele Abstimmungen, die nicht knapper hätten ausfallen können. So entschied zunächst die Gesundheitskommission des Nationalrats im August 2020 mit 12 : 11 Stimmen, den Artikel 47 c nicht zu streichen, wenige Monate später entschied der Nationalrat hingegen mit 91 : 90 Stimmen, den Artikel zu streichen. Ein Jahr darauf, im Oktober 2021, entschied die stände­rätliche Gesundheitskommission mit 7 : 6 Stimmen wiederum, den Artikel nicht zu streichen, und ­wiederum ­wenige Monate später, im Dezember 2021, beschloss der Ständerat mit 21 : 20 Stimmen, den Artikel zu streichen. Mit den Streichungen durch National- und Ständerat schien Ende 2021 dann auch das zweite Leben des Artikels 47 c beendet.
Doch die üblichen Regeln scheinen beim Artikel 47 c nicht zu gelten: Im Januar 2022 verhalfen Rückkommens­anträge in beiden Gesundheitskommissionen dem Artikel 47 c zu seinem dritten Leben. Dass auch hier wieder das EDI im Hintergrund mitwirkte, kann nur vermutet werden. Im neu lancierten Spiel der knappen Entscheide hat die SGK-N den Artikel 47 c ­zuletzt mit Stichentscheid ihres Präsidenten wieder gestrichen und es ist zu hoffen, dass der Nationalrat diesem Entscheid am 28. Februar folgen wird. Massive Eingriffe in unser Gesundheitswesen, wie sie der Artikel 47 c impliziert, sollten nicht durch Penetranz und Ränkespiele mit hauchdünnen Mehr­heiten durch­gesetzt werden. Zumal das nächste Déjà-vu bald folgen wird: Mit dem indirekten Gegenvorschlag einer «Zielvorgabe» werden wir sehr bald wieder über Budgetierung diskutieren müssen.
2 EDI /BAG, 14.9.2018. Kostendämpfungsmassnahmen zur Entlastung der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP): 1. Massnahmenpaket für die Vernehmlassung. URL: https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/53668.pdf