«Die Schweizer Alzheimer-­Forschung ist sehr innovativ»

Tribüne
Ausgabe
2022/11
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20578
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(11):362-363

Affiliations
Redaktorin Schweizerische Ärztezeitung

Publiziert am 16.03.2022

Ein neues nationales Register für Gehirngesundheit soll dazu beitragen, die Forschung im Bereich der Demenz voranzutreiben. Das Ziel ist es, die stille Phase der Alzheimer-Krankheit, die in der Schweiz immer häufiger auftritt, besser zu erkennen. Prof. Giovanni Frisoni, Leiter des Gedächtniszentrums am Universitätsspital Genf (HUG), erläutert die Hintergründe.
Prof. Giovanni Frisoni: «Beim Online-Register ­sehen wir die Zivilgesellschaft als Partnerin.»
Prof. Frisoni, Sie sind der Initiator des «Brain Health Registry». Warum haben Sie dieses nationale Register für gedächtnisbezogene Krankheiten und insbesondere Alzheimer eingerichtet?
Wir folgen damit den jüngsten wissenschaftlichen Entwicklungen im Bereich der Demenz. Lange Zeit war der Umgang mit Demenzpatienten reaktiv: Sie wurden ­behandelt, sobald sie mit Gedächtnisstörungen und Schwierigkeiten im Alltag zu uns kamen. In jüngster Zeit hat die Behandlung neurodegenerativer Erkrankungen ein neues Paradigma erreicht, nämlich das der Sekundärprävention. Es geht also darum, bei Menschen einzugreifen, die noch keine Gedächtnisstörungen, aber ein hohes Risiko haben, eine Form von Demenz zu entwickeln.
Das Register soll also helfen, Personen zu identifizieren, die potenziell von Alzheimer bedroht sind.
Genau das ist der Fall. Sekundärprävention bedeutet, dass wir Menschen erreichen müssen, die keine kognitiven Störungen oder Symptome haben, also eine Bevölkerungsgruppe, die keinen Grund hat, ein Gedächtniszentrum aufzusuchen. Es liegt also an uns, diese Menschen zu erreichen. Das Register steht allen Personen ab 50 Jahren offen, dem Alter, ab dem man theoretisch gefährdet ist.
Das «Brain Health Registry» ist ein Schweizer Online-Register, das die Registrierung von Personen erleichtern soll, die einen Beitrag zur Erforschung der Alzheimer-Krankheit und anderer mit dem Gedächtnis zusammenhängender Krankheiten leisten möchten. Es ist das Ergebnis der Zusammenarbeit zwischen den Gedächtniszentren in Basel, Bern, Freiburg, Genf, Lausanne, Lugano, St. Gallen und dem Forschungszentrum in Zürich. Alle Personen ab 50 Jahren, mit oder ohne kognitive Beeinträchtigungen, können sich dort anmelden. ­Personen, die den Kriterien einer laufenden Studie entsprechen, werden von den Forschungsteams kontaktiert. Weitere Informationen und Anmeldung: www.bhr-suisse.org
Das «Brain Health Registry» ist das Ergebnis einer Synergie zwischen den verschiedenen Gedächtnis­zentren der Schweiz. Steckt dahinter das Bestreben, die Schweiz international an die Spitze zu bringen?
Nach den USA, Grossbritannien und den Niederlanden ist die Schweiz das vierte Land, das ein solches Register einrichtet, und wir gehören damit zu den Pionieren. Wir wollen eine Lücke schliessen: Personen, die an einem Programm zur Sekundärprävention interessiert sind, können dies nicht über ihren Hausarzt tun, da es keine klinischen Programme gibt, die von den Krankenversicherungen bezahlt werden. Das Online-Register soll daher die Anmeldung potenzieller Kandidaten erleichtern. Bei diesem Ansatz sehen wir die Zivilgesellschaft als Partnerin.
Wollen Sie damit sagen, dass das Interesse der Behörden an neurodegenerativen Erkrankungen gering ist?
Sagen wir, man könnte erwarten, dass der Bund diesen Krankheiten mehr Aufmerksamkeit schenkt, da die Schweiz ein alterndes Land ist, dessen Bevölkerung immer häufiger von Alzheimer betroffen sein wird. Der Bundesrat hat vor kurzem einen Vorschlag für ein nationales Forschungsprogramm zu Demenzkrankheiten abgelehnt. Dies ist umso erstaunlicher, als wir in diesem Bereich einen sehr innovativen und wettbewerbsfähigen Wissenschaftsstandort haben.

Demenz in Kürze

In der Schweiz sind etwa 150 000 Menschen von Demenz betroffen. In 70 bis 80% der Fälle handelt es sich um die Alzheimer-Krankheit. Die Zahl der Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen ohne Demenzdiagnose wird auf 300 000 geschätzt. Die Hälfte von ihnen werde in den nächsten fünf bis zehn Jahren eine Demenz entwickeln, so Prof. Giovanni Frisoni. Die häufigsten Symptome sind Gedächtnisstörungen. Weitere Anzeichen der Krankheit sind Sprachstörungen, visuell-räumliche Störungen und Störungen der exekutiven Funktionen.
Bedeutet das, dass die Demenzforschung nicht ausreichend finanziert wird?
Im Vergleich zur medizinischen Forschung in Italien, die ich sehr gut kenne, verfügt die Schweiz über mehr Ressourcen. Trotzdem gibt es keine spezielle Finanzierung für Demenz. Aber wir sind keine Ausnahme: Die meisten Länder haben wenig getan, um neurodegenerative Erkrankungen zu bekämpfen. Ausnahmen sind Frankreich, das unter Präsident Nicolas Sarkozy einen Demenzplan eingeführt hat, und Deutschland mit dem Nationalen Demenznetz (DZNE). In der Schweiz sind wir weitgehend von europäischen Projektauf­rufen und Spenden von privaten Stiftungen abhängig.
Könnte das Register dazu beitragen, die Aufmerk­samkeit auf Demenz zu lenken?
Das hoffe ich. Wir würden uns wünschen, dass das ­Register das klinische System und das Netzwerk der Schweizer Gedächtniszentren stärkt, damit diese für Pharmaunternehmen und öffentliche Gelder inter­essanter werden.
Bevor die ersten Symptome auftreten, hat die Alzheimer-Krankheit eine lange stille Phase. Kann der Verlauf der Krankheit während dieser Phase beeinflusst werden?
Die Krankheit tritt zehn bis fünfzehn Jahre vor den ersten Symptomen auf. Diese «Inkubationszeit» wird als Risikophase betrachtet, in der man die Entwicklung von Gedächtnisstörungen noch beeinflussen kann. Zum Beispiel durch eine mediterrane Ernährung, regelmässige körperliche und geistige Betätigung, Kon­trolle der kardiovaskulären Risikofaktoren wie Blutdruck und Diabetes, Vermeidung von Alkohol, Rauchen und Drogen, die für das Gehirn giftige Sub­stanzen sind. Über den Lebensstil hinaus untersuchen wir derzeit weitere Strategien, z.B. Eingriffe in die Darmmikrobiota oder nichtinvasive transkranielle Stimulation, die eine reinigende Wirkung auf toxische Proteine zu haben scheint.
Kann man sagen, dass die Ursachen von Alzheimer multifaktoriell sind?
Die Botschaft, dass Alzheimer eine multifaktorielle Krankheit ist, ist gefährlich. Es wird der Eindruck erweckt, dass es so viele Faktoren gibt, dass man nichts dagegen tun kann, genauso wie gegen das Altern. Dies ist jedoch nicht der Fall. Die Ursachen sind biologisch. Wie andere neurodegenerative Erkrankungen ist Alzheimer eine Proteinopathie: Toxische Proteine lagern sich im Gehirn ab und führen zum neuronalen Tod. Diese Ablagerung wird durch mehrere Risikofaktoren begünstigt, darunter das Alter, der APOE4-Genotyp, das weibliche Geschlecht und ein niedriger Bildungsstand. Dies ist jedoch nicht gleichbedeutend mit der Behauptung, dass die Krankheit multifaktoriell bedingt ist.
Derzeit ist Alzheimer eine unheilbare Krankheit. Wie schaffen es die Betroffenen, den Alltag zu bewältigen?
Medikamente, die auf das Neurotransmittersystem einwirken, können die Schwierigkeiten des täglichen Lebens lindern und das Fortschreiten der Krankheit vorübergehend für etwa 6 bis 18 Monate verlangsamen. Diese Medikamente können die Gehirnaktivität und bestimmte kognitive Fähigkeiten teilweise ver­bessern. Es handelt sich jedoch um eine Down­stream-Strategie. Eine möglichst weitgehende Upstream-­Behandlung wäre jedoch wünschenswert. Es bleibt abzuwarten, ob sich monoklonale Antikörper oder Eingriffe in die Darmmikrobiota als wirksam erweisen.
Das «Brain Health Registry» will die Forschung in diesem Bereich vorantreiben. Welche Arten von Studien laufen derzeit und wann werden Sie die Personen, die im Register eingetragen sind, kontaktieren?
Derzeit laufen sechs Studien. Eine davon befasst sich zum Beispiel mit der intrakraniellen akustischen und visuellen Stimulation. Mitte Februar waren 662 Per­sonen registriert. Wir werden die Freiwilligen, die zu einer der Forschungsstudien passen, ab der zweiten Jahreshälfte kontaktieren.