Perspektivenwechsel nach zwei Jahren Corona-Politik

Zeit für eine kantonale und überkantonale Corona-Strategie

Tribüne
Ausgabe
2022/14
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20608
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(14):486-490

Affiliations
a Dr. med., Kantonsarzt, Amtsleiter Amt für Gesundheit Zug, Präsident Vereinigung der Kantonsärztinnen und Kantonsärzte der Schweiz VKS-AMCS; b Lic. phil., Landammann und Gesundheitsdirektor des Kantons Zug; c Dr. med., Präsidentin der Schweizerischen Ärztegesellschaft FMH, Bern; d Dr. sc. med., Pflegewissenschaftlerin, Corona-Zentrum, Institut für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention, Universität Zürich; e Dr. med., Leitende Ärztin Infektiologie/Spitalhygiene, Kantonsspital Baden; f Dr. med., MPH, Kantonsarzt, Kanton Basel-Stadt, Basel; g Dipl. Arzt., MPH, Kantonsarzt, Kanton Basel-Landschaft, Liestal; h Dr. med., MPH, Kantonsarzt, Kanton Freiburg, Freiburg; i MSc, MPH, Institut für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention der Universität Zürich; j PD Dr. med., MPH, Militärärztlicher Dienst, Schweizer Armee, Bern, Institut für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention, Universität Zürich

Publiziert am 06.04.2022

Das Ende der Corona-Pandemie für die Schweiz zeichnet sich ab. Damit wird sich die Gesundheitspolitik wieder auf ihre Regelstrukturen abstützen und sich statt nur auf die Kapazität der Intensivpflegestationen wieder auf umfassendere Ziele ausrichten können. Eine besondere Bedeutung werden dabei kantonale und überkantonale Corona-Strategien erlangen.
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Es ist absehbar, dass mit der Omikron-Variante von SARS-CoV-2 nach der Überwindung der aktuellen Infektionswelle das Risiko für ein Systemversagen in der Schweiz deutlich sinken wird. Trotz der zwischenzeitlich sehr hohen Infektionszahlen sind die Hospitalisationen von Patientinnen und Patienten mit laborbestätigter Infektion nicht im befürchteten Ausmass angestiegen, die Belegung der Intensivstationen durch Covid-19-Erkrankte ist nach wie vor hoch, aber rückläufig (Abbildung 1). Falls sich nicht noch einmal eine virulentere und übertragbarere Variante des Virus ausbreitet, ist die Schweiz damit über ein geregeltes Aufheben der Massnahmen zur Pandemiebekämpfung auf dem Weg zurück in die gesundheitspolitische Normalität.
Abbildung 1: Verlauf der Covid-19-Pandemie in der Schweiz vom Tag des ersten gemeldeten Falles bis am 17.02.2022. (Quelle: Lagebericht Sanität des Militärärztlichen Dienstes MEDINTEL der Schweizer Armee vom 18.02.2022).
Dieser Artikel zeigt die Möglichkeiten eines Perspektivenwechsels auf, weg vom Krisenmodus und hin zu den Chancen einer umfassenden Gesundheitspolitik. Er schlägt mögliche Ziele einer zukünftigen kantonalen und überkantonalen Corona-Strategie vor, und er skizziert ein Vorgehen zu deren Erarbeitung.

Corona-Politik seit Februar 2020

Die Corona-Pandemie begann in der Schweiz mit dem ersten gemeldeten Fall am 24. Februar 2020. Bereits vier Tage später erklärte der Bundesrat die besondere Lage gemäss Epidemiengesetz und erliess ein Veranstaltungsverbot ab 1000 Personen. Zunächst wurde versucht, das Virus gar nicht erst Fuss fassen zu lassen («Suppression»). Der Beginn der Infektiosität schon während der präsymptomatischen Phase ebenso wie der grosse Anteil von asymptomatischen und dennoch ansteckenden Infizierten liessen diesen Ansatz aber scheitern. Am 16. März 2020 wurde deshalb durch den Bundesrat die ausserordentliche Lage erklärt, die ergriffenen drastischen Massnahmen führten zu einem raschen Rückgang der Fallzahlen. Am 19. Juni 2020 erfolgte der Wechsel zurück zur besonderen Lage. Der Ansatz zur Eindämmung der Fallzahlen («Containment») war zunächst erfolgreich.
Im Rahmen der deutlich schwerwiegenderen zweiten Welle ab Oktober 2020 sowie der unmittelbar folgenden weiteren Wellen erfolgt der Wechsel zur Verlang­samung der Ausbreitung («Mitigation»), wie sie im 3-Phasenmodell des Bundesrats vom 12. Mai 2021 erstmals ausformuliert wurde [1]. Inzwischen hat sich die öffentliche und politische Diskussion fast vollständig auf das Ziel fokussiert, den Kollaps des Gesundheitswesens und besonders der Intensivpflegestationen zu verhindern.

Chancen einer kantonalen Strategie

Durch die eingangs beschriebene Entwicklung scheint diese Gefahr nun abgewandt zu sein. Mit dem absehbaren Wechsel zurück zur normalen Lage verschieben sich die Verantwortlichkeiten zwischen Bund und Kantonen wieder. Tabelle 1 gibt einen Überblick über die entsprechende Aufgabenverteilung in den verschiedenen Lagen gemäss Epidemiengesetz [2, 3].
Tabelle 1: Aufgabenverteilung im Infektionsschutz sowie bei relevanten übergeordneten Aufgaben zwischen Bund und Kantonen.
Nach einer Transitionsphase werden die Akteure des Gesundheitswesens wieder ihre Rolle gemäss normaler epidemiologischer Lage wahrnehmen, und auch die Corona-Politik wird in die Verantwortung der kantonalen Gesundheitsdirektionen übergehen. Damit ergibt sich die Chance, dass nach der Systemerhaltung wieder Aspekte wie das Vorsorgeprinzip, die Lebensqualität und die Gesundheitsversorgung aller Erkrankten oder die Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen in die Diskussion eingebracht werden. Die Strukturen für die Ausbruchsbekämpfung und das Impfen können den neuen Bedürfnissen angepasst werden, Vorschriften wieder durch Verhaltensempfehlungen ersetzt werden, neue soziale Normen sich herausbilden, innovative Ansätze ausgetestet werden, und die Angebote in der Gesundheitsversorgung können bedarfsgerecht weiterentwickelt werden.
Die zukünftigen Massnahmen sollen sich dabei auf die Ziele ausrichten, wie sie nun für kantonale Corona-Strategien und auch für die überkantonale Zusammenarbeit definiert werden können. Wie bei anderen Krankheiten können sich diese Ziele auf eine Minimierung der Anzahl der Erkrankungen und der Erkrankungs­folgen sowie auf eine nachhaltige Entwicklung des Gesundheitswesens und anderer gesellschaftlicher Bereiche hin orientieren. Zu letzteren gehören beispielsweise Bildung, Arbeit, Freizeit und Kultur, Reisen und Tourismus. Nicht zuletzt müssen aber auch auf kantonaler und lokaler Ebene die Erfahrungen der letzten zwei Jahre ausgewertet und für die Vorbereitung auf nächste pandemische Bedrohungen genutzt werden.
Tabelle 2 zeigt exemplarisch mögliche Ziele einer kantonalen Corona-Strategie, wie sie unter Berücksichtigung der lokalen Bedürfnisse für die verschiedenen Zielgruppen definiert werden können. Die Definition und Gewichtung der Ziele ist bereits Teil der Entwicklung einer solchen Strategie.
Tabelle 2: Vorschläge für übergeordnete Ziele und Detailziele einer kantonalen Coronastrategie. Die Blautöne entsprechen dem Beitrag, den das jeweilige Detailziel zum übergeordneten Ziel leisten kann. Dunklere Blautöne entsprechen grösseren Beiträgen.

Entwicklung und Umsetzung

Strategien zu Gesundheitsthemen sind eine Möglichkeit, relevante Akteure und Bevölkerungsgruppen ­einzubinden und so bedarfsgerechte und nachhaltige Lösungen auf kantonaler Ebene zu finden und umzusetzen. Tabelle 3 zeigt exemplarisch Akteure und ihre möglichen Beiträge zu den übergeordneten Zielen ­einer kantonalen Corona-Strategie. Die Ausarbeitung ­einer Strategie umfasst darüber hinaus die Festlegung der Massnahmen, die Sicherstellung der Ressourcen, die Definition eines Zeitplans sowie die Planung der Evaluation. Dafür ebenso wie bei der Umsetzung ihrer jeweiligen Strategie werden die Kantone ihre eigenen Schwerpunkte setzen, ihre relevanten Akteure identifizieren sowie auf ihre eigenen Strukturen und Abläufe zurückgreifen.
Tabelle 3: Mögliche Akteure und Schwerpunkte ihrer Beiträge in der Entwicklung und Umsetzung einer kantonalen Coronastrategie. Die Blautöne entsprechen dem Beitrag, den der jeweilige Akteur zum übergeordneten Ziel leisten kann. Dunklere Blautöne entsprechen dabei grösseren Beiträgen.
Die Erfahrungen der letzten beiden Jahre auf lokaler und kantonaler Ebene sind auch für Strategien im Hinblick auf die normale epidemiologische Lage von gros­ser Bedeutung. Der Einbezug insbesondere der Leistungserbringer in den Arztpraxen, in den Spitälern, bei den Rettungsdiensten sowie in der Langzeitpflege geschieht idealerweise bereits in der Vorbereitung von Massnahmen und bei der Kommunikation. So sind die entsprechenden Ressourcen und Bedürfnisse auch bezüglich Vorlaufzeiten bekannt, falls sich die Lage ändert und Anpassungen vorgenommen werden müssen.
Ein bedarfsgerechtes Monitoringsystem mit nachvollziehbaren und den Zielsetzungen angepassten Indikatoren sowie regelmässige und transparente Lagebeurteilungen [4] sind die Grundlage für eine sachliche Diskussion unter allen Akteuren. Zudem erlauben sie den einzelnen Organisationen, ihre eigenen Bedürfnisse zu antizipieren und sich nötigenfalls mit Partnern abzusprechen.
Konkrete Ziele ähnlich denen in Tabelle 2 müssen allenfalls über verschiedene Massnahmen sowie über die Ausrichtung auf zwischengelagerte Prozessziele angegangen werden. So können zum Beispiel im Hinblick auf die bedarfsgerechte Nutzung von Impfangeboten Massnahmen zur Verbesserung der impfbezogenen Gesundheitskompetenz eine wichtige Rolle spielen. Hier wie auch bei Reintegration von Langzeit-Betroffenen kann zudem angewandte Forschung einen wichtigen Beitrag leisten.
Die Etablierung entsprechender, oft überkantonaler Kooperationen erlaubt es auch bei einer allfälligen Verschärfung der Lage, rasch auf interprofessionelle Expertise zuzugreifen. Das Gleiche gilt für die Praxis, beispielsweise bezüglich Infektionspro­phylaxe oder Skill-Grade-Mix in der Pflege. In verschiedenen Kantonen haben die Spitäler in den letzten beiden Jahren eng zusammengearbeitet, ein ­erfolgreiches interkantonales Beispiel ist die Ko­ordi­nation der intensivmedizinischen Kapazitäten im ­Rahmen der «gemeinsamen Gesundheitsregion» Basel-Stadt und Basel-Landschaft.

Perspektiven

Die Corona-Pandemie ist noch nicht vorbei. Die anspruchsvolle Transitionsphase ist noch zu bewältigen, auch das Auftreten neuer aggressiver Virusvarianten kann nicht ausgeschlossen werden. Dennoch ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, den Blick nach vorne zu richten und gemeinsam mit der Bevölkerung und den Betroffenen das vielbeschworene «Leben mit dem Virus» aktiv in Angriff zu nehmen. Den kantonalen Gesundheitsbehörden kommt hierbei die Rolle des Schrittmachers zu.
Nur gemeinsam mit den Akteuren auf lokaler sowie auf überkantonaler Ebene sowie ihrer Expertise und ihren Ressourcen wird es möglich sein, die Ziele einer kantonalen Strategie zu erreichen, von den Erfahrungen aus anderen Bereichen unseres föderalen Systems zu profitieren und für die nächste pandemische Bedrohung bereit zu sein.
Kantonale Gesundheitsstrategien werden auch zu ­anderen Themen erfolgreich umgesetzt, aktuell zum Beispiel die Suizidpräventionsstrategie sowie die Suchtstrategie im Kanton Zug. Exemplarisch ist nach wie vor die Suchtpräventionsstrategie von Stadt und Kanton Zürich, die in den 1990er-Jahren aus der Krisensituation der offenen Drogenszene und derjenigen von AIDS entstanden ist [5]. Sie hat über Jahre hinaus die Entwicklung auch auf nationaler Ebene sowie über die Landesgrenzen hinaus [6] beeinflusst.

Das Wichtigste in Kürze

• Die Bekämpfung der Corona-Pandemie in der Schweiz hat sich von der Suppression über das Containment zur Mitigation entwickelt. Zuletzt hat sich die öffentliche und politische Diskussion fast vollständig darauf fokussiert, die Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens aufrecht zu erhalten.
• Mit einer Stabilisierung der Situation im Gesundheitswesen sowie noch hohen, aber rückläufigen Fallzahlen zeichnet sich eine Rückkehr in die normale epidemiologische Lage ab.
• Damit können wieder Aspekte wie das Vorsorgeprinzip, die Lebensqualität und die Gesundheitsversorgung aller Erkrankten oder die Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen in die Diskussion eingebracht werden.
• Kantonale Corona-Strategien können zur Minimierung der Anzahl Erkrankungen und Erkrankungsfolgen, zu einer nachhaltigen Entwicklung des Gesundheitswesens und anderer gesellschaftlicher Bereiche beitragen. Durch Nutzung auch der lokalen und überkantonalen Expertise und Ressourcen können sie zudem die Bereitschaft auf die nächste pandemische Bedrohung sicherstellen.
Die Autorinnen und Autoren danken Dr. med. Pirmin Schmid, MSc, Medical Intelligence Militärärztlicher Dienst Bern, für die Überlassung von Abbildung 1. Sie danken dipl. Ärztin Eileen Martin, Infektiologie und Infektionsprävention Kantonsspital Aarau, für die kritische Durchsicht des Manuskripts.
redaktion.saez[at]emh.ch
1 Konzeptpapier Drei-Phasen-Modell. Bericht des Bundesrates zur Konkretisierung des Drei-Phasen-Modells. Bern: 12. Mai 2021.
2 Bundesamt für Gesundheit. Influenza-Pandemieplan Schweiz. 5. aktualisierte Auflage. Bern: Januar 2018. p. 19 (Abb 1.3.1).
3 Martin B, Klaey H, Müller A, Gügler C, Koepfli A, Gross B, Pfister M, Hauri R. Das Konzept des Kantons Zug für die zweite Welle von COVID-19. Schweiz Ärzteztg. 2020;101:928–32.
4 Martin B, Martin-Diener E, Pfister M, Hauri R. Erfahrungen mit dem Konzept des Kantons Zug für COVID-19. Schweiz Ärzteztg 2021;102:280–3.
5 Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich und lnstitut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Zürich (Hrsg). Suchtpräventionskonzept. Zürich; 1991.
6 Rehm J, Gschwend P, Steffen T, Gutzwiller F, Dobler-Mikola A, Uchtenhagen A. Feasibility, safety, and efficacy of injectable heroin prescription for refractory opioid addicts: a follow-up study. Lancet 2001;358:1417–20.