Neue Materialien verfügbar

Patientensicherheit in der ambulanten Praxis

FMH
Ausgabe
2022/11
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20619
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(11):341-343

Affiliations
a Dr. phil., Stiftung Patientensicherheit Schweiz; b Prof. Dr., MPH, Stiftung Patientensicherheit Schweiz; Institut für Sozial- und Präventivmedizin (ISPM), Universität Bern; c Daten Demographie und Qualität DDQ, FMH

Publiziert am 16.03.2022

Lange zielte die Patientensicherheitsbewegung primär auf den stationären Bereich. Aktivitäten im ambulanten Sektor sind noch nicht in der Fläche verankert. Um dem Thema im ambulanten Bereich Gewicht zu verleihen, haben FMH und Patientensicherheit Schweiz Materialien für ambulante Praxen entwickelt. Sie dienen der Vermittlung von Wissen und Diskussion grundlegender Patientensicherheits­themen.
Das Modul Patientensicherheit in der Arztpraxis möchte Informationsquelle und Anregung sein, für ­gemeinsame Diskussion und Auseinandersetzung mit grundlegenden Themenfeldern der Patientensicherheit. Die fünf Kapitel ergeben in der Summe eine Einheit und können als Themenserie Patientensicherheit genutzt werden. Sie können aber auch – je nach Inter­essenslage und Vorwissen – einzeln herausgegriffen werden. Qualitätszirkel, Sitzungen im Praxisteam und andere Treffen von Fachpersonen in ambulanten Praxen bieten einen geeigneten Kontext, um mit den Materialien zu arbeiten. Da die Auseinandersetzung mit Patientensicherheitsthemen von einem vertrauens­vollen Rahmen und guter Moderation profitiert, ins­besondere wenn es um sensible Inhalte wie den Umgang mit Risiken und Fehlern geht, sind Qualitätszirkel prädestiniert für die Nutzung der Materialien und die Bearbeitung der Inhalte, die wir im Folgenden vor­stellen.

Grundlagen zum Einstieg

Ein gemeinsames Verständnis von grundlegenden ­Begrifflichkeiten ist eine wichtige Voraussetzung für eine zielführende Auseinandersetzung mit Patienten­sicherheitsthemen in einer Gruppe. Damit alle Gesprächsteilnehmenden unter einem «Fehler», einem «unerwünschten Ereignis» oder einem «Never Event» dasselbe verstehen und ein gemeinsames Bild davon haben, was sich hinter dem häufig diffus verwendeten Begriff «Sicherheitskultur» verbirgt, stellt das erste ­Kapitel zentrale Begriffe vor und definiert diese.
Das zweite Kapitel liefert einen Einblick in aktuelle Studien, die Art und Häufigkeit unerwünschter Ereignisse in der ambulanten Praxis berichten. Auch wenn die wissenschaftliche Basis in der Schweiz und inter­national hierzu noch lückenhaft ist, wird der Stand des Wissens anhand dreier exemplarischer Studien sichtbar. Die Daten, die mit Hilfe unterschiedlicher methodischer Ansätze (Befragung von Patientinnen und ­Pa­tienten, Befragung von Ärztinnen und Ärzten und Medizinischen Praxisassistentinnen, Dokumentenanalyse) und in verschiedenen Ländern und Gesundheitssystemen (D/CH/UK) erhoben wurden, machen deutlich: Auch in der ambulanten Versorgung kommt es häufig zu Fehlern und vermeidbaren unerwünschten Ereignissen, die für die betroffenen Patientinnen und Patienten durchaus folgenschwer sein können. ­Zudem weisen sie den Medikationsprozess und den ­Bereich Diagnose als besonders relevante Risikofelder für eine sichere Versorgung aus.

Wenn doch etwas schiefgeht

Kommt es in einer Praxis zu einem (gravierenden) Vorfall, so umfasst das adäquate Management der Situation unter anderem folgende Schritte: die Kommunikation mit Patientinnen und Patienten und deren Angehörigen, die Unterstützung von Second Victims und das Lernen aus dem Geschehenen. Selbstverständlich steht zunächst die Abwendung weiteren Schadens von der betroffenen Patientin bzw. dem betroffenen Patienten und ihre unmittelbare Unterstützung im Zentrum aller Aktivitäten.

Kommunikation

Die Bedeutung guter Kommunikation nach einem unerwünschten Ereignis ist offenkundig. Sie entspricht einerseits den Wünschen und Bedürfnissen der betroffenen Patientinnen und Patienten nach zeit­naher und eindeutiger Offenlegung. Anderseits hat sie Einfluss auf die geforderten Konsequenzen und die weitere Beziehung zwischen der Patientin oder dem Patienten und den involvierten Fachpersonen [1]. Im Alltag jedoch gelingt eine angemessene Kommunikation nicht immer. Gründe dafür können die Angst vor juristischen Folgen, die Sorge vor Reputationsverlust oder auch Unsicherheiten in solch schwierigen Kommunikationssituationen sein. Das dritte Kapitel setzt sich deshalb mit der Kommunikation nach Ereignissen auseinander und gibt Empfehlungen hierzu wieder.

Second Victims

Fachpersonen, die (ursächlich) in einen Zwischenfall involviert sind, werden als sog. Second Victims bezeichnet [2]. Patientinnen und Patienten wie auch die beteiligten Fachpersonen erleben bei medizinischen Fehlern eine Extremsituation. Viele Fachpersonen entwickeln in der Folge eine starke Belastungsreaktion. Da psychosoziale Stressreaktionen wiederum zu höherer Fehlerwahrscheinlichkeit und Risiken in der Patientenbetreuung führen können, kann ein Teufelskreis entstehen. Ärztinnen und Ärzte und MPA haben nach einem derartigen Erlebnis das grosse Bedürfnis nach fachlichem Austausch, Empathie und Verständnis im Kollegium. Dies auch dann, wenn es nur beinahe zu ­einer Schädigung des Patienten oder der Patientin ­gekommen ist [1]. Kapitel vier zeigt auf, wie Peers reagieren sollten, um ihre Kolleginnen und Kollegen nach einem Zwischenfall zu unterstützen.

Lernen aus Fehlern

Das letzte Kapitel des Moduls fokussiert auf zwei Prinzipien, die beim Lernen aus Fehlern berücksichtigt werden sollten, um möglichst grossen Nutzen zu erzielen. Zum einen empfiehlt es sich, den Blick aufs System zu richten und individuelle Handlungen im Kontext zu verstehen, anstatt der Klärung der Schuldfrage nachzugehen. Ziel ist es, zu verstehen, was zu einer ­unsicheren Situation oder einem Ereignis geführt hat, und daraus Massnahmen für die Zukunft abzuleiten. Die getroffenen Massnahmen sollten zum anderen möglichst starke Massnahmen sein, die auf System­ebene ansetzen und nicht vornehmlich individuelles Handeln und die Aufmerksamkeit von Personen ins Zentrum rücken [3]. Warnhinweise, Infomails oder Schulungen zielen eher auf individuelles Verhalten und sind deshalb weniger wirkungsvoll. Technische Sperren, Designlösungen oder Kulturwandel hingegen sind Beispiele für starke Massnahmen, die zugegebener Massen nicht immer umgesetzt werden können. Es lohnt sich jedoch jeweils gezielt zu prüfen, ob eine ­stärkere Massnahme möglich wäre, die ein grösseres Potential hat, zukünftige Ereignisse zu verhindern.

Kontext

Die Patientensicherheit im ambulanten Bereich wird auch im Rahmen der Umsetzung des revidierten Artikels 58 KVG zu Qualität und Wirtschaftlichkeit einen wichtigen Platz einnehmen. Mit dem Modul Patientensicherheit in der Arztpraxis liegen nun wissenschaftlich fundierte Grundlagen zur Verfügung.

Dank

Unser Dank gilt allen Ärztinnen und Ärzte sowie Medizinischen Praxisassistentinnen, die sich bei der Entwicklung der Materialien durch konstruktives Feedback und die Pilotierung in Qualitätszirkeln beteiligt haben. Besonders bedanken möchten wir uns bei Dr. med. Adrian Rohrbasser (Forum für Qualitätszirkel), der die Erarbeitung des ­Moduls von Beginn an begleitet hat.

Bezug der Materialien

Ein kostenloser Download des Moduls Patienten­sicherheit in der Arztpraxis ist auf den Homepages von Patientensicherheit Schweiz und FMH:
– Patientensicherheit Schweiz: www.patientensicherheit.ch/ambulanter-sektor/
Dr. phil. Katrin Gehring
Stiftung Patientensicherheit Schweiz
Asylstrasse 77
CH-8037 Zürich
gehring[at]patientensicherheit.ch
1 Schwappach DLB. Nach dem Behandlungsfehler. Umgang mit ­Patienten, Angehörigen und dem involvierten Personal. ­Bundesärzteblatt. 2015;58:80–6.
2 Wu AW. Medical error: the second victim. BMJ. 2000;320:726–7.
3 Trbovich P, Shojania KG. Root-cause analysis: swatting at mosquitoes versus draining the swamp. BMJ Quality and Safety. 2017;5:350–3.