Wie Impfdetektive ermitteln

Tribüne
Ausgabe
2022/14
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20626
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(14):482-483

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Publiziert am 06.04.2022

Meldungen zu Impfnebenwirkungen sind bei Swissmedic seit 2021 sprunghaft angestiegen. Dennoch bleibe das Nutzen-Risiko-Verhältnis weitgehend zugunsten der Impfungen gegen Covid-19, versichert das Institut. Ein Blick auf das Meldesystem.
Kopfschmerzen, Durchfall oder Fieber nach dem Piks: Solche unerwünschten Wirkungen werden der Heilmittelbehörde Swissmedic gemeldet. Die Impfung gegen Covid-19 hat die Zahl der Meldungen verdoppelt. Während das Institut normalerweise insgesamt rund 12 000 Meldungen über unerwünschte Wirkungen pro Jahr erhält, sind es seit Januar 2021 allein im Zusammenhang mit den Covid-19-Impfstoffen 13 388 [1].
Swissmedic sammelt und bearbeitet diese Meldungen, um sich von der Sicherheit eines Arzneimittels oder Impfstoffs zu überzeugen. Doch wie funktioniert das Meldesystem? Gesundheitsfachpersonen und die Pharmaindustrie sind gesetzlich verpflichtet, dem Institut unerwünschte Wirkungen über die eigens dafür eingerichtete Plattform ElViS oder das Meldeformular anzugeben. Auch Patientinnen und Patienten können einen Verdacht auf Nebenwirkungen melden. Bis Ende 2020 mussten Ärztinnen und Ärzte dies bei einem der sechs regionalen Pharmakovigilanz-Zentren tun, die je an ein Universitäts- oder Kantonsspital angegliedert sind. Seit Januar 2021 gehen die Meldungen direkt bei der Heilmittelaufsichtsbehörde ein. «Diese Zentralisierung ermöglicht es, das Fachwissen der regionalen Zentren für spezifische Meldungen zu nutzen, insbesondere für solche, die eine verstärkte Analyse erfordern», erklärt Christoph Küng, Leiter der Abteilung Arzneimittelsicherheit von Swissmedic.
Wenn eine Meldung bei Swissmedic eingeht, wird sie von einem interdisziplinären, zwölfköpfigen Expertenteam geprüft. Die Hälfte davon sind ärztliche Fachpersonen, die anderen Apothekerinnen und Apotheker, ­Biologinnen und Biologen sowie medizinische Assistentinnen und Assistenten, um nur einige zu nennen. Eine Meldung muss verschiedene Kriterien erfüllen, damit sie weiterverfolgt werden kann: Das Medikament oder der Impfstoff ist bekannt, die Informa­tionen über die Patientin oder den Patienten und die Meldeperson sind aufgeführt und es ist mindestens eine konkrete Nebenwirkung aufgetreten.

Eine echte Detektivarbeit

Das Pharmakovigilanz-Team prüft jede Meldung und hält Ausschau nach neuen Risiken. Bei der Impfung ­gegen Covid-19 sind dies z. B. ein Hautausschlag oder eine Herzmuskelentzündung, die nach der Impfung auftreten. Gegebenenfalls kann sie beschliessen, ein noch fehlendes Sicherheitssignal hinzuzufügen.
Wenn eine gemeldete Nebenwirkung nicht in der Liste der bekannten Nebenwirkungen aufgeführt ist, betreibt das Pharmakovigilanz-Team Detektivarbeit. «Wir suchen nach einer Er­klärung und meistens gibt es eine. Aber es ist eine Riesenarbeit», sagt Christoph Küng. Die Fachpersonen sammeln so viele Informationen wie möglich über die Meldeperson, z. B. über die Einnahme anderer Medi­kamente, Vorerkrankungen, Krankengeschichte oder den Zeitpunkt des Auftretens der Nebenwirkung. ­Allerdings ist «ein zeitlicher Zusammenhang nicht ­unbedingt gleichbedeutend mit einem kausalen Zusammenhang».
Wenn bisher unbekannte Nebenwirkungen wiederholt gemeldet werden, spricht man von einem «Signal». Um Spuren davon zu finden, suchen die Spezialistinnen und Spezialisten in der Fachliteratur und in Studien. «Unser Ziel ist es, das zu identifizieren, was in den ­Studien noch nicht hervorgehoben wurde, da diese nie zu 100% die Realität abbilden», sagt Dr. Küng. «Deshalb ist die Pharmakovigilanz so wichtig.»
Seit März 2020 hat sich der Kontakt zwischen in- und ausländischen Expertinnen und Experten enorm intensiviert. «Dieser Austausch ist sehr wichtig, wenn Verdacht auf ein neues Risiko besteht. Die Schweiz kann einen Vorsprung haben, wie es bei den Urticaria-Meldungen der Fall war, manchmal sind andere Länder schneller», erklärt Christoph Küng. Das ermöglicht, zu sehen, ob andere Länder ähnliche Meldungen erhalten haben oder nicht. Jedes neue Risiko, das in einem Land auftritt, muss vom Hersteller in der Datenbank der Weltgesundheitsorganisation (WHO) registriert werden. Die von Swissmedic ausgewerteten Meldungen, die anonymisiert in einem nationalen Register erfasst werden, werden ebenfalls an die WHO weitergeleitet.

Viel mehr «nicht schwerwiegende» Fälle

Was sollte gemeldet werden? Schwerwiegende, unbekannte oder in der Packungsbeilage des betreffenden Produkts nicht ausreichend erwähnte Nebenwirkungen sowie solche, die von besonderer medizinischer Bedeutung sind. Sie müssen von medizinischen Fachpersonen innerhalb von 15 Tagen nach Feststellung ­gemeldet werden. Eine Wirkung gilt als schwerwiegend, wenn sie zum Tod, zu einem potenziell tödlichen Risiko, zu einem Spitalaufenthalt (oder dessen Verlängerung) oder zu einer dauerhaften oder schweren Behinderung führt. Von den 13 388 Meldungen im Zu­sammenhang mit dem Impfstoff gegen Covid-19, die zwischen dem 1. Januar 2021 und dem 8. März 2022 ­bearbeitet wurden, betrafen 38,6% schwerwiegende Fälle, während 61,4% nicht schwerwiegende Fälle betrafen. Letztere sind innerhalb von 60 Tagen zu melden.
Bei den schweren Fällen betrug das Durchschnittsalter 53,3 Jahre. Am häufigsten handelte es sich um Fieber, Kopfschmerzen, Müdigkeit, Schüttelfrost, Übelkeit und Schwindel. Hinzu kommt das Sicherheitssignal, das bei Myokarditis ausgegeben wird. Diese Reaktionen sind auch die häufigsten unter den nicht schweren Fällen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Meldepersonen selbst entscheiden, ob eine Wirkung «nicht schwerwiegend» oder «schwerwiegend» ist, ohne die Kriterien für die Einstufung zu kennen. «Es gibt ein subjektives Element. Die Hälfte der Meldungen kommt von Betroffenen», erklärt Christoph Küng. So kommt es häufig vor, dass schwerwiegende Nebenwirkungen gemeldet werden, die nach den Definitionen der Pharmakovigilanz nicht schwerwiegend sind. «Eine Person, die fünf Tage lang Fieber hat, kann sehr leiden und dies als schwerwiegend betrachten, ohne dass es gefährlich ist», fügt er hinzu. Den internationalen Standards folgend, ändert Swissmedic diese Einstufung nicht . «Das Ergebnis ist ein verzerrtes Bild des Anteils an gemeldeten schwerwiegenden ­Nebenwirkungen», sagt Christoph Küng.
Das mediale Interesse an der Pandemie hat dazu beigetragen, dass die Zahl der Nebenwirkungen explodiert ist und die schweren Fälle überrepräsentiert sind. Bei Swissmedic haben sich noch nie zuvor so viele Ärztinnen und Ärzte für das Meldesystem angemeldet. Auf Wunsch der FMH können sie über ihre HIN-Anmeldedaten darauf zugreifen. «Fast 40% der Meldungen ­werden von ärztlichen Fachpersonen gemacht», sagt Christoph Küng. Das Institut hofft, dass diese dadurch ermutigt werden, auch mehr Nebenwirkungen von ­anderen Präparaten zu melden. Wenn nun viele Leute wissen würden, wer Swissmedic sei und was sie tue, könnte das Institut die Bevölkerung besser über die Kriterien zur Einstufung von Nebenwirkungen informieren.

Vorsicht bei Todesfällen

Auf Todesfälle von geimpften Personen hat Swiss­medic ein beonderes Auge. Wenn nötig wird die ­Todesursache teilweise sogar durch eine Autopsie ­untersucht. Die verstorbenen Personen waren im Durchschnitt 79,3 Jahre alt und litten häufig an Multimorbidität. Die Anzahl der Todesfälle ist jedoch im Verhältnis zur Anzahl der verabreichten Dosen sehr gering: Bei 15,64 Millionen verabreichten Dosen wurden nur 209 schwere Fälle festgestellt, die mit einem Tod nach einer mehr oder weniger langen Zeitspanne verbunden waren. Swissmedic erklärt, dass eine gründliche Analyse dieser Fälle auf der Grundlage der verfügbaren Daten gezeigt habe, dass es trotz des zeitlichen Zusammenhangs andere, wahrscheinlichere Ursachen gebe, die das Ereignis erklären könnten. Von den 3,07 Millionen Menschen, die sich in der Schweiz mit dem Virus infiziert haben, sind 12 842 gestorben [2]. Angesichts dieser Zahlen ist das Risiko, nach einer Erkrankung zu sterben, um ein Vielfaches höher als das Risiko nach einer Impfung, sagt Sprecher Alex Josty.

Was sagt Infovac?

Als nationale Informationsplattform über Impfstoffe für Gesundheitsfach­personen hat Infovac eine beratende Funktion und wird von einem unabhängigen ärztlichen Expertenteam geleitet. Bei Bedarf stehe sie Swissmedic zur Verfügung, sagt Daniel Desgrandchamps, Kinderarzt und Spezialist für Infektionskrankheiten und Infovac-Experte. Wenn Symptome erwähnt werden, die in der Fachinformation nicht beschrieben sind, weist InfoVac die fragestellende Person darauf hin, dass die Symptome gegebenenfalls gemeldet werden sollten. Wegen der oft subjektiven Wahrnehmung mutmasslicher Nebenwirkungen betont Dr. Desgrandchamps die ­Schlüsselaufgabe von Swissmedic, die Meldungen objektiv zu bearbeiten und fachlich zu werten. In Bezug auf die Zentralisierung der Meldungen seit 2021 ist er der Ansicht, dass sie den impfenden Fachpersonen und der Öffentlichkeit ermöglicht, ihre Beobachtungen zeitnah und in einem klar definierten Prozess zu melden. «Soweit ich das beurteilen kann, funktioniert das System gut.»