Wissenschaftler zwischen Verehrung und Misstrauen

Zu guter Letzt
Ausgabe
2022/20
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20628
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(20):698

Affiliations
Prof. Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publiziert am 17.05.2022

Während der COVID-19-Epidemie wurden die Wissenschaftler zunächst glorifiziert. Die sagenhafte Geschwindigkeit, mit der das Genom des Virus analysiert und ein wirksamer Impfstoff hergestellt wurde, gab Anlass zu Bewunderung. Doch nach und nach begannen die Medien den Wissenschaftlern zu misstrauen. Was sind die Gründe dafür? Warum dieser Zwiespalt?
Am Anfang war es beruhigend, die Ursache der Epidemie schnell zu kennen, im Gegensatz zu anderen Seuchen, wie der Pest oder in jüngerer Zeit das Aids. Die Wissenschaftler waren diejenigen, die es wussten. ­Erschreckt und ratlos, waren die Regierungen froh, dass sie sich auf etwas stützen konnten, was wie eine solide Grundlage aussah. Dies erweckte jedoch den Eindruck, dass die Wissenschaftler die Regierenden seien, und einigen gefiel es, diese Rolle zu spielen. So war es nicht verwunderlich, dass Wissenschaftler zur Zielscheibe all derer wurden, die gegen jegliche Beschränkungsmassnahmen opponieren, oder derer, die sich ohnehin jeder Autorität widersetzen.
Jedoch das grösste Problem war, so glaube ich, dass viele Wissenschaftler schlechte Kommunikatoren sind. Sie sind gewohnt, miteinander im Labor oder auf Kongressen in einem Jargon zu fachsimpeln, der für den Normalbürger schwer zu entschlüsseln ist. Ausserdem ist es schwierig, in zwei Minuten im Fernsehen zu erklären, was ein Antikörper oder der Unterschied zwischen einer B- und einer T-Zelle ist, dass eine Impfung vielleicht einen besseren Schutz bietet als eine Infektion, dass der Unterschied zwischen den Werten 0,9 und 1,1 eines mysteriösen R-Faktors viel bedeutet oder dass eine Nukleinsäure, die mRNA, sich intrazellulär nicht vermehrt. Nur wenige Menschen verstehen, dass es ein Merkmal der Wissenschaft ist, etabliertes Wissen ständig infrage zu stellen. Anfangs war unklar, ob Masken gegen Viruserkrankungen hilfreich sind, der Zeitpunkt des Auftretens der verschiedenen Mutanten war nicht vorhersehbar, und man konnte nicht wissen, dass die infektiösere Mutante Omikron gleichzeitig weniger virulent war. Es wird somit ein Leichtes, Wissenschaftler zu kritisieren, wenn vermeintlich gut etablierte Ergebnisse hinfällig werden.
Während der Epidemie wurden die Wissenschaftler oft aufgefordert, Prognosen zu erstellen. Sie hätten vorsichtiger sein sollen, denn ihr deduktiver und linearer Ansatz ist zwar hervorragend geeignet, um Fakten zu erklären, aber weit weniger, um Zukünftiges vorauszusehen. Die Interaktion zwischen einer Bevölkerung und einem Virus während einer Epidemie ist komplex, und in komplexen Systemen können kleine, unvorhersehbare Er­eignisse unberechenbare Auswirkungen haben. Wie soll man im Voraus wissen, ob und wann eine neue Mutante auftauchen werde oder wie stark die Überzeugungskraft der Impfgegner sein wird, um eine hohe Impfrate zu verhindern? Kein Wunder also, dass sich Epidemiologen bei ihren Vorhersagen über den Verlauf der Epidemie einige Male geirrt haben. Und als sie verschiedene (im Übrigen lineare!) Modelle für die Ausbreitung des Virus entwickelten, hätten sie wissen sollen, dass Medien dazu neigen, immer nur die schlimmste Version zu zitieren.
Wie in allen Berufen gibt es leider auch unehrliche Wissenschaftler. Beschönigte Resultate und gefälschte Ver­öffentlichungen sind nichts Neues. Die auf pseudo-­wissenschaftlichen Grundlagen beruhende Behauptung, Hydrochloroquin sei gegen das Coronavirus wirksam, ist ein Beispiel dafür. Dass Wissenschaftler entgleisen und ihren Ruhm missbrauchen, ist ebenfalls nichts Neues. Haben nicht berühmte Nobelpreisträger Vitamin C ­gegen Erkältungen und fermentierte Papaya gegen Parkinson als Wundermittel propagiert? Auch die Tatsache, dass zwei der renommiertesten medizinischen Fachzeitschriften Artikel wegen einer zu schnellen und katastro­phalen Revision zurückziehen mussten, wird das An­sehen der Wissenschaft nicht gerade erhöht haben.
Man würde den Wissenschaftlern gerne raten: Bleiben Sie bescheiden, kommunizieren Sie in einer verständlichen Sprache, überschreiten Sie nicht Ihr Fachgebiet, und missbrauchen Sie nicht Ihren Ruhm und Ihr An­sehen! Aber: Gelten diese wohlgemeinten Sätze nicht genauso für uns Ärzte?