«Digitalisierung mit retardierender Wirkung»

FMH
Ausgabe
2022/11
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20631
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(11):340

Affiliations
Dr. med., Mitglied des Zentralvorstandes und Departementsverantwortlicher Digitalisierung / eHealth

Publiziert am 16.03.2022

Die Situation, in der sich die Weltpolitik aktuell befindet, macht es schwierig, über Dinge zu schreiben, die angesichts der angespannten Lage zwangsläufig zur Nebensache werden. Und dennoch müssen wir uns weiterhin, selbst wenn es gerade nicht angemessen erscheint, auch mit dem gesundheitspolitischen Tagesgeschehen beschäftigen. In den vergangenen Wochen beschäftigte sich die Tagespresse wiederholt kritisch mit der Einführung des elektronischen Patientendossiers (EPD). Man konnte beispielsweise lesen, dass das BAG die Digitalisierung verschlafen habe. Kollege Felix Huber konstatierte kürzlich in den Medien prominent, dass das EPD aus seiner Sicht einen Neustart benötige. Diese Kritik zeigt, dass es enorm wichtig ist, dass wir Ärztinnen und Ärzte uns jeweils frühzeitig mit den verschiedenen angedachten digitalen Lösungen aus­einandersetzen und nicht erst dann, wenn jegliche Möglichkeit der Einsprache und Mitgestaltung faktisch verpasst ist.
Auswirkungen der Digitalisierung verspüren wir im Gegensatz zu Massnahmen der Kostendämpfung und Tarifierung nicht immer unmittelbar, sondern meist in «retardierter Form», dafür aber lang anhaltend. Die aktuellen Debatten um die Künstliche Intelligenz, ­welche das Potenzial haben, ärztliche Kernleistungen mindestens teilweise zu ersetzen, verdeutlichen dies eindrücklich. Das EPD steht nun, nach einer mehr als 10 Jahre anhaltenden Diskussion im Hintergrund, unmittelbar vor der schweizweiten Einführung. Es ist ein weiteres Beispiel für eine «retardierte Wirkung». Seit Januar 2022 sind Ärztinnen und Ärzte, die neu zulasten der OKP abrechnen möchten, verpflichtet, am EPD teilzunehmen. Weitere Massnahmen im Sinne einer Verpflichtung von weiteren ambulanten Leistungserbringern sollen folgen. Über den unmittelbaren Nutzen des EPD für die Ärzteschaft und die Patienten scheiden sich die Geister.
Sicher ist, dass die Einführung eines EPD in der Arztpraxis, neben dem ohnehin schon anforderungs­reichen Praxisalltag, eine Herausforderung darstellen wird.
Die FMH arbeitet deshalb intensiv an Hilfestellungen für Ärztinnen und Ärzte, die am EPD teilnehmen wollen oder unfreiwillig teilnehmen müssen.
Unsere Kritikpunkte am derzeitigen Stand der Einführung des EPD sind bekannt: Die tiefe Integration des EPD in die Praxisinformatik ist noch nicht auf dem Stand, den wir uns wünschen. Dadurch entsteht ein erheblicher Mehraufwand, der unseren Patienten nichts nutzt und zudem tarifarisch nicht abgegolten wird. Auch ist die Bereitschaft der Bevölkerung, ein EPD zu eröffnen, noch viel zu gering, was dazu führt, dass die Kosten für die Bewirtschaftung eines Dossiers zumindest zum jetzigen Zeitpunkt unverhältnismässig hoch sind. Die FMH hat sich, die Entwicklung antizipierend, frühzeitig mit dem EPD auseinandergesetzt und im Jahr 2015 die Erfolgsfaktoren für ein EPD aus Sicht der ambulant tätigen Ärzteschaft aufgezeigt [1]. Ein wichtiger Punkt, der seinerzeit seitens der FMH gefordert wurde, war die Förderung und Unterstützung der ­Primärsysteme zur elektronischen Dokumentation in den Praxen der niedergelassenen Ärzteschaft und ­insbesondere bei den Grundversorgern. Diese Auswirkungen einer seit Jahren verschlafenden Politik sind jetzt spürbar! Die Schuld darf aber nicht unmittelbar bei denjenigen Behörden verortet werden, die mit der Umsetzung beauftragt wurden. Unzureichende finanzielle Mittel für die Bewältigung der Aufgaben und der fehlende Einbezug der Leistungserbringer in die Entscheidprozesse sind auf höherer politischer Ebene zu verorten. Gerne möchte ich Sie einladen, als Beispiel die Verfahrensordnung der kassenärztlichen Bundesvereinigung Deutschland zu studieren [2]. Erstaunlich ist die Liste der Organisationen und Leistungserbringerverbände, die an den Austauschformaten für das EPD in Deutschland mitgewirkt haben. Eine gleiche gemeinsame Anstrengung ist auch in der Schweiz vonnöten. Die FMH bekräftigt erneut, dass sie bereit ist, mit allen Partnern im Gesundheitswesen zusammenzu­arbeiten, um gemeinsam das Ziel einer sinnvollen und nutzbringenden Umsetzung des EPDG zu erreichen [1].
1 Stoffel U. Das elektronische Patientendossiergesetz (EPDG) als Chance! Schweiz Ärzteztg. 2015;96(47):1711.
2 Kassenärztliche Bundesvereinigung. Verfahrensordnung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zur Herstellung des ­Benehmens bei der Festlegung von Inhalten der elektronischen Patienten­akte nach § 355 SGB V. https://www.kbv.de/media/sp/MIO_Verfahrensordnung.pdf