Die pietas des Flunkerns

Horizonte
Ausgabe
2022/18
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20645
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(18):612-613

Affiliations
Dr. med., Facharzt für Allgemeinmedizin, Mitglied FMH

Publiziert am 03.05.2022

Gute Ärztinnen und Ärzte leben mit menschlich interpretierten Wahrheiten. Die Lektüre philosophischer Texte kann dazu dienen, dieser Verantwortung auch gerecht zu werden.
Dott.ssa Frottola – zu Deutsch: Frau Dr. Flunkerer – hatte ihr eigenes Verhältnis zum Begriff der Wahrheit. Sie war nämlich eine mitfühlende Ärztin, die schon mal ein Auge zudrückte und für das Patientenwohl eine Fünf gerade sein liess. Diese pragmatische Arbeitsweise war aber keine oberflächliche Absage an medizinische Gesetzmässigkeiten oder deontologische Normen. Ihre empathische Flunkerei war vielmehr ein engagierter Versuch, den fachlichen Dogmen anspruchslosere, menschlich interpretierbare Gewissheiten entgegenzustellen. Diese wurden der zusammengewürfelten Patientenschar am ehesten gerecht und liessen Dott.ssa Frottola die nötige Freiheit, die ärztliche Kunst lebensnah auszuüben.

Angeborenes Kommunikationstalent

Eine solche patientenorientierte Medizin erforderte aber auch eine besonders mitteilsame Verständigung, und da genoss nun unsere Kollegin einen angeborenen Vorteil: Sie konnte sich selbst zur kommunikativen Praxis machen. Unter frottola versteht man nämlich nicht nur eine grosszügig ausgelegte Wahrheit, sondern auch eine populäre mittelalterliche Form der Dichtung, mit unregelmässig eingesetzten Reimen und widersprüchlich-grotesken, dem kunterbunten Leben entnommenen Inhalten. Diese poetische Sprache eignete sich recht gut, notorisch biegsame, medizinische Tatsachen und Notwendigkeiten nahezubringen. Den Patientinnen und Patienten jedenfalls gefiel es, und Frau Dr. Flunkerers Wartezimmer platzte bald aus allen Nähten.
Vielleicht hing das ja auch mit der geschichtlichen Fortentwicklung der frottola zusammen. Die ehemals literarischen Erzeugnisse wurden nämlich später von Sängern vorgetragen und mauserten sich so zur weitverbreiteten, volksmusikalischen Gattung. Gerade diese Tonkunst schien nun im Studio Medico Frottola wieder aufzuleben. Vorab bei grossem Andrang, wenn das allgemeine Geschnatter zum einfordernden Fu­rioso ausartete und die erschöpfliche Geduld aller Mitarbeitenden strapazierte.

Ein dubiöser Prophet

Nicht nur Ärztinnen und Ärzte flunkern manchmal mit Erfolg. Selbst ernste Philosophen faszinierten immer wieder aufgrund ihrer dichterischen Phantasie. So wurde etwa Der Untergang des Abendlandes, ein von Oswald Spengler (1880–1936) gegen Ende des Ersten Weltkrieges verfasstes Buch, zum kulturpessimistischen Bestseller. Der umstrittene, schon mal als «Karl May der Philosophie» geschmähte Autor postulierte zeitlich in sich begrenzte, weltgeschichtliche Zyklen, die immer wieder frische Kulturen hervorbringen würden. Diese Letzteren seien – einem lebendigen Organismus gleich – nach ihrem jeweiligen Aufstieg dem unvermeidlichen Verfall preisgegeben. Das Abendland sei nun bereits in seine letzte Phase eingetreten.
Deutliche Symptome für diese Dekadenz erkannte der berühmt-berüchtigte Geschichtswahrsager im zunehmend kommerziell ausgerichteten Kosmopolitismus sowie in einem degenerierten demokratischen System, das künftigen, autoritären Herrschaftsformen Platz machen werde. Manche Kritikerinnen und Kritiker sahen daher in Spengler einen Wegbereiter reaktionärer und faschistischer Ideologien. Tatsächlich wurden denn auch seine Schriften immer wieder zur Wundertüte rechtsradikaler Kräfte.

Wissenschaftliche Paradigmen

Streitbare Gewissheiten sind kein spezifisches Laster spekulierender Philosophen. Selbst die wahrheitsfreundliche, exakte Wissenschaft scheint nämlich auf tönernen Füssen zu stehen. Das erklärt uns der amerikanische Denker Thomas Kuhn (1922–1996) in seinem bahnbrechenden Werk Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Im Grunde genommen sei das wahre Fundament gängiger Lehrmeinungen gar nicht wissenschaftlicher Natur. Es beruhe vielmehr auf einem den geschichtlichen und soziologischen Rahmenbedingungen unterworfenen Konsens fachlicher Akteure: dem jeweiligen Paradigma. Eine solche grundsätzliche Denkweise beinhalte vorab weltanschauliche und glaubensähnliche Aspekte.
Einmal etabliert, werde ein Paradigma kaum mehr hinterfragt und sei selbst durch Widersprüchlichkeiten nur schwer zu erschüttern. So lange jedenfalls, bis dann schlussendlich unhaltbare Inkongruenzen aufträten und revolutionäre Forschende – häufig gegen den zähen Widerstand etablierter Kolleginnen und Kollegen – einen radikalen Umbruch einläuteten.

Andächtiges Wohlwollen

So machte denn Thomas Kuhn Frau Dr. Flunkerer bewusst, dass auch wissenschaftliche Gebäude eigentliche Sandburgen sein können. Diese Einsicht beruhigte ihr Gewissen, wenn sie die medizinischen Leitlinien von Zeit zu Zeit entschärfte und Medikamentenlisten ausmistete. Oswald Spengler hingegen hatte der Dottoressa aufgezeigt, dass ungesichertes Wissen nicht nur erfolgreich, sondern auch gefährlich sein kann. Das bewog sie dazu, die eigene, frottola-orientierte Verständigungsmethode immer wieder selbstkritisch zu hinterfragen. Auf ihrem Weg zur guten Ärztin begegnete sie aber noch einem dritten Erkenntnishelfer: dem Turiner Philosophen Gianni Vattimo. Der 1936 geborene Autor verzichtet mit seinem pensiero debole – einem «machtanspruchslosen» Denken – auf alle ab­soluten Gewissheiten. Was «wahr» sei, lasse sich nicht wirklich festhalten. Man könne es nur als gemeinschaftlichen Weg verstehen: im Zeichen der pietas – der Solidarität und des Offenseins für die lebendige Vielfalt unserer Mitmenschen. Das erfordere denn auch eine behutsame, poetische Form der Sprache, die keine fixfertigen Überzeugungen liefere, sondern diese Letzteren im Zuhörenden gewissermassen ausreifen lasse.
Obwohl Dott.ssa Frottola keinerlei Absicht hegte, zur Philosophin zu werden, meinte sie dennoch, im pensiero debole einige ihrer eigenen Gedanken wieder­zufinden. Ganz besonders gefiel ihr dabei die pietas, dieses fast andächtige Wohlwollen den Anderen gegenüber. Sie fand das nicht einmal besonders schwülstig. Wohl deshalb, weil sie ihre Patientinnen und Patienten trotz allem einfach immer wieder gern hatte.
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