Impfskepsis gelassen betrachtet

Tribüne
Ausgabe
2022/14
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20652
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(14):480-481

Affiliations
Stellvertretende Chefredaktorin der Schweizerischen Ärztezeitung

Publiziert am 06.04.2022

Weshalb impfskeptische Eltern gute Patientinnen und Patienten sind – und was Schulmedizinerinnen und -mediziner beim Thema Impfen von komplementär­medizinischer Seite lernen können.
Es ist doch ganz einfach, oder? Der Schweizerische Impfplan des Bundesamts für Gesundheit (BAG) [1] führt genau auf, welche Impfungen die Bevölkerung ab dem Säuglingsalter erhalten sollte. Mit diesem Plan soll das Individuum ebenso geschützt werden wie das Kollektiv. Die empfohlenen Impfungen gegen Masern, Diphterie, Tetanus und Co. gelten als wirksam und ­sicher. Also: Diskussion beendet, einmal den Impf-Arm ausstrecken bitte?
Nein, so einfach ist es nicht. Umfragen zufolge sind bis zu 40 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer skeptisch gegenüber den behördlichen Impfempfehlungen [2]. Alles Behördengegner, die über­mässig hohe Erwartungen an ihr Immunsystem haben? Nein, so einfach ist auch das nicht.
Um einen frischen Blick auf das nicht mehr ganz so frische Thema Impfskepsis zu bekommen, sollte man sich vor Augen führen, wie die Arzt-Patienten-Kommunikation abseits von Impfungen abläuft. Philip Tarr, Co-Chefarzt Medizinische Universitätsklinik, Infektiologie und Spitalhygiene am Kantonsspital Baselland, erklärt: «Heute wird erwartet, dass Patientinnen und Patienten mitdenken und kritische Fragen stellen.» Shared Decision Making heisst das. Den Halbgott in Weiss, dem blind vertraut wird, soll es heute nicht mehr geben. Dafür jede Menge Patientenautonomie. Auch beim Impfen?
In vielen Fällen noch nicht. Deshalb fordert Philip Tarr: «Die Impfungen sollten keine Ausnahme mehr bilden.» Zu oft würden Eltern, die kritische Fragen zu Vakzinen stellen, als Problempatienten wahrgenommen.

Zu viele Informationen verwirren

Der Infektiologe hat das Nationale Forschungs­programm (NFP74) «Impfskeptische Eltern und Ärzte in der Schweiz» [3] geleitet, um besser zu verstehen, warum manche Menschen den behördlichen Empfehlungen nicht folgen. Die Gründe fürs Nichtimpfen sind vielschichtig, wie der Forscher erklärt: «Manche Eltern vergessen die Impfung einfach, andere sind tatsächlich skeptisch und leiden an einem Überfluss an Informationen, der sie enorm verunsichert. Sie lesen zum Beispiel Bücher oder Online-Beiträge, die das Thema kritisch behandeln, und holen Meinungen von Bekannten und unterschiedlichen Fachpersonen ein.»
In einer Studie zitiert das Forschungsteam eine Mutter, die ihre eigene und die Unsicherheit ihres Mannes beschreibt: «Wir haben so viele Informationen, dass wir uns darin verlieren können» [4]. Laut Tarr neigen impfskeptisch eingestellte Eltern wie diese Mutter eher dazu, auch noch eine komplementärmedizinische Meinung einzuholen. Ein Hinweis dafür, dass die Komplementärmedizin ein kritisch zu betrachtendes Sammelbecken für impfskeptische Menschen ist? Nein: Der Infektiologe ist sogar der Überzeugung, dass er und seine schulmedizinisch tätigen Kolleginnen und Kollegen beim Thema Impfen manches von ­komplementärmedizinischer Seite lernen können. Vor allem bezüglich der Arzt-Patienten-Kommunikation.

Sorgen ernst nehmen

Komplementärmedizinerinnen und -mediziner kommunizieren offen und ehrlich mit den Eltern, nehmen ihre Sorgen ernst und besprechen die Folgen der Krankheit mit ihnen, erklärt Philip Tarr und gibt das Beispiel der Masern: «Sie fragen die Eltern, ob sie die Möglichkeiten haben, das Kind engmaschig zu pflegen, wenn es bis zu 14 Tage lang schwer krank und apathisch im Bett liegt, kaum trinken und reden kann – und ob sie sich währenddessen frei nehmen können.» Viele Eltern seien dann ganz erschrocken, wie schwer der Krankheitsverlauf sein kann und stimmen der Impfung in vielen Fällen früher oder später doch zu.
Dass Philip Tarr die Komplementärmedizin stark in seine Forschung einbezogen hat, begrüsst Gisela Etter, Präsidentin der «UNION Schweizerischer Komplementärmedizinischer Ärzteorganisationen» und sagt: «Das Forschungsprojekt bietet hervorragende Gelegenheiten zu interdisziplinärer Zusammenarbeit, zum Überprüfen von gängigen Konzepten und zur Integration verschiedener Sichtweisen.»
Philip Tarr wirbt dafür, das Thema Impfskepsis mit ­einer gewissen Gelassenheit zu betrachten. Die hohen Impfraten liessen das durchaus zu. Laut dem BAG ­waren in der Erhebungsperiode 2017–2019 schweizweit 94 Prozent der über 16-Jährigen mit zwei Dosen gegen Masern geimpft [5]. Impfskeptische Eltern lassen sich zum grossen Teil also überzeugen. Um künftig noch mehr von ihnen zu erreichen, könnten Schulmedizinerinnen und -mediziner laut Philip Tarr ihre Kommunikation anpassen und dabei von komplementärmedizinischer Seite lernen [6].
Nicht alle Eltern lassen ihr Kind gemäss den behördlichen Empfehlungen impfen.

Mehr Engagement der Behörden nötig

Doch noch wichtiger erscheint ihm: Die Behörden sollten mehr Engagement zeigen, um den Zugang zu Impfungen und Impfinformationen zu erleichtern, zum Beispiel durch Schulimpfprogramme. Tatsächlich hat eine Studie des BAG gezeigt, dass die Impfquote in ­Kantonen mit viel behördlichem Engagement fürs Impfen besonders hoch ist. Dabei zeigt sich übrigens ein Röstigraben: Eine besonders hohe Durchimpfung und viel behördliches Engagement ist laut BAG in der Romandie zu beobachten. Das Fazit aus der BAG-Studie für die Kantone mit tiefer Durchimpfquote lautet: «Systematischere, besser strukturierte und koordinierte Interventionen der Gesundheits- und Schul­behörden dürften die Durchimpfung verbessern und die Bevölkerung dürfte solche Massnahmen schätzen, solange sie die individuelle Entscheidungsfindung ­respektieren» [7].
Allerdings darf die Möglichkeit einer individuellen Entscheidungsfindung per Definition auch zu einem Nein zum Impfen führen. Das BAG fokussiert dennoch auf das Kollektiv und setzt sich in der Nationalen Strategie zu Impfungen (NSI) das Ziel: «Mit der NSI und dem dazugehörigen Aktionsplan sollen die Rahmenbedingungen geschaffen werden, um die Impfempfehlungen gemäss dem Schweizerischen Impfplan umzusetzen» [8]. Die Komplementärmedizinerin Gisela Etter hingegen betont: «Ziel einer Impfberatung soll der gut informierte, letztlich aber freie Entscheid der Patientinnen und Patienten sein.»

Patientenautonomie und Public Health

Da ist sie wieder, die Patientenautonomie. Kann man sie wirklich gewährleisten, wenn gleichzeitig die öffentliche Gesundheit sichergestellt sein soll? Philip Tarr: «Es ist ein Spannungsfeld, das nie verschwinden wird, aber beide Seiten können es aushalten, wenn die Arzt-Patienten-Beziehung gestärkt wird, Ärztinnen und Ärzte mehr Zeit für die Beratung erhalten, unvoreingenommen voneinander lernen – und die Gesundheitsbehörden sich stärker fürs Impfen einsetzen.»
Es ist doch ganz einfach, oder?