Engpässe bei Arzneimitteln

Wenn Medikamente in der Schweiz zur Mangelware werden

Tribüne
Ausgabe
2022/13
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20658
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(13):443-445

Affiliations
Freie Journalistin

Publiziert am 29.03.2022

Bei der Versorgung mit Medikamenten treten immer wieder Engpässe auf, auch im Pharmaland Schweiz. Mit der Corona-Pandemie wächst der Druck auf die Behörden, mehr dagegen zu unternehmen. Wie verbreitet die Versorgungsprobleme seit Jahren sind, zeigt eine neue Studie der Universität Basel.
Bei gewissen starken Schmerzmitteln lebt die Schweiz momentan von den Reserven. Es seien nicht genügend orale Opioide verfügbar, meldete das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) kürzlich. Weder das Ausweichen auf verwandte Wirkstoffe noch der limitierte Zugriff auf Lagerbestände habe die Situation entspannen können, sagt BWL-Sprecher Thomas Grünwald. Deshalb gab der Bund per Mitte März die Pflichtlager ganz frei. Sie sollten für drei Monate reichen. Wann die Hersteller wieder die erforderlichen Mengen liefern können, ist laut Grünwald offen: «Wir treffen unsere Massnahmen in der Hoffnung und Erwartung, dass der Schweizer Markt bald wieder stabil versorgt werden kann.»
Medikamenten-Engpässe wie diese nehmen in der Schweiz seit zehn Jahren zu. Am stärksten bei Arz­neimitteln, die auf das Nervensystem wirken, neben Analgetika auch Antidepressiva und Antiepileptika, hält das Bundesamt für Gesundheit (BAG) in einem im Februar publizierten Bericht fest [1]. Aber auch an Antibiotika, Impfstoffen und Herz-Kreislauf-Mitteln mangelt es zeitweise. Gegenmassnahmen treffen die Behörden vor allem für Arzneimittel, die sie als lebensnotwendig einstufen. Für rund 50 Warengruppen existiert eine Lagerpflicht. Seit 2015 führen BWL und Swissmedic eine Meldestelle, um Engpässe früh genug zu erkennen.

Abhängigkeit von Fernost

Die Schweiz ist Standort leistungsfähiger Pharma- und Chemieindustrie. Wie konnte es so weit kommen, dass hier Medikamente knapp werden? Dafür gebe es verschiedene komplexe Gründe, vor allem ökonomische. Das sagt Enea Martinelli, Chefapotheker der Spitäler fmi AG im Berner Oberland und langjähriger Beobachter des Medikamentenmarkts. Eine der Hauptursachen ist die Globalisierung und Zentralisierung der Produktion. Wie viele hierzulande wohl wissen, dass heute China und Indien die Apotheken der Welt sind?
Schätzungen zufolge stammen 80 bis 90 Prozent der Wirkstoffe und Ausgangsmaterialien von Medikamenten von Herstellern in den beiden Ländern. Dort können grosse Mengen günstig produziert werden – ein Vorteil für Pharmaunternehmen im Preiskampf.
Die Herstellungsprozesse sind über Kontinente hinweg segmentiert, vom Grundstoff über die Abfüllung bis zur Etikettierung. «Überall auf diesem Weg kann etwas passieren», sagt Martinelli. Ein Naturereignis, politische Spannungen, eine Verunreinigung in der Fabrik, der Corona-Lockdown in Wuhan – und schon kommt der Warenfluss ins Stocken. Die Pandemie rückte ins Bewusstsein, wie anfällig die Lieferketten geworden sind, gerade wenn die Nachfrage plötzlich stark steigt. Die Abhängigkeit von wenigen Her­stellern sei aber auch zu normalen Zeiten «ein Klumpenrisiko», betont der Pharmazeut. Auf raschen Nachschub kann man sich kaum verlassen, weil Lagerbestände in der ganzen Vertriebskette schlank ge­halten werden («Just-in-Time»-Produktion). Zudem können Rückzüge älterer, nicht mehr patent­geschützter Produkte vom Schweizer Markt für ­Lücken sorgen.

Acht Monate Ausfall

Der freie Markt schaut also, wo und wie sich alles rechnet, und das Gesundheitswesen bekommt das zu spüren. Eine neue Studie der Universität Basel hat erstmals systematisch die Engpässe bei kassenpflichtigen Arzneimitteln in der Schweiz erhoben [2]. Der Gesundheitsökonom Stefan Felder und die Gesundheitsökonomin Katharina Blankart untersuchten rund 4100 Märkte in der Zeit zwischen 2015 und Mitte 2020, inklusive erster Corona-Welle. Unter einem Markt ist ­jeweils ein Medikament und seine Alternativen mit gleichem Wirkstoff, gleicher Dosis und gleicher Darreichungsform zu verstehen. Resultat: Etwa die Hälfte der Märkte war im Untersuchungszeitraum von Verknappungen oder gar einem Ausfall des Angebots ­betroffen.
Zeiträume, in denen vorübergehend kein Zugang zu ­allen infrage kommenden Medikamenten bestand, dauerten im Schnitt acht Monate. Das waren wirkliche Versorgungsengpässe, die wesentlich länger währten als Lieferengpässe, bei denen der Zugang zur Arznei nur teilweise eingeschränkt war. Konkret habe dies beispielsweise bei Blutdrucksenkern bedeutet, dass immer wieder neue Medikamente verschrieben werden mussten, erklärt Felder. Die Therapien anzupassen führte mal zu einer teureren, mal zu einer günstigeren Arznei. Im Jahr 2018 löste dies unter dem Strich Medikamentenmehrkosten von insgesamt 17 Millionen Franken aus.

«Beträchtliches Risiko»

Die Situation in der Schweiz sei nicht besser als in ­vergleichbaren Ländern, bilanziert der Forscher: «Das Risiko von Engpässen ist beträchtlich.» Und es beschränkt sich nicht auf die Arzneien, für die eine Meldepflicht besteht. Diese machten weniger als zwanzig Prozent der analysierten Märkte aus. «Für alle von Engpässen tangierten Mittel Pflichtlager zu organi­sieren, dürfte teuer werden», sagt Felder. Fest steht: Die Versorgungslücken beschäftigen die Praxis. Die Spitalapotheke, die Enea Martinelli leitet, versorgt rund tausend Betten in drei Spitälern, in Pflegeheimen und Reha-Kliniken der Region. Er sagt: «Wir investieren etwa eine halbe Stelle nur in den Aufwand, die Medi­kation so zu organisieren, dass die Patientinnen und Patienten möglichst wenig von den Unterbrüchen merken.»
Der Berner engagiert sich seit Längerem dafür, dass die Problematik stärker wahrgenommen wird. In Eigen­initiative betreibt er die Website drugshortage.ch, die breiter über Lieferengpässe informiert als jene des Bundes. Marktteilnehmern sei zunehmend klar, dass es Transparenz brauche, sagt der Chefapotheker: «Denn gerade auch Ärztinnen und Ärzte müssen wissen, ob ein Produkt verfügbar ist, bevor sie eine The­rapie verordnen.» Zwar fehlen für die Schweiz bisher Studien zu den Folgen von Heilmittel-Engpässen für die Gesundheit der Patientinnen und Patienten. Doch auch wenn es jeweils therapeutische Alternativen gibt: Der Wechsel zu einem anderen Medikament bedinge Arztkonsultationen und neue Einstellungsphasen, sagt Martinelli. Das verunsichere besonders ältere Menschen.

Chronisch Kranke nicht vergessen

Es genügt laut dem Pharmazeuten nicht, für Akut­therapien und sogenannt lebenswichtige Arzneien ­Sicherungen wie Pflichtlager und Importerleichterungen einzubauen. Auch die chronischen Erkrankungen müssten einbezogen werden: «Wenn Blutdrucksenker, Psychiatriemedikamente und Epilepsie-Präparate fehlen, hat das ebenfalls Konsequenzen für die Patien­tinnen und Patienten.» Laut Martinelli sollte der Versorgungsbedarf der Schweiz bei den Heilmitteln neu von der medizinischen Notwendigkeit her definiert werden. Handlungsbedarf ist da, und ­inzwischen ist die Politik in Bewegung geraten. Dutzende Vorstösse im Parlament verlangen vom ­Bundesrat, die Versorgung mit Medikamenten zu gewährleisten und das Land in diesem Bereich krisen­resistenter zu ­machen. Die Spannbreite der Vorschläge ist gross.
Mehrheitsfähig war eine von beiden Räten überwiesene Motion der ständerätlichen Gesundheitskommission. Sie fordert, die Lagerbestände auszuweiten und die Arzneimittel-Produktion vermehrt ins Land zurückzuholen. Internationale Abnahmeverträge könnten Unternehmen dazu bringen, trotz des kleinen Schweizer Markts hier tätig zu werden. Zu prüfen ist gemäss Parlament auch ein Mandat für die Armee­apotheke, bei akuten Versorgungslücken subsidiär zur Bundesapotheke zu werden. Das BAG listet in seinem Bericht vom Februar zwanzig mögliche Massnahmen auf, darunter auch vereinfachte Zulassungsverfahren und die staatliche Beschaffung wichtiger Arzneimittel. Bis Ende Jahr sollen dem Bundesrat Vorschläge unterbreitet werden.

Wieder mehr Schweizer Medikamente?

Die Schweizer Pharmazeutin Helena Jenzer befasste sich im Rahmen einer 2020 publizierten, europäisch unterstützten Studie an der Berner Fachhochschule mit der Frage, was gegen Arzneimittel-Engpässe vorzukehren sei [3]. Sie erachtet die Rückverlagerung der Produktion in die Schweiz zumindest teilweise als ­nötig. Wenn die Herstellung bestimmter Medikamente im öffentlichen Interesse sei, brauche es finanzielle Anreize, etwa Steuernachlässe oder Investitionsspritzen. Die Eigenherstellung durch den Bund in Notlagen sieht sie «nicht als Priorität», zumal mit den Spitalapotheken eine bestehende Möglichkeit bisher kaum genutzt werde. Diese könnten selber eine gewisse Anzahl Heilmittel fertigstellen. Voraussetzung sei allerdings, dass die nötigen Rohstoffe in der Schweiz gelagert würden.
Werden unsere Arzneimittel künftig wieder in der Schweiz produziert? Gesundheitsökonom Stefan Felder ist skeptisch: «Das Rad lässt sich nicht zurück­drehen.» Er warnt die Politik vor Aktivismus unter dem Eindruck der Pandemie. Jetzt viel Geld auszugeben, um Produktionen zurückzuholen, bringe nicht den gewünschten Effekt. Am Schluss werde die Schweiz am ehesten von europäischen Anstrengungen für mehr Versorgungssicherheit bei Medikamenten profitieren.