Spitalorganisation

Qualität im Spannungsfeld von Management und Medizin

Weitere Organisationen und Institutionen
Ausgabe
2022/17
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20676
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(17):546-549

Affiliations
a Dr. rer. soc. oec., Mitglied der Geschäftsleitung, college M, Bern; b PD Dr. med., Mitglied der Geschäftsleitung college M, Bern, und Mitarbeiter am Institute of Social and Preventive Medicine, Universität Bern

Publiziert am 26.04.2022

Starke Anreize für Effizienzsteigerungen können sich negativ auf die Qualität auswirken. Das hat Folgen für das Management von Spitälern. Denn Management bedeutet im Kern das Balancieren von Spannungsfeldern, also Themen zu bearbeiten, deren Inhalt nicht vertraglich festgelegt werden kann. Das betrifft den Kern der Medizin.
Florence Nightingale, die Begründerin der modernen Pflege, hielt in ihren Notes on Hospitals 1859 fest, dass sie kein Spital kennen würde, das nicht von einem struggle, einem Ringen, zwischen ärztlichen Fachpersonen, Pflegenden und administrativem Personal gekennzeichnet wäre. Und, schrieb sie, es sei gut, dass es diese Auseinandersetzung geben würde – und zwar für die Patientinnen und Patienten. Denn sie war überzeugt, würde man einer Berufsgruppe allein das Feld überlassen, wären suboptimale Lösungen der Fall. Erst in der Reibung der verschiedenen Funktionen entstünde Qualität. Das war eine weitsichtige Bemerkung, die auch heute noch ihre Berechtigung hat.

Die vier Welten des Spitals

So sehr sich die Art und Weise der Medizin, ihr Wissen, ihre Technologien geändert haben, so sehr bleiben Grundspannungen dieses Systems bestehen. Immer wieder aufs Neue ringen die verschiedenen Welten ­Behandlung (Ärzteschaft), Betreuung (Pflege) und ­Management miteinander. In Ergänzung zu Nightingale rechnen wir heute gemäss Sholom Glouberman und Henry Mintzberg eine vierte Welt, nämlich die der Trägerschaft bzw. der Anbindung an die Gesellschaft – die Welt der «Gemeinschaft» –, hinzu (s. Abb. 1). Natürlich variieren die je aktuellen Reibungspunkte zwischen diesen Welten über die Zeit. War etliche Jahrzehnte die Durchsetzung eines eigenständigen pfle­gerischen Wissens und die Professionalisierung der Betreuungswelt das grosse Thema, beanspruchte die letzten zwanzig Jahre vor allem die Spannung zwischen Qualität und Wirtschaftlichkeit die Aufmerksamkeit, die wesentlich zwischen den Welten der Behandlung und des Managements verhandelt wird.
Abbildung 1: Die vier Welten des Spitals (eigene Darstellung adaptiert nach Glouberman/Mintzberg 2001 [2]).
Spitäler unterscheiden sich von anderen Organisa­tionen nicht nur, weil sie die vielgerühmten (geschmähten?) Expertenorganisationen sind, sondern insbesondere, weil sie eine grössere Bandbreite an gesellschaftlich relevanten Perspektiven und Funktionen zu vernetzen haben. Genau darauf kommt es an. In welcher Art und Weise ein Industrieunternehmen Entwicklung, Produktion und Verkauf integriert, mag erfolgsrelevant sein, seine Kunden sind jedenfalls nicht an Leib und Leben bedroht. Im Zweifelsfall kaufen sie nicht mehr. Im Spital ist das anders. Hier ­erleiden die Patientinnen und Patienten im Zweifelsfall Schaden. Spitäler sind deshalb Orte der Integration divergenter Perspektiven. Fortwährend sind ärztlich professionelle, pflegerisch relevante, wirtschaftlich opportune und gesellschaftlich wünschenswerte Aspekte miteinander abzuwägen und ­ineinander zu übersetzen. Das formuliert sich leicht, erfordert im Alltag aber anspruchsvolle Translationsleistungen und fordert die Beteiligten auf allen Seiten enorm heraus.

Wenn die Qualität sinkt

Faszinierende Einblicke in die Spannung von Qualität und Wirtschaftlichkeit bietet eine aktuell publizierte, schwedische Studie über die Folgen der Auslagerung von Rettungsdiensten an private Unternehmen in Stockholm [1]. In der Studie wurde die quasi-zufällige Zuweisung von Patientinnen und Patienten an private wie öffentliche Ambulanzen genutzt, um unterschiedliche Auswirkungen auf Effizienz und Qualität bei privaten wie öffentlichen Trägerschaften zu ermitteln. Die Zufälligkeit der Zuweisung ermöglicht eine präzise Beobachtung der Wirkungen bzgl. Wirtschaftlichkeit und Qualität.
Die Studienergebnisse haben es in sich: Private Krankenwagen sind bei vertraglich vereinbarten Qualitätsergebnissen zwar kostengünstiger, die transportierten Personen weisen jedoch eine erheblich höhere Sterblichkeit auf. Als Ursache dafür zeigt sich, dass Ambulanzen privater und profitorientierter Trägerschaften ihre Patientinnen und Patienten tendenziell als weniger schwer verletzt oder krank einstufen. Gegenüber den öffentlichen Ambulanzen lassen sie die erstaun­liche Anzahl von 30% mehr Personen zu Hause. Die Folge davon sind Verzögerungen von Behandlungen mit entsprechend problematischen Ergebnissen bis hin zu höherer Sterblichkeit.
Was macht diesen bemerkenswerten Unterschied aus? Die Studienautoren fanden heraus, dass private Ambulanzbetreiber schlechtere Arbeitsbedingungen anbieten, niedrigere Stundenlöhne zahlen und mehr Überstunden abverlangen. Die Folge ist, dass sie weniger qualifiziertes Personal einstellen, eine höhere Personalfluktuation haben und dass dieses Personal schlussendlich die Betroffenen weniger professionell beurteilt. Zusammenfassend kommt die Studie zum Schluss, dass der öffentliche Sektor bei der Aus­lagerung von Dienstleistungen, bei denen die Qua­lität in Verträgen nur unvollständig festgelegt werden kann, vorsichtig sein sollte. Wenn die Qualität der Dienstleistung nicht angemessen vertraglich geregelt werden kann – nicht-kontrahierbar ist –, haben ­ins­besondere profitorientierte Unternehmen starke Anreize, die Kosten zulasten der Qualität zu senken. Und exakt ­solche Fehlanreize kennzeichnen den sogenannten «Moral Hazard», bedeuten also ein moralisches Risiko.

Qualität vertraglich festlegen

Diese Studie ist vor dem Hintergrund der viel diskutierten bundesrätlichen Strategie zur Stärkung von Qualität und Wirtschaftlichkeit in der schweizerischen Gesundheitsversorgung interessant. Bis 1. April dieses Jahres müssen die Verbände der Leistungserbringer und jene der Versicherer gesamtschweizerisch geltende Verträge zur Qualitätsentwicklung in der Gesundheitsversorgung – sogenannte Qualitätsverträge – abschliessen. Diese Verträge regeln unter anderem, welche Qualitätsaspekte wie gemessen und optimiert, welche Massnahmen ergriffen und überprüft sowie welche Sanktionen bei Ver­tragsverletzungen ergriffen werden. Mit anderen Worten: Qualität soll vertraglich definiert werden. Und damit ist die Frage nach der Kontrahierbarkeit, d.h. der Vertragsfähigkeit medizinischer Qualität, aufgeworfen.
Qualität und Qualitätsmessungen in der Gesundheitsversorgung sind eine brisante Sache, unter ­anderem da Versorgungsqualität stark von der ­Variabilität der Pa­tientinnen und Patienten beeinflusst ist und es in der Medizin kein alles umfassendes Qualitätsmesssystem gibt, das diese Variabilität auffangen könnte. Diese Problematik ist gewiss nicht neu und führt regelmäs­sig zu heftigen Diskussionen. Etwa dann, wenn poli­tische Entscheidungsträger Dienstleistungen der Gesundheitsversorgung privatisieren bzw. outsourcen wollen, wie beispielsweise der Kanton Bern mit dem Aktienverkauf eines öffentlichen Regionalspitals an eine Privatklinikgruppe. Die politischen Stellen verweisen dann gerne auf die vertraglichen Verein­barungen, die alle Qualitätsaspekte garantieren sollen. Sie drohen dabei aber das oben beschriebene Moral-Hazard-Problem zu unterschätzen.

CAS Managing Medicine in Health Care Organisations

In Organisationen des Gesundheitssystems steht die Behandlung und Betreuung der Patientinnen und Patienten im Vordergrund. Gleichzeitig müssen ökonomische, betriebswirtschaft­liche, wissenschaftliche, personelle und politische Perspektiven beachtet werden. All diese Aspekte sind in der Steuerung dieser Organisationen zu beobachten und zu bewerten.
Im CAS Managing Medicine setzen Sie sich mit dieser zentralen Herausforderung auseinander: Sie lernen mit dieser Perspek­tivenvielfalt konstruktiv und zielgerichtet umzugehen. So sichern Sie nicht nur den nachhaltigen Erfolg Ihrer Organisation, sondern auch eine gesunde Entwicklung Ihrer Organisation für die Patientin resp. den Patienten und für alle anderen Stakeholder.
Der Zertifikatskurs wendet sich an Personen aus dem medizi­nischen Kerngeschäft und vermittelt Wissen, Fähigkeiten und Haltungen, die es für erfolgreiches Gestalten von Gesundheitsorganisationen und ihren Bereichen heute braucht. Dies geschieht in einer inspirierenden und kollaborativen Lernumgebung.
Detaillierte Informationen unter www.cas-managingmedicine.ch

Management im Wandel

Zurück zum Spital. Hinreichend klar ist, dass die Spitäler mehr denn je unter enormen betriebswirtschaft­lichen Druck stehen. Nachdem es in den ersten zehn Jahren Diagnosis-Related Groups (DRG) wesentlich um Ausweitung (Wachstum an Patientenzahlen bzw. Steigerungen der Case-Mix-Indizes) ging, stellt sich heute verschärft die Frage nach Effizienzgewinnen. Das umso mehr, als fast überall Bauten zu finanzieren sind. Mit diesem Druck ist im Feld der Verhandlungen über eingesetzte Ressourcen und die dahinterliegenden (professionellen) Qualitäts- und Sicherheitsannahmen eine neue Runde eröffnet.
Entscheidend sind hier Management-Praktiken und Steuerungsregime. Die Aufgabe des Managements besteht darin, die Aussen- und Innenspannungen einer Organisation so zu balancieren, dass führbare Situa­tionen entstehen. Die Frage ist jeweils, welche Managementpraktiken implementiert werden, um die relevanten Spannungen, z.B. die zwischen Qualität und Wirtschaftlichkeit, produktiv bearbeiten zu können. Klassische Praktiken in diesem Zusammenhang sind Zielvereinbarungen, Budgetprozesse, Reportings u.Ä., also vor allem Praktiken, die Soll-Ist-Abweichungen ins Spiel bringen. Über die Differenz von Soll und Ist kann Steuerbarkeit entstehen – das ist der erste Ausgangspunkt der Betriebswirtschaft. Und in dieser strukturellen Spannung kann die Unruhe des Managements Fuss fassen, aber auch die Perspektive der Medizin eingebracht werden.
Der Umgang mit dieser Spannung prägt das jeweilige Steuerungsregime, also die Art und Weise der Verhandlungen über Budgets, Ressourcen und Ziele einer Organisation. Diese Verhandlungen werden im Regelfall zwischen Klinik und Finanz- bzw. Geschäftsleitung geführt, also zwischen der Welt der Behandlung und der des Managements (Abb. 1). Letztlich wird in diesen Verhandlungen die Frage der «nicht-kontrahierbaren Qualität» entschieden.
Denn hier wird ausgehandelt, wie viele Ressourcen zur Verfügung stehen, aber auch deutlich, welcher Druck (Anreize/Sanktionen) existiert. All das, ohne hinreichend spezifizieren zu können, was genau an Qualität erzielt werden soll (es sei denn als inhaltsleerer Appell: «Uns ist Qualität wichtig!»). Und weil es nicht hinreichend spezifizierbar ist, bleibt es nicht-kontrahierbar. Andersherum ausgedrückt: Die Aufgabe lautet, Lösungen zu finden, die Ungewissheit einrechnen. Was nicht kontrahierbar ist, bleibt ungewiss, bleibt eine Black Box. Die Medizin bleibt über weite Strecken eine solche Black Box für das Management – aber auch das Um­gekehrte ist der Fall.

Neue Rolle für ärztliche Fachpersonen

In den letzten Jahren schien eine Grenze im Handling dieser Black Boxes erreicht zu sein. Dem Steuerungs­bedarf wurde offensichtlich nicht Genüge getan, und in den letzten beiden Jahren wurden auffällig viele Spitäler reorganisiert. Das Interessante dieser in ihrem Grundsatz verblüffend ähnlichen Reorganisationen ist, dass die Schnittstelle zwischen Management und Behandlung neugestaltet wurde. Ärztinnen und Ärzte übernehmen Steuerungsfunktionen in den neuen Medi­zinbereichen. Das bedeutet u.a., dass die Spannung zwischen Qualität und Wirtschaft nun verstärkt zwischen medizinischen Fachpersonen ausgehandelt wird. Man kann das als den Versuch lesen, die Perspektivendifferenz zwischen Medizin und Management neu zu justieren und ein neues Steuerungsregime zu etablieren. Und man darf gespannt sein, wie mit der Spannung zwischen Qualität und Wirtschaftlichkeit an dieser Stelle umgegangen wird und welche neuen Praktiken sich herausbilden werden.
Mit einer Anleihe an der auch in der Organisations­forschung relevanten Evolutionstheorie können wir notieren, dass hier eine interessante Variation entstanden ist. Wir werden in Echtzeit beobachten können, wie die Systeme diese Variation allenfalls selektieren (oder ignorieren …) und eventuell auch stabilisieren werden. Und wir werden beobachten können, wie die Nicht-Kontrahierbarkeit von Qualität spannungsvoll bleibt.

Das Wichtigste in Kürze

• Im Spital reiben sich «vier Welten»: Behandlung (Ärzteschaft), Betreuung (Pflege), Management und Trägerschaft bzw. «Gemeinschaft».
• In den letzten zwanzig Jahren stand die Spannung zwischen Qualität und Wirtschaftlichkeit (Welt der Behandlung und des Managements) im Fokus.
• Die Qualität von medizinischen Dienstleistungen ist kaum vertraglich regelbar und folglich nicht-kontrahierbar. Das erschwert ihre betriebswirtschaftliche Berechnung.
• Diese Spannung muss zwischen Management und Behandlung ausgehandelt werden. Anhand von Budgets, Ressourcen und Organisationszielen entscheidet sich letztlich der Inhalt der Qualität.
• Auffällig ist, dass bei Spitalreorganisationen vermehrt Ärztinnen und Ärzte Steuerungsfunktionen übernehmen. Die Spannung wird folglich immer häufiger zwischen ärztlichen Fachpersonen ausgehandelt.

L’essentiel en bref

• A l’hôpital, «quatre mondes» se côtoient: celui du traitement (corps médical), de la prise en charge (soins), de la gestion et de l’entité responsable ou «communauté».
• Au cours des vingt dernières années, l’accent a été mis sur le champ de tension entre qualité et rentabilité (traitement vs gestion).
• La qualité des prestations médicales est difficile à réglementer par contrat et, par conséquent, non contractualisable. Il est donc difficile de l’intégrer dans les calculs de gestion.
• Cette tension doit être négociée entre les mondes de la ­gestion et du traitement. Le contenu de la qualité se décide finalement sur la base des budgets, des ressources et des objectifs organisationnels.
• Il est frappant de constater que les médecins assument de plus en plus de fonctions de pilotage lors des réorganisations hospitalières. Aussi, cette tension est de plus en plus souvent négociée entre les professionnels de la santé.
christof.schmitz[at]college-m.ch
1 Knutsson D, Tyrefors B. The quality and efficiency of public and private firms: evidence from ambulance services. The Quarterly Journal of Economics.  25 February 2022 [Zugriff: 19.3.2022]. https://doi.org/10.1093/qje/qjac014
2 2 Glouberman S, Mintzberg H. Managing the Care of Health and the Cure of Disease—Part I: Differentiation. Health Care Management Review 26(1):58-71.