«Stell Dir vor, es ist ein Notfall, und keiner geht hin …»

FMH
Ausgabe
2022/14
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20679
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(14):462-464

Affiliations
a Dr. med., Facharzt Allgemeine Innere Medizin, Hausarzt Untersiggenthal, SGAIM-Vertreter FMH-Forum Notfall; b Dr. med., Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Praxispädiater Hochdorf, Vorstand pädiatrie schweiz; c Prof. em. Dr. med., Facharzt für Anästhesie, Facharzt für Intensivmedizin; d Dr. med., Facharzt für Anästhesiologie, FA Präklinische Notfallmedizin / Notarzt (SGNOR), Chefarzt Schutz & Rettung Zürich

Publiziert am 06.04.2022

In der Medizin gibt es unterschiedliche Kurse, in denen das Handeln in kritischen Situationen geübt wird. Dies sind hervorragend strukturierte Kursformate, wo man neben der Vermittlung von Fachwissen auch situativ mittels Simulationen unter Zeitdruck das Richtige tun muss. Nur sollten dieses Wissen und die entsprechende Handlungskompetenz auch à jour gehalten werden.
Frage: Würden Sie in ein Flugzeug einsteigen, wenn Sie wüssten, dass die Piloten in den letzten Jahren – ja gar Jahrzehnten – nie mehr ein Simulationstraining ab­solviert haben? Diese – natürlich unerwarteten, aber nichtsdestotrotz jederzeit möglichen – «fliegerischen Komplikationen», wie beispielsweise Triebwerks­ausfall, schwere Turbulenzen oder Blitzeinschlag etc., nie mehr geübt hätten? Situationen, die zwar sehr selten sind, aber dann doch eine unmittelbare, korrekte Aktion der Piloten erfordern? Sie würden wohl sagen: «Nein! Da steige ich lieber nicht ein.» Dennoch fliegen Sie unbekümmert mit, weil Sie wissen, dass Safety in der Fliegerei höchste Priorität hat. Ebenso ist bekannt, dass die Teilnahme an regelmässigen Simulations­trainings für die Piloten eine Pflicht ist und das Nicht-Bestehen zu Konsequenzen führt.

Medizin und Fliegerei

Nun, gewisse Aspekte der Medizin werden gelegentlich mit der Fliegerei verglichen: Nicht nur, dass zwischen den heiklen Momenten des Starts und der Landung ­eines Flugzeuges Analogien mit Anästhesie-Ein- und -Ausleitung bestehen, es gibt bekanntermassen auch in der Medizin unerwartete und plötzliche (lebensbedrohliche) «Komplikationen» oder eher «Situationen». Und es gibt – ähnlich der Fliegerei – Kurse, in welchen das Handeln in kritischen Situationen anhand wis­senschaftlich fundierten Algorithmen trainiert wird (z.B. DAK®-, ACLS®-, AMLS®-, ATLS®-, PALS®-Kurse). Dies sind hervorragende, strukturierte Kursformate, bei welchen u.a. mittels Simulationen unter Zeitdruck das Richtige getan werden muss, ansonsten «… stirbt der Patient …». Die Auswertungen und das Feedback aus diesen Kursen sind fast durchwegs positiv. Viele der Teilnehmenden geben an, danach viel mehr Sicherheit für Notfall-Situationen zu haben. Wichtig hervorzu­heben ist hierbei, dass es in diesen Kursen nicht nur um die Reanimation selbst, sondern vielmehr auch um das frühzeitige Erkennen eines kritisch kranken Patienten und das unmittelbare Einleiten von entsprechend effizienten Massnahmen geht. Dabei werden die notwendigen Algorithmen vermittelt und geschult. Zudem wird auch die unerlässliche Zusammenarbeit im Team – sogenannte soft skills – trainiert.

Refresher-Kurse sind freiwillig

Nur … wie lange hält diese Sicherheit an? Und wie lange erinnert sich jemand an die state of the art-Therapie verschiedenster Notfall-Situationen? Bei Piloten werden Simulator-Trainingssequenzen als obligatorisch und selbstverständlich wahrgenommen. Aber Notfall- und spezifische Reanimationskurse sind – einmal abgesehen von allfälligen obligatorischen Kursen zur Erlangung von Facharzt- oder Fähigkeitstiteln – völlig freiwillig, und die geringe Besucherzahl an allseits angebotenen «Refresher-Kursen» – trotz anrechenbaren Fortbildungs-Credits – zeugt nicht gerade von einem aktiven Bedürfnis nach «Simulations-Training». Überraschen sollte das nicht, wenn nicht einmal die «Notfall-affinen» Gesellschaften wie die SSAPM, die SGNOR oder die SGC für die Erneuerung ihrer entsprechenden Titel einen Nachweis von einschlägigen Reanimations- oder Notfallkursen verlangen. Sie scheinen darauf zu vertrauen, dass die dabei verteilten Fortbildungs-Credits Motivation genug sind.
Wieso ist das so? Weil wir «es» als Ärzte/Ärztinnen ­vermeintlich einfach für immer «können». Oder weil davon ausgegangen wird, dass alle freiwillig solche ­Refresher-Kurse besuchen? Wobei gerade die bescheidene Anzahl an Refresher-Kursen dagegen spricht. Oder wird einfach angenommen, dass schlichtweg nichts passieren wird? Und, wenn doch, dass dann ­einfach schnell das REA-Telefon gewählt oder der ­Rettungsdienst aufgeboten werden kann? Sowohl ­REA-Equipe als auch Rettungsdienst brauchen jedoch den entscheidenden Moment, um vor Ort die erforderliche Hilfe leisten zu können. Dabei sind aber gerade lebensbedrohliche Notfallsituationen zeitkritisch und verlangen eine unmittelbare, korrekte «Aktion» – analog einem Piloten, dessen Flugzeug z.B in einen Vogelschwarm gerät. Junge Ärztinnen und Ärzte besuchen zu Beginn ihrer Weiterbildung oft oben genannte Kurse und werden vielleicht – sofern sie an einer Klinik bleiben – im Rahmen der mehrheitlich regelmässig stattfindenden REA-Refresher im Spital periodisch weitergebildet.
Doch draussen in der Praxis sind die täglichen Herausforderungen ganz anders und weit weg vom vorma­ligen «Klinik-Alltag».
Und, Hand aufs Herz, wie verhält es sich mit mir selbst? Wenn ich, als Passagier in einem Ferienflieger sitzend, plötzlich über den Lautsprecher aufgeschreckt werde mit der Durchsage: «Ist allenfalls ein Arzt an Bord?» Gehöre ich auch zu denjenigen, die stillschweigend hinter der aufgeschlagenen Zeitung versinken in der Hoffnung, möglichst nicht bemerkt zu werden? Oder dass sich schnell jemand anderes, jemand mit mehr ­Erfahrung dazu meldet? Warum wohl? Wann habe ich das letzte Mal selbst eine REA-Situation geübt oder erlebt? Zu lange her, zu gross meine Unsicherheit, als dass ich mich traute, aufzuspringen und mit dem Ruf «Lassen Sie mich durch, ich bin Arzt!» selbstsicher zum vermuteten Notfall zu eilen. Diese Zeiten sind mangels Erfahrung und (bis anhin glücklicherweise) kompli­kationslosem Praxisalltag vorbei.
«Lassen Sie mich durch, ich bin Arzt!» Ein Ruf, den sich ­keiner mehr auszusprechen traut.

Ideal und Realität

Doch, wie war das gleich mit «meinem Ärzte-Ideal», damals während des Medizinstudiums: «Allen Menschen in allen Situationen helfen zu können» …? Gehört es nicht zum Basiswissen unseres Berufes, lebensrettende Sofortmassnahmen zu kennen und auch im Notfall unverzüglich anzuwenden?
Somit wäre ein Notfall-Refresher doch angebracht. Stimmt, aber bitte erst, wenn dazu Zeit in der Hektik des Praxisalltags gefunden wird und alle anderen ­diversen Fortbildungs-Pendenzen und -Pflichten ab­gearbeitet sind. Als Grundversorger könnte man mit einem «Zehnkämpfer» verglichen werden, der in allen Disziplinen gut sein muss. Bis zum längst überfälligen Notfall-Refresherkurs wird oft auf einen «Schönwetter-Praxisalltag» gehofft, bei dem bitteschön keine lebensbedrohlichen Ereignisse oder Komplikationen bei Injektionen und Infusionen passieren.
Möglicherweise müsste im Rahmen der «Rettungskette» nun nicht nur auf die Laien-Ausbildung fokussiert werden, sondern auch diskutiert werden, dass vermeintliche «Profis» – Ärztinnen und Ärzte sowie vorzugsweise das gesamte Praxispersonal – regelmäs­sig Reanimations-Trainings absolvieren und sich mit dem Reagieren auf die häufigsten Notfallsituationen periodisch befassen sollten. Dies würde wohl die Überlebenschance bei präklinischen Notfällen, wie sie ­immer noch passieren und passieren werden, namhaft verbessern …
Wie heisst es doch: «Eine Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied.» Wenn sich zunehmend Laien für ihre Rolle als Ersthelfer starkmachen – wäre es da nicht schade, wenn ausgerechnet wir Ärztinnen und Ärzte zu den schwächsten Gliedern der Überlebenskette zählen?

Kompetenzen erweitern

Natürlich erscheint es auf den ersten Blick verständlich, dass sich unser Fortbildungsinteresse eher auf neue Erkenntnisse und Therapiekonzepte richtet als auf die Wiederholung «trivialer» und vermeintlich ­altbekannter Basiskompetenzen. Dabei wird vergessen, dass auch die erwähnten Kursformate in Notfall­management von einer Vielzahl internationaler und nationaler Experten dem neuesten Stand der evidenzbasierten Forschung angepasst und in regelmässigen Guideline-Updates reevaluiert werden. Und dass so­genannte Entrustable Professional Activities (EPA) nicht nur im neu formulierten «Profiles»-Katalog für die Medizinstudierenden der Swiss Universities ge­fordert, sondern auch vom SIWF für die Postgraduate-Weiter- und -Fortbildung beliebt gemacht werden [1]. Zu einer solchen «Anvertraubaren Beruflichen Tätigkeit» gehört für uns alle die Kompetenz, Notfallsituationen in unserem unmittelbaren beruflichen und privaten ­Umfeld seriös und vorbildhaft in einem initialen Zeitfenster zu erkennen, zu behandeln und die notwen­digen Massnahmen zu ergreifen, bis spezialisierte ­professionelle Hilfe eintrifft. In diesem Kontext hat Entrustable auch etwas mit dem Vertrauen zu tun, das unsere Patientinnen und Patienten auch in Notfallsituationen in uns setzen und das wir nicht enttäuschen sollten.
Somit bleibt vielleicht nur die Antwort auf den obigen Text: «Problem erkannt, wo ist der nächste Refresher-Kurs in Notfallmedizin?»
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1 Breckwoldt J, Beckers SK, Breuer G, Marty A. Entrustable profes­sional activities. Anaesthesist. 2018;67:452–7.