Multimorbidität unter SwissDRG: ein Update

Organisationen der Ärzteschaft
Ausgabe
2022/2122
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20686
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(2122):721-725

Affiliations
a Dr. med., Klinik für Allgemeine Innere Medizin, Inselspital, Bern, Mitglied DRG-Kommission der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM); b DRG-Beauftragte der SGAIM, Mitglied DRG-Kommission SGAIM, CGM, Beratung im Gesundheitswesen, Meggen; c Prof. Dr. med., Medizinische Universitätsklinik, Kantonsspital Baselland, Liestal, Mitglied DRG-Kommission SGAIM; d Dr. med., Klinik für Innere Medizin, Kantonsspital Uri, Altdorf, Mitglied DRG-Kommission SGAIM; e Dr. med., Klinik für Innere Medizin, Spital Einsiedeln, Mitglied DRG-Kommission SGAIM; f Dr. med., Réseau Hospitalier Neuchâtelois, Département de Médecine, Neuenburg, Mitglied DRG-Kommission SGAIM; g Dr. med., Generalsekretär SGAIM, Bern

Publiziert am 24.05.2022

Der Behandlungsaufwand bei multimorbiden Patientinnen und Patienten soll ­adäquat vergütet werden. Doch trotz der Schaffung der Kategorien 5 und 6 zur Beurteilung des patientenbezogenen Gesamtschweregrades bleibt die Behandlung für Spitäler ökonomisch unattraktiv. Das schafft falsche Anreize.
Multimorbidität, gemeinhin definiert als das Vorliegen von mindestens zwei chronischen Krankheiten, wird voraussichtlich immer häufiger, hat einen nachteiligen Einfluss auf Lebensqualität und -erwartung und führt zu häufigeren und aufwendigeren ambulanten und stationären Behandlungen [1].
Folgt man dieser lediglich dichotomen Definition, ist Multimorbidität in der akut-stationären Medizin nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Gemäss aktuellen Studien aus der Schweiz waren in der stationären Tertiärversorgung gut 80% der Fälle und bei medizinischen Fällen auf allen Versorgungsstufen je nach Alterskategorie zwischen knapp 40% und beinahe 90% der Fälle multimorbid [2, 3].
Tyler Olson | Dreamstime.com

Multimorbidität unter SwissDRG

Das Vorhandensein von Komplikationen und/oder ­Komorbiditäten (CC) kann die Behandlung von Krankheiten erschweren und verteuern. Deshalb sah es die SwissDRG AG bereits bei der Einführung der SwissDRG-Klassifikation im Jahr 2012 als wesentlich an, die unterschiedliche Schwere einer Erkrankung zu erkennen und bei der Vergütung zu berücksichtigen [4].
Wie eingangs geschildert, eignet sich die üblicherweise benutzte Definition von Multimorbidität kaum, um die medizinische Komplexität eines Falles differenziert zu bestimmen. Unter SwissDRG wird deshalb für jeden Fall in einem komplexen Verfahren ein «patientenbezogener Gesamtschweregrad» (PCCL) ermittelt und (bis 2021) in fünf Schweregrade unterteilt, die ­einen Einfluss auf die Vergütung haben können.

Ökonomische Situation

Die durch die SwissDRG AG angestrebte Berücksich­tigung der unterschiedlichen Schwere einer Erkrankung im Kontext allfälliger Komorbiditäten und/oder Komplikationen bei der Vergütung lässt erwarten, dass der höhere Behandlungsaufwand bei komplexen Fallkonstellationen − wie sie bei multimorbiden Fällen typisch sind − adäquat abgedeckt wird.
Die SGAIM hat bereits 2018 die ökonomische Situation multimorbider Patientinnen und Patienten unter SwissDRG umfassend analysiert [5]. Wir stellten damals eine reziproke Beziehung zwischen der Fallschwere (PCCL) und dem finanziellen Ergebnis fest. Konkret wiesen Fälle mit äusserst schweren Komorbiditäten und Komplika­tionen (PCCL 4) zwischen 2013 und 2016 konstant ein ­ungefähr zehnmal höheres Defizit aus als solche ohne ­signifikante Komorbiditäten und Komplikationen (PCCL 0). Wir folgerten daraus, dass die angestrebte Kompensation der Mehrkosten bei medizinisch komplexen Fällen in der Praxis un­genügend umgesetzt wurde.
Wir hatten mehrmals Gelegenheit, diese in unseren Augen unbefriedigende Situation mit der SwissDRG AG eingehend zu besprechen. In der Folge wurde im Rahmen der jährlichen Systempräsentationen der SwissDRG AG verschiedentlich über Anstrengungen berichtet, die Abbildung komplexer Fälle zu verbessern. Bei genauerer Betrachtung waren hier aber jeweils nur eng umschriebene, in der Regel hauptsächlich technisch besonders aufwendige Fallgruppen, beispielsweise aus der Intensivmedizin, im Fokus.
Im deutschen DRG-System, auf dessen Basis SwissDRG ursprünglich entwickelt wurde, wurde das PCCL-System bereits 2016 um zwei zusätzliche Stufen für einen besonders hohen Grad an Komorbiditäten und Komplikationen erweitert (PCCL 5 und 6).
Eine analoge Umsetzung, wie es die SGAIM in Anträgen seit mehreren Jahren vorgeschlagen hat, erwies sich gemäss Aussagen der SwissDRG AG auf der Basis der bisherigen Gruppierungslogik in der Vergangenheit als technisch nicht umsetzbar.

Systemumbau ab 2022

Für die aktuell gültige Systemversion 11.0 wurden nun als Eigenentwicklung der SwissDRG AG zwei zusätz­liche PCCL-Stufen (PCCL 5 und 6) neu etabliert und ­weitere umfassende Systemumbauten vorgenommen, weil sich die differenzierte Abbildung komplexer Fälle aus Sicht der SwissDRG AG schwierig gestaltete und die Multimorbidität ungenügend abbildbar war [6, 7].
Mit dieser neu entwickelten Berechnungsformel stehen somit ab diesem Jahr 7 anstatt 5 PCCL-Stufen zur Verfügung,
Zusätzlich wurden nach weit über tausend Vorsimulationen 36 PCCL-Splits neu geschaffen, 12 davon mit Etablierung der Split-Bedingung «schwerste CC» (PCCL 5 und/oder 6), wodurch sich die Zahl von DRGs, die den PCCL berücksichtigen, um ca. 10% erhöht.
Diese Umbauten führen auch zu einer komplexen ­Neuverteilung der Fälle in die neuen PCCL-Kategorien. Auffällig ist einerseits die markante Zunahme des Anteils der Fälle mit PCCL 1, und auch bei PCCL 0 ist eine leichte Zunahme zu verzeichnen. Andererseits nehmen die Fallzahlen in der PCCL-Kategorie 3 merklich und in Kategorie 4 sehr deutlich ab. Die neu geschaf­fenen PCCL-Kategorien 5 und 6 werden allerdings nur ca. 0,7% aller Fälle in sich vereinen, und sie steuern vorerst hochspezialisierte DRGs an, die für die akut-stationäre/allgemeininnere Medizin in den meisten Spit­älern keine Rolle spielen (Abb. 1).
Abbildung 1: Vergleich Fallzahlen pro PCCL-Kategorie V11.0 vs. V10.0.

Aktuelle ökonomische Analysen

Die geschilderten komplexen Systemumbauten mit dem seitens SwissDRG AG erklärten Ziel einer differenzierten Abbildung von multimorbiden Fällen legen die Hypothese nahe, dass das finanzielle Ergebnis im Vergleich zu den Vorjahren weniger stark von der Fallkomplexität abhängig wird.
Um diese Hypothese datengestützt zu prüfen, hat die SGAIM anonymisierte medizinische und Kostenträger-Datensätze aus dem Datenjahr 2019 analysiert und zusätzlich nach V9.0, V10.0 und V11.0 simuliert.
Zur Verfügung standen knapp 531 000 Datensätze von 38 Spitälern aus allen Spitalkategorien und aus allen Sprachregionen der Schweiz.
Die zusammengeführten und vollständig anonymen Resultate wurden mit Unterstützung eines Expertengremiums (DRG-Kommission) aus den Reihen der SGAIM analysiert.

Resultate

Die durchgeführten Analysen auf Basis der SwissDRG-Datensätze 2019 zeigen weiterhin, dass das durchschnittlich erzielte Defizit mit steigendem PCCL markant ansteigt. Diese Tendenz lässt sich trotz Umbauten der Berechnungsformel für den patientenbezogenen Schweregrad in der Version 11.0 sogar noch akzentuierter nachweisen: Mit Ausnahme der Fälle mit einem Schweregrad von 2 weisen alle anderen Fälle höhere durchschnittliche Defizite im Vergleich aus (Abb. 2).
Abbildung 2: Durchschnittliches Ergebnis pro Fall je PCCL-Kategorie für die Jahre 2013–2021 (alle Fälle).
Das aktuell gültige System 11.0. ist bezüglich PCCL-Kategorien als Ausdruck der medizinischen Komplexität der Fälle allerdings nicht direkt mit den Vorgängerversionen vergleichbar. Wir haben deshalb die Kollektive der früheren PCCL-Kategorien 1 bis 4 einzeln mit dem aktuellen System simuliert und umfassend analysiert.
Der SGAIM ist die Abbildung der multimorbiden Pa­tientinnen und Patienten im SwissDRG-Tarifsystem ein besonders wichtiges Anliegen. Vor diesem Hintergrund wurden die Fälle der medizinischen Partition mit der höchsten Fallschwere gemäss der Groupierlogik vor den Umbauten der PCCL-Berechnungsformel gezielt betrachtet.
In Betrachtung der Fallzahlen erhält der weitaus grösste Teil dieser Fälle neu einen PCCL von 3 anstatt 4. Die neu geschaffenen Kategorien 5 und 6 werden in sehr geringem Umfang angesteuert (Abb. 3).
Abbildung 3: Neuzuordnung der Fälle V11.0 vs. V10.0, Partition M, PCCL 4.
In Betrachtung der durchschnittlichen Ergebnisse pro Fall wird ersichtlich, dass sich diese in der Gesamtheit der Fälle weiter verschlechtern. Dieser Effekt ist in den neuen PCCL-Kategorien 3 und 4, die den grössten Teil der Fälle in sich vereinen, ebenso fest­zustellen (Abb. 4).
Abbildung 4: Ökonomische Detailanalysen V11.0 vs. V10.0, Partition M, PCCL 4.

Diskussion

Die durch die komplexen Systemumbauten durch die SwissDRG AG geweckte Hoffnung auf eine ausgewogenere Vergütung medizinisch komplexer Fälle scheint sich in den umfangreichen Analysen unserer Fachgesellschaft nicht zu bestätigen. Wir können anhand der uns zur Verfügung stehenden Daten keinen positiven Effekt der umfassenden Umbauten im DRG-System auf die Vergütung medizinisch komplexer Fälle erkennen. Wie in der Vergangenheit haben der PCCL und die damit abgebildete medizinische Komplexität der Fälle einen klar negativen Einfluss auf das ökonomische Ergebnis. Das führt in unseren Augen zu einem Wettbewerbsnachteil von Fachgebieten und Spitälern, die einen hohen Anteil von medizinisch komplexen Fällen in ihrem Patientengut vorfinden.
Das aktuell gültige System V11.0 ist nicht mehr direkt mit den vorangegangenen Versionen vergleichbar. Aufwendige Analysen der Fälle, die in den Vorgängerversionen einen PCCL von 4 aufwiesen und in der Allgemeinen Inneren Medizin gehäuft vorkommen, zeigen aber, dass diese Fallgruppe anders als in Aussicht gestellt im neuen System nicht auf-, sondern abgewertet wurde.

Methodische Vorbehalte

Unsere Analysen sind allerdings mit einigen methodischen Schwierigkeiten behaftet:
– Wir präsentieren lediglich simulierte Ergebnisse der SwissDRG-Versionen 9.0 bis 11.0 auf Basis der Daten aus dem Jahr 2019. Die realen Daten aus dem Jahr 2020 wurden für die vorliegenden Auswertungen nicht verwendet, weil die ökonomischen Effekte der COVID-19-Pandemie eine Nutzung des Datenjahres 2020 für die Systementwicklung auch aus Sicht der SwissDRG AG verunmöglichen [8].
– Es stehen uns nicht alle, aber immerhin gut 40% aller Datensätze der akut-stationären Behandlungen in der Schweiz im Jahr 2019 zur Verfügung. Somit widerspiegeln die hier präsentierten Ergebnisse nicht unbedingt die Realität aller Spitäler. Das rezi­proke Verhältnis zwischen PCCL und finanziellem Ergebnis findet sich aber in unterschiedlichem Ausmass bei der Mehrheit der Spitäler, die uns ihre Daten zur Verfügung gestellt haben.
– Unsere Auswertungen bilden die ökonomische Realität der liefernden Spitäler nicht vollständig ab. Die uns zur Verfügung stehenden Datensätze enthalten nämlich nur die Einkünfte aus der obligatorischen Krankenversicherung. Dies ist einerseits bei zusatzversicherten Fällen von Belang, weil hier höhere Kosten für Honorare und Hotellerie ausgewiesen sind, es uns aber nicht bekannt ist, in welchem Umfang diese durch die Leistungen der Zusatzversicherungen gedeckt sind. Andererseits sind wir auch über zusätzliche Einnahmequellen der Spitäler, beispielsweise bei der Vergütung akademischer Leistungen, nicht im Bild.
Dies führt wahrscheinlich dazu, dass die Defizite, die wir vorfinden, in Wirklichkeit weniger hoch sind.
Die probeweise Betrachtung nur der grundver­sicherten Fälle eliminiert das reziproke Verhältnis von PCCL und Abgeltung in den uns zur Verfügung stehenden Daten aber nicht.
Unsere Auswertungen auf allgemeinversicherte Fälle zu beschränken wäre auch nicht opportun, da zusatzver­sicherte Personen schon nur wegen des höheren durchschnittlichen Alters klinisch anders gelagert sind.

Ausblick

Die Behandlung von multimorbiden, insbesondere medizinisch besonders komplexen Fällen bleibt auch in ökonomischer Hinsicht eine Herausforderung. Es zeichnet sich ab, dass das Potenzial des PCCL-Systems für eine ökonomische Besserstellung besonders multimorbider Fallkonstellationen weitgehend ausgeschöpft ist.
Ein Umstand, der dazu beiträgt, ist wahrscheinlich, dass sich viele, wenn nicht die Mehrheit der DRGs nicht für einen PCCL-Split eignen, weil die Kosten in diesen Fallkonstellationen hauptsächlich durch technische Leistungen geprägt sind.
Aus Sicht der SGAIM wäre ein vermehrtes Augenmerk auf komplexe klinische Konstellationen zu richten, bei denen das kombinierte Vorhandensein von Krankheiten den Behandlungsaufwand übermässig steigert. Zu denken ist hier beispielsweise an sogenannte therapeutische Konflikte wie das gleichzeitige Vorliegen einer akuten Blutung und eines thromboembolischen Ereignisses. Hier bleibt die SwissDRG AG weiterhin auf Hinweise aus der klinischen Fachwelt angewiesen.

Das Wichtigste in Kürze

• Das bereits 2012 erklärte Ziel der SwissDRG AG, den erhöhten Behandlungsaufwand bei Fällen mit vielen Komorbiditäten und/oder Komplikationen adäquat zu vergüten, ist noch nicht erreicht.
• Auch nach tiefgreifenden Systemumbauten (inklusive Einführung der PCCL-Stufen 5 und 6) wird die Behandlung von Fällen mit besonders vielen Komorbiditäten und/oder Komplikationen im Durchschnitt bedeutend schlechter vergütet.
• Das führt zu einem Wettbewerbsnachteil für Fachgebiete und Spitäler bzw. Spitalabteilungen, die einen hohen Anteil von medizinisch komplexen Fällen in ihrem Patientengut vorfinden.
• Wenn es auch zukünftig aus ökonomischer Sicht attrak­tiver bleibt, bevorzugt wenig komplexe Fälle zu behandeln, gefährdet das aus Sicht der SGAIM die adäquate Versorgung des wachsenden Anteils der Schweizer Bevölkerung mit mehreren Komorbiditäten.
• Da das PCCL-System allein die ökonomische Schlechterstellung multimorbider Fälle nach den bisherigen Erfahrungen wahrscheinlich nicht beheben kann, müssen ­zusätzliche Wege gesucht werden, um besonders aufwendige Fallkonstellationen zu erkennen.
• Eine aktive Beteiligung der medizinischen Fachwelt an der Weiterentwicklung von SwissDRG ist weiterhin notwendig.
Danksagung
Wir danken allen beteiligten Spitälern für das mit der Datenlieferung verbundene Vertrauen.
In einer der nächsten Ausgaben wird die SwissDRG AG aus einer ergänzenden Perspektive ebenfalls über dieses Thema berichten.
lars.clarfeld[at]sgaim.ch
1 Bähler C, Huber CA, Brüngger B, Reich O. Multimorbidity, health care utilization and costs in an elderly community-dwelling pop­ulation: a claims data based observational study. BMC Health Serv Res. 2015 Jan 22;15:23. doi: 10.1186/s12913-015-0698-2. PMID: 25609174; PMCID: PMC4307623
2 Aubert CE, Fankhauser N, Marques-Vidal P, Stirnemann J, ­Aujesky D, Limacher A, Donzé J. Multimorbidity and healthcare resource utilization in Switzerland: a multicentre cohort study. BMC Health Serv Res. 2019 Oct 17;19(1):708. doi: 10.1186/s12913-019-4575-2. PMID: 31623664; PMCID: PMC6798375
3 Müller M, Huembelin M, Baechli C, Wagner U, Schuetz P, Mueller B, Kutz A. Association of in-hospital multimorbidity with healthcare outcomes in Swiss medical inpatients. Swiss Med Wkly. 2021 Feb 5;151:w20405. doi: 10.4414/smw.2021.20405. PMID: 33578431
4 SwissDRG-Version 1.0 Abrechnungsversion (2012/2012).
5 Beck T, et al. SwissDRG: Benachteiligung in der Abgeltung multimorbider Patienten. Schweiz Ärzteztg. 2018;99(12):372–7. doi.org/10.4414/saez.2018.06284
6 Änderungen in SwissDRG-Version 11.0 gegenüber -Version 10.0.
7 Systempräsentation SwissDRG-Version 11.0/2022.
8 Abbildung_Covid_DE.pdf (swissdrg.org).