Aus Patientenerfahrungen lernen

Tribüne
Ausgabe
2022/19
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20690
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(19):649-651

Affiliations
a Prof. Dr. med. Dr. phil., Direktorin des Instituts für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte (IBME), Universität Zürich; b Prof. (ZFH) Dr. rer. biol. hum., Fachstelle Interprofessionelle Lehre und Praxis, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Winterthur, und Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte (IBME), Universität Zürich; c Dr. med., PhD, Forscherin am Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte (IBME), Universität Zürich; d Dr. med., amstad-kor, Basel

Publiziert am 10.05.2022

Was erleben Menschen, wenn sie an einer Krankheit leiden? Welche Erfahrungen machen sie als Patientinnen und Patienten in Arztpraxen oder im Spital? Was für eine Art von Unterstützung finden sie hilfreich, und wo wünschen sie sich weitere Angebote? Die Schweizer Datenbank für individuelle Patientenerfahrungen DIPEx sammelt Erzählungen von Betroffenen und macht sie online zugänglich.
Viele Gesundheitseinrichtungen betonen in ihren Leitbildern die Bedeutung der Patientenorientierung, ­deren Umsetzung im Alltag nicht immer oder vollständig gelingt. Dabei könnten aus den vielfältigen Er­fahrungen, die Patientinnen und Patienten tagtäglich machen, wertvolle Rückschlüsse für das Gesundheitswesen gezogen werden. Patient-Reported Outcome Measures (PROMs) und Patient-Reported Experience Measures (PREMs) sind dazu ein möglicher Ansatz, reichen aber nicht aus, da sie oft auf wenige, zentrale ­Parameter beschränkt sind [1].
Mit dem vom Institut für Biomedizinische Ethik (IBME) der Universität Zürich 2017 zusammen mit der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) lancierten DIPEx-Projekt entsteht aktuell in der Schweiz eine reichhaltige Quelle an qualitativen Erfahrungsberichten von Patientinnen und Patienten und Betroffenen. DIPEx ist das Akronym für Database of Individual Patient Experiences. DIPEx sammelt Er­zählungen von Patientinnen und Patienten aus der Schweiz über ihre Krankheitserfahrungen und macht sie auf der Website www.dipex.ch der Öffentlichkeit zugänglich.
Zusammen mit 14 Nationen ist die Schweiz Teil des Netzwerks von DIPEx International, zu dem unter ­anderem Grossbritannien, Deutschland, die USA und Kanada gehören.

Erfahrungen teilen

DIPEx arbeitet mit einer qualitativen Forschungsmethodik, welche an der Universität Oxford entwickelt wurde. Für jedes Gesundheitsthema werden zwischen 30 und 50 Personen nach ihren persönlichen Erfahrungen befragt. Die Auswahl der Gesprächspartne­rinnen und -partner erfolgt nach dem Konzept des ­purposive sampling,welches darauf zielt, eine möglichst grosse Breite an Erfahrungen abzudecken. Was Menschen über ihr Leben und ihre Erfahrungen im Umgang mit Gesundheit und Krankheit zu erzählen haben, wird in offenen Interviews erhoben und nach einer etablierten Methode ausgewertet. Die resul­tierenden inhaltlichen Themen werden mit ausgewählten Video-, Audio- oder Textausschnitten aus den Interviews unter Berücksichtigung relevanter Ethik- und Datenschutzaspekte illustriert und auf der Website zugänglich gemacht.
Von den öffentlich zugänglichen Erfahrungen anderer zu lernen ist in vielerlei Hinsicht hilfreich:
– Selbsthilfe: Menschen mit ähnlichen gesundheit­lichen Problemen finden auf der Website Informa­tionen, die ihnen im Umgang mit der eigenen Krankheit helfen können.
– Qualitätsverbesserung: Die Erzählungen können als verlässliche Informationsquelle für die Verbesserung der Gesundheitsversorgung dienen, weil sie einen systematischen Zugang zur Perspektive von Patientinnen und Patienten bieten. Erfahrungen aus Sicht von Betroffenen schaffen über die DIPEx-Daten somit eine zusätzliche Form der Evidenz, ­deren Bedeutung für eine zeitgemässe, evidenz­basierte Politikgestaltung zunehmend erkannt wird.
– Aus- und Weiterbildung: Systematisch gesammelte Erfahrungen lassen sich über die Datenbank für Aus- und Weiterbildungszwecke in den verschiedenen Gesundheitsberufen nutzen. Lernen Studierende beispielsweise aus der Medizin die Bedürfnisse und Präfenzen von Patientinnen und Patienten besser verstehen, kann das unmittelbar zu einer stärker patientenorientierten Versorgung beitragen.
– Forschung: Das Projekt leistet durch die Schaffung narrativer Evidenz einen Beitrag zu gesundheits­bezogener Forschung; zugleich bietet es mit einem signifikanten Korpus an Patienteninterviews Material für eine Reihe disziplinärer und methodischer Zugänge aus den medical humanities und darüber hinaus. Die erhobenen Patientenerfahrungen können zudem in Forschungsprozesse mit dem Ziel der Entwicklung praxisnaher Produkte, wie z.B. Entscheidungshilfen oder PROMs, einfliessen.
Der mit Covid-19 ausgelöste Digitalisierungsschub in der Medizin macht Angebote wie DIPEx auf vielfältige Weise hilfreich und wertvoll (z.B. als ergänzendes ­Material für die Selbsthilfe oder für die Lehre in der Medizin, wenn der Zugang zu Patientinnen und Pa­tienten in der Ausbildung erschwert ist).

Wissenschaftliche Unabhängigkeit

Anders als viele Geschichten von Betroffenen, die im Netz und in den sozialen Medien verfügbar sind und oft in einer ganz bestimmten Absicht eingesetzt werden, z.B. für Marketing, möchte DIPEx wissenschaftlich abgestützte Pa­tientenerfahrungen zugänglich und nutzbar machen.
Die Module zu bestimmten Themen werden zum Teil von Organisationen finanziert, die einen engen Bezug zu diesem Thema haben; dadurch könnte der Eindruck entstehen, dass die Ergebnisse eines Moduls von den Geldgebern beeinflusst werden können. DIPEx hat sich bewusst dem HON-Code (Health on the Net) verpflichtet, der ein Sponsoring durch die Industrie und damit die Einflussnahme oder Verwertung der Daten im Sinne des Marketings ausschliesst. Ausserdem ist das IBME Mitglied im Deutschen Netzwerk Gesundheitskompetenz und arbeitet an Qualitätsstandards für ­solche Erfahrungsberichte.
Tabelle 1 listet jene zehn Themen auf, zu denen auf dem Schweizer Portal schon Module existieren bzw. in Erarbeitung sind. Bereits enthält die Schweizer DIPEx-Datenbank über 200 Interviews. Auf der DIPEx-Website in Grossbritannien wurden seit der Gründung im Jahr 2000 mehr als 100 Module veröffentlicht.
Die Auswahl der Themen wird einerseits bestimmt durch spezifische Forschungsinteressen des Instituts und der Partnereinrichtungen; diese werden gebündelt, und anschliessend werden Drittmittel dafür gesucht (typischerweise bei Stiftungen). Andererseits werden anlässlich von Ausschreibungen von Förder­organisationen oder grossen Patientenorganisationen Gesuche eingereicht. Künftig soll es aber auch möglich sein, Interviews ausserhalb der thematischen Module aufzunehmen und in die Datenbank einzupflegen.
Um eine wissenschaftliche Unabhängigkeit zu erreichen, kommen am IBME verschiedene Kontrollmechanismen zum Einsatz. So gibt es zu jedem Themen-Modul ein Advisory Board, in dem Fachleute und Betroffene aus allen Landesteilen als Expertinnen und Experten vertreten sind. Von den bisher aufgezeichneten 206 Patienteninterviews liegen 127 auf Deutsch, 36 auf Französisch, 19 auf Italienisch und 27 auf Englisch vor.
Tabelle 1: Module in Erarbeitung auf der Schweizer DIPEx-Website (www.dipex.ch, Stand März 2022).
• Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen
• Individuelle Erfahrungen mit Covid-19
• Leben mit Chronischem Schmerz
• Intensivmedizin aus Perspektive von Patientinnen und Patienten und Angehörigen
• Schwangerschaft und pränatale Diagnostik
• Reden über das Leben mit Multipler Sklerose
• Tiefenhirnstimulation (DBS) und Duodopa-Pumpe bei Parkinson-Krankheit
• Entscheidungsfindung bei jungen hämato-onkologischen Patientinnen und Patienten
• Psychische Gesundheit
• Leben mit einer seltenen Krankheit. Erfahrungen von Betroffenen und Familien

Finanzierung durch Förderverein

Die Startphase des Projekts ist beendet, und Ende November 2021 wurde die DIPEx-Website www.DIPEx.ch im Rahmen des Symposiums Excellence in Patients Care mit mit den Modulen Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen und Intensivmedizin aus Perspektive von Patienten und Angehörigen online geschaltet [2]. Wie Prof. Sue Ziebland, Hauptrednerin am Symposium und Nestorin von ­DIPEx, betonte, ist das experience-based co-design gemeinsam mit Patientinnen und Patienten heute angesichts der Relevanz bürgerwissenschaftlicher Ansätze von besonderer Bedeutung. Die DIPEx-Forschergruppe wird den Expertenaustausch im Rahmen des Jahrestreffens von DIPEx International fortsetzen können, welches das Schweizer Team im Mai 2022 ausrichten wird.
Auf der Website von DIPEx sind ausgewählte Ausschnitte aus Gesprächen mit Betroffenen abrufbar (© www.dipex.ch).
Mit Eintritt in die Konsolidierungsphase wirken auch neu Hochschulinstitute aus der Westschweiz und dem Tessin mit. Ein hochkarätig besetzter Projektbeirat ­bietet strategischen Rat für die weitere Entwicklung [3]. Gelingt es zu zeigen, dass die Website DIPEx den ­Bedürfnissen und Anforderungen der Zielgruppen entspricht, ist vorgesehen, DIPEx langfristig auf Hochschulebene (Medizinische Fakultäten, Fachhochschu­len Gesundheitsberufe, Pädagogische Hochschulen, Universitätsspitäler u.a.) einzubinden.
Die zum Teil drittmittelfinanzierten Forschungsprojekte in DIPEx sehen als zentrale Aufgabe die Aufbereitung und Verfügbarmachung der Forschungsresultate für die unterschiedlichen Zielgruppen. Dabei wird die künftige Geschäftsstelle von DIPEx die Koordination bestehender und die Initiierung neuer Forschungsprojekte übernehmen. Solange DIPEx jedoch nicht in die Finanzplanung auf Hochschulebene aufgenommen ist, sind die Kosten der durch Drittmittel generierten Forschungsprojekte nicht abgedeckt.
Um diese Übergangsphase finanziell zu überbrücken, soll ein Förderverein zur Finanzierung der Geschäftsstelle gegründet werden, um dem Projekt in der Konsolidierungsphase die notwendige finanzielle Sicherheit zu geben. Als Mitglieder kämen vor allem Gesundheits­organisationen infrage, die das Angebot von ­DIPEx als wichtig erachten und denen es ein Anliegen ist, DIPEx langfristig zu erhalten und auszubauen.

Das Wichtigste in Kürze

• Im Projekt DIPEx des Instituts für Biomedizinische Ethik der Universität Zürich und der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften werden Patientenerfahrungen aus der Schweiz gesammelt und auf der Website www.dipex.ch zugänglich gemacht.
• Die Gesprächsausschnitte können beispielsweise für die Qualitätsverbesserung, die Aus- und Weiterbildung oder die Forschung genutzt werden.
• Um das Projekt in der Konsolidierungsphase finanziell abzusichern, soll ein Förderverein gegründet werden.
• Als Mitglieder des Fördervereins kommen Gesundheitsorganisationen infrage, denen es ein Anliegen ist, DIPEx langfristig zu erhalten und auszubauen.
Danksagung
Wir möchten uns in erster Linie bei allen Interviewteilnehmerinnen und Interviewteilnehmern bedanken, für ihre Offenheit und Bereitschaft, ihre Erfahrungen mit uns zu teilen. Durch diese Einblicke in die persönlichen Erzählungen machen sie DIPEx möglich.
Zudem möchten wir uns bei allen Personen und Institutionen bedanken, die uns bei der Erstellung der Module partnerschaftlich unterstützen und mit uns den «Spirit» von DIPEx teilen, hier in alphabetischer Reihenfolge:
Alzheimer Schweiz, Collegium Helveticum, Krebsliga Schweiz, Partizipative Wissenschaftsakademie der Universität Zürich, die Partner von DIPEx Germany und von DIPEx International, Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften, Schweizerische MS-Gesellschaft, Schweizerischer Nationalfonds, Universität Zürich, Zürcher Fachhochschule für Angewandte Wissenschaften, Zürcher Hochschule für Design und der Künste .
Unser besonderer Dank geht an die Modulverantwortlichen und alle Personen, die uns bei der Entwicklung der Module unterstützen: Yolanda Chacon, Joana Cuenoud, Daniel Drewniak, Andrea Durisch, Beatrix Göcking, Manya Hendriks, Martina Hodel, Ivonne Ilg, Susanne Jöbges, Silvia Lazzarotto, Andrea Lehner, Anke Maatz, Tania Manríquez Roa, Corine Mouton Dorey, Joelle Ott, Andrea Radvanszky, Johann Roduit, Mengzhen Schwarz, Bettina Schwind, Karin Seiler, Giovanni Spitale, Nina Streeck, Mirriam Tyebally Fang, Sebastian Wäscher, Henrike Wiemer und Kristina Würth.
redaktion.saez[at]emh.ch
1 Berchtold P, Gedamke S, Schmitz C. Quality through patients’ eyes. Bericht an das BAG. SPO. Schweizerische Patientenorganisation. Zürich; 2020. https://www.spo.ch/wp-content/uploads/2021/02/Bericht-Quality-through-patients-eyes-final.pdf
3 dipex.ch/dipex-switzerland/ [Abgerufen am 27. März 2022].