Tuberkuloserisiko bei Flüchtlingen aus der Ukraine

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Ausgabe
2022/1516
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20692
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(1516):508-509

Affiliations
a Dr. med., Kompetenzzentrum Tuberkulose, Lungenliga Schweiz, Bern; b Projektleiterin, Lungenliga Schweiz, Bern

Publiziert am 12.04.2022

In der Ukraine kommt Tuberkulose weitaus häufiger vor als in der Schweiz. Beim Kontakt mit ukrainischen Flüchtlingen sollten Ärztinnen und Ärzte bei entsprechenden Symptomen schnell handeln und ein Screening durchführen.
Die Schweiz nimmt derzeit eine grosse Zahl von Flüchtlingen aus der Ukraine auf. In diesem Land kommt ­Tuberkulose etwa fünfzehn Mal häufiger vor als in der Schweiz. Einige Ankömmlinge kommen direkt bei ­Privatpersonen unter und durchlaufen nicht das für Asylsuchende übliche Prozedere. Somit erhalten sie keine der Informationen und Ratschläge, die im Rahmen einer ersten Begegnung mit einer medizinischen Fachkraft gegeben werden, und sie werden auch nicht über die möglichen Symptome der Tuberkulose aufgeklärt. Unter diesen Umständen ist es umso wichtiger, dass praktizierende Ärztinnen und Ärzte, die in Kontakt mit Flüchtlingen kommen, an Tuberkulose denken.

Tuberkulose in der Ukraine: Fakten und Zahlen (2020)1

Tuberkulose-Inzidenz: 32 000 bzw. 73/100 000 Einwohner (CH: 400 bzw. 4,7/100 000)
Tuberkulose-Inzidenz bei HIV-positiven Personen: 7000 bzw. 16/100 000 Einwohner (CH: 18 bzw. 0,21/100 000)
Laborbestätigte Fälle von MDR- und RR-Tuberkulose: 4300 = 13% (CH: 5 = 1,3%)
Laborbestätigte Fälle von Prä-XDR/XDR-Tuberkulose: 1200 = 3,8% (CH: 1 = 0,3%)
1 WHO Global TB Report App 2021: Daten für die Ukraine.

Bei Symptomen sofort handeln

Die Früherkennung potenziell übertragbarer Krankheiten ist von entscheidender Bedeutung, sowohl um den Kranken eine angemessene Behandlung zukommen zu lassen als auch um die Übertragung der Krankheit auf andere Personen, insbesondere innerhalb von Familien, zu verhindern. Tuberkulose ist in der Schweiz sehr selten geworden. Daher ist es wichtig, dass praktizierende Ärztinnen und Ärzte, die mit Flüchtlingen in Kontakt kommen, auf Symptome achten, die möglicherweise auf eine Tuberkulose hindeuten, und unverzüglich die notwendigen Untersuchungen einleiten, um eine Tuberkulose zu bestätigen oder auszuschlies­sen. Ein schnelles Screening ist umso wichtiger, als ein hoher Prozentsatz der in den osteuropäischen Ländern vorkommenden Tuberkulosestämme Resistenzen gegen die Standardmedikamente entwickelt hat (multiresistente Tuberkulose) und die Verabreichung von Ersatzpräparaten erforderlich macht, deren Handhabung komplizierter ist.
Beispiele aus dem Online-Fragebogen zu Tuberkulose: Haben Sie Husten? Haben Sie Auswurf? Haben Sie Gewicht verloren? (Quelle: Schweizerische Eidgenossenschaft, www.tb-screen.ch/app/pdfoutput/secondex__ua-CH_de-CH.pdf )

Ablauf des Screenings

Das Tuberkulosescreening beginnt mit einer Befragung zu möglichen Symptomen wie hartnäckigem Husten, Fieber, schlechtem Allgemeinbefinden, Gewichtsverlust oder möglichem Kontakt mit einem Tuberkulosefall. Bei Symptomen, die auf eine Tuberkulose hin­deuten, ist umgehend eine Thorax-Röntgenaufnahme vorzunehmen. Wenn die Aufnahme für eine Tuber­kulose typische Anomalien zeigt, ist zwingend eine Sputum-Untersuchung durchzuführen, vorzugsweise in Form eines Genamplifikationstests (PCR, Xpert MTB/RIF).
Um den Dialog mit den Flüchtlingen zu erleichtern, gibt es einen einfachen audiovisuellen Fragebogen, der sich bewährt hat und mit dem das Tuberkuloserisiko ein­geschätzt werden kann. Dieser Fragebogen wird in den Empfangszentren des Bundes verwendet, ist aber auch online in 33 Sprachen, einschliesslich Ukrainisch, verfügbar unter www.tb-screen.ch. Der Online-Frage­bogen bewertet das Tuberkuloserisiko und gibt an, ob ein Thorax-Röntgen sinnvoll ist. Der Fragebogen und die zugehörigen Piktogramme können den zu befragenden Personen gezeigt oder vorgelesen werden. Diese können sich die Fragen auch als Audioinhalte anhören und anschliessend mit Ja oder Nein beantworten. Ein Beispiel für Fragen auf Ukrainisch ist hier abgebildet.
Die Zahl der erwarteten Fälle erscheint im Vergleich zur möglichen Zahl der Covid-19-Fälle nicht sehr hoch. Dennoch ist es wichtig, dass mögliche Tuber­kulosefälle bei Flüchtlingen nicht übersehen werden und dass ihnen schnell eine angemessene Behandlung angeboten wird, um die Übertragungskette in ihrem Umfeld zu durchbrechen.
Wir ermutigen die praktizierenden Ärztinnen und Ärzte, das oben erwähnte Tool zu nutzen oder sich bei Problemen an die Tuberkulose-Hotline der Lungenliga Schweiz unter 0800 388 388 zu wenden.

Das Wichtigste in Kürze

• Tuberkulose kommt in der Ukraine etwa fünfzehn Mal häu­figer vor als in der Schweiz. Besonders multiresistente ­Tuberkulosestämme sind in Osteuropa verbreitet.
• Durch die private Aufnahme vieler ukrainischer Flüchtlinge erhalten diese nicht die üblichen medizinischen Informa­tionen für Asylsuchende und werden nicht über mögliche ­Tuberkulose-Symptome aufgeklärt.
• Ärztinnen und Ärzte, die mit Flüchtlingen Kontakt haben, sollten auf Symptome achten, die auf eine Tuberkulose hindeuten, und bei Auffälligkeiten unverzüglich ein Screening durchführen.
• Als Hilfsmittel zur Bewertung des Tuberkuloserisikos kann ein audiovisueller Fragebogen verwendet werden, der unter www.tb-screen.ch abgerufen werden kann und auch auf ­Ukrainisch verfügbar ist.
zellwegerjp[at]swissonline.ch