Die Wunden des Krieges versorgen

Zu guter Letzt
Ausgabe
2022/17
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20703
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(17):578

Affiliations
Redaktorin Schweizerische Ärztezeitung

Publiziert am 26.04.2022

Unsere Spitäler kommen nicht zur Ruhe. Während die Coronapandemie uns noch immer im Griff hat, müssen nun die ukrainischen Geflüchteten versorgt werden, die seit Beginn der russischen Invasion in grosser Zahl in die Schweiz strömen. Im gesamten Jahr 2021 beantragten knapp 15 000 Menschen in der Schweiz Asyl [1].Laut den Zahlen des Staatssekretariats für Migration (Stand 18. April) haben nun binnen zweier Monate bereits über 36 000 Personen aus der Ukraine einen Antrag auf den Schutzstatus S gestellt. Solche Zahlen haben wir seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt.
Die Schweizer Bevölkerung zeigt viel Mitgefühl und Grosszügigkeit gegenüber diesen Menschen, die verzweifelt vor dem Krieg fliehen. Nicht wenige der Geflüchteten benötigen aber – mitunter dringend – medizinische Versorgung. Dies stellt für unsere Spitäler eine enorme Herausforderung dar, wie das Westschweizer Radio und Fernsehen RTS berichtete [2]. Einige Einrichtungen, wie das Universitätsspital Genf (HUG), haben eine entsprechende Task Force eingerichtet. So gross die Solidarität seitens der Behörden und der Bevölkerung auch ist, es bleibt dennoch viel zu tun, unter anderem im Bereich der medizinischen ­Versorgung. Das HUG verfügt seit dreissig Jahren über ein spezielles Programm und eine eigene Abteilung für ­gesundheitliche Belange von Migrantinnen und Migranten, ist somit relativ gut auf die Aufnahme von Opfern des Ukrainekriegs vorbereitet. Wie bei der zweiten Coronawelle könnten jedoch die Betten knapp ­werden, warnt der Kanton Genf [2]. Denn neben den Geflüchteten aus der Ukraine muss auch die restliche ­Bevölkerung weiter versorgt werden, zumal uns die Grippe und andere saisonale Viren noch beschäftigen.
Zur logistischen Bewältigung dieses Zustroms kommen Kommunikationsprobleme hinzu. Sprachbarrieren sind beim Zugang zur Gesundheitsversorgung ­eines der grössten Hindernisse. Einige Spitäler verfügen über Tools, die einfache Fragen an die Patientinnen und Patienten in verschiedene Sprachen, darunter Ukrainisch, übersetzen können. Diese sind für eine ­Erstuntersuchung nützlich, reichen aber für eine umfassende und zuverlässige Anamnese nicht aus. Die Dolmetschernetzwerke, die Gesundheitseinrichtungen unterstützen, müssen nun rasch ausreichend viele Personen finden, die zwischen unseren Landessprachen und dem Ukrainischen übersetzen können. Sie bilden eine entscheidende Brücke zwischen der Patientin oder dem Patienten und den Ärztinnen und Ärzten, damit diese die richtige Diagnose stellen und die geeignetste Behandlung vorschlagen können. In einer der nächsten Ausgaben werden wir einen Artikel dem Dolmetschen im medizinischen Bereich widmen.
Ukrainerinnen und Ukrainer, die bei den vielen hilfsbereiten Privatpersonen in der Schweiz untergebracht sind, laufen eher Gefahr, durch das Raster zu fallen, als diejenigen, die sich in den Aufnahmestrukturen befinden. Hier sind die Hausärztinnen und Hausärzte gefragt, wie Patrick Bodenmann, Leiter des Bereichs für vulnerable Gruppen und soziale Medizin von Unisanté, betonte. Ein Aufruf an die waadtländische Ärztegesellschaft soll dafür sorgen, «dass die Ärztinnen und Ärzte im Rahmen ihrer Möglichkeiten ihre Praxen ­öffnen» [2].
Wenn wir mit diesen tragischen Schicksalen konfrontiert werden, sollten wir alle ein offenes Ohr für das Unglück der Geflüchteten haben. Bereits durch Zuhören, Mitgefühl und Trost kann das erlebte Trauma ein wenig gelindert werden. Denn viel häu­figer als unter körperlichen Beschwerden leiden sie unter psychischen Verletzungen, die eine langfristige Therapie erfordern. Die Flucht vor dem Krieg geht oft mit einer posttraumatischen Belastungsstörung einher. Einige dieser Migranten und Migrantinnen aus der Ukraine werden dauerhaft in der Schweiz bleiben. Wir sollten also nicht nur die ­Türen unserer Spitäler, Arztpraxen und Privathäuser öffnen, sondern auch und vor allem unsere Ohren und unsere Herzen. Dies ist zwar kein Ersatz für eine medizinische Behandlung, kann aber eine erste Linderung für die Geflüchteten bewirken, unabhängig davon, ob sie aus der Ukraine, Afghanistan, Syrien, dem Irak oder dem Sudan stammen.