Charta Ärztegesundheit – Hintergrundpapier

Gesunde Ärztinnen und Ärzte für gesunde Patientinnen und Patienten

FMH
Ausgabe
2022/20
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20742
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(20):663-668

Affiliations
a Wissenschaftlicher Mitarbeiter Abteilung Public Health; b Dr. med., Mitglied des FMH-Zentralvorstandes, Departementsverantwortlicher Public Health und Gesundheitsberufe; c Abteilungsleiterin Public Health, Gesundheitsberufe und Heilmittel

Publiziert am 17.05.2022

Ein Grossteil der praktizierenden Ärztinnen und Ärzte sieht sich mit grossem Zeit- und Leistungsdruck konfrontiert. Die Gesundheit der Ärztinnen und Ärzte kommt dabei oft zu kurz. Woran das liegt – und was sich ändern sollte.
Ausgangslage: Ärztinnen und Ärzte kümmern sich Tag für Tag mit Hingabe und Einsatz um das Wohl ihrer ­Patientinnen und Patienten. Dies gelingt umso besser, je gesünder Ärztinnen und Ärzte selbst sind. Der Alltag zeigt jedoch ein anderes Bild: Hoher Leistungsdruck, lange Arbeitstage und grosse emotionale Belastung fordern ihren Tribut. So stimmten 77% der Spitalärztinnen und -ärzte beispielsweise im Jahr 2020 der Aussage sehr oder eher zu, dass sie andauernd unter hohem Leistungsdruck stehen. 70% der Spitalärztinnen und -ärzte stehen gemäss ihrer Einschätzung stets unter hohem Zeitdruck [1]. Das Basiswissen für einen bewussten Umgang mit der eigenen Gesundheit und ein vernünftiges Verhalten im Falle einer Krankheit wird den Patientinnen und Patienten mitgegeben, jedoch durch Ärztinnen und Ärzte selbst kaum angewendet.
Usman Yousaf / Unsplash
Allgemein anerkannt ist der Zusammenhang zwischen beruflicher Belastung, Stress und Krankheit. Forschungsgruppen befassen sich mit arbeitsmedizi­nischen Fragestellungen und versuchen, Arbeitsbe­dingungen zum Wohl der Arbeitnehmenden zu verbessern. Das Hauptaugenmerk gilt dabei meistens körperlich belastenden Arbeiten und deren Folgen. Die ärztlichen Arbeitsbedingungen scheinen jedoch oftmals ausserhalb des Forschungsinteresses zu sein. Die Arbeitsbedingungen der Ärzteschaft haben in den letzten Jahren einen erheblichen Wandel erfahren: Besonders die administrativen Tätigkeiten haben in allen Bereichen stark zugenommen. Die ärztliche Tätigkeit weist inhärente Stressoren auf: lange Arbeitstage, zeitliche Limitationen, hohe Erwartungen der Patientinnen und Patienten, steigender bürokratischer Aufwand sind nur einige davon. Diese Belastungen führen bei Ärztinnen und Ärzten zu einer zum Vergleich mit der Allgemeinbevölkerung erhöhten Rate an Depressionen, emotionaler und beruflicher Erschöpfung. Ebenfalls weisen z.B. Assistenzärztinnen und Assistenzärzte eine hohe Rate an Drop-outs, Suchterkrankungen und allgemeinen psychischen Erkrankungen sowie eine erhöhte Suizidrate auf. Junge Ärztinnen und Ärzte sehen sich erst nach Abschluss des Studiums mit diesen Problemen konfrontiert. Auf die tatsächlichen Aufgaben im klinischen Alltag werden die Studentinnen und Studenten während des Studiums zu wenig vorbereitet. Auch der Umgang mit belastenden Situa­tionen und hohen Ansprüchen sind kaum Teil des Curriculums und liegen häufig zu stark in der Eigenverantwortung der jungen Ärztinnen und Ärzte.
Die Ursachen dieser Problematik liegen einerseits in der technischen Entwicklung der heutigen Gesellschaft: Informationen sind frei und leicht zu beschaffen, Patientinnen und Patienten sind informiert. Der Anspruch an die effektivste und effizienteste Behandlung ist präsent wie selten zuvor. Fehlinformationen und Anekdoten-Evidenz aus dem Internet oder aus dem Umfeld der Patientinnen und Patienten führen vermehrt zu Diskussionen zwischen Hilfesuchendem und Therapeut. Andererseits sind die Arbeitsbedingungen der Ärztinnen und Ärzte seit Jahren von langen Schichten, Konkurrenzkampf und Leistungsdruck geprägt. Geltende gesetzliche Rahmenbedingungen werden zum Teil durch Arbeitgeber zuungunsten der Ärztinnen und Ärzte ausgeschöpft oder gar nicht eingehalten; eine oftmals vorhandene Bereitschaft zur Selbstausbeutung seitens Ärzteschaft trägt ebenfalls dazu bei. Anlaufstellen für Beschwerden sind zeitweilen inexistent oder nicht anonym. Zusätzlich werden der soziale Austausch und die Freizeitgestaltung durch die Arbeitsbedingungen negativ beeinflusst. Zeit für Freunde und Familie wird zugunsten der Karriere ­geopfert.
Die Corona-Pandemie brachte den Missstand zwischen hoher Belastung und geringem Ausgleich für alle im Gesundheitswesen beschäftigten Personen in aller Deutlichkeit ans Tageslicht. Die beobachtete hohe Belastung für das Gesundheitspersonal, das Fehlen sozialer Kontakte und Freizeitausgleich waren keine Folgen der Pandemie, sondern die Verstärkung einer bereits bestehenden Problematik. Dass Ärztinnen und Ärzte in dieser Zeit besonderer Belastung ausgesetzt waren, erstaunt nicht: Sie tragen im klinischen Alltag die medizinisch-rechtliche Verantwortung für das Wohlergehen der Patientinnen und Patienten, sie entscheiden gemeinsam mit den Betroffenen über die Behandlung und erledigen zusätzlich eine Fülle von administra­tiven Aufgaben. Die hohe Auslastung der Notfallstationen während der ersten und zweiten Corona-Welle brachte das Gesundheitssystem in der Schweiz und ­damit die Ärztinnen und Ärzte an die Grenze der Belastbarkeit. Die Auslastung durch Behandlung, Überwachung, Beratung, Impfung und Forschung während der Pandemie verunmöglichte es vielen Ärztinnen und Ärzten, soziale Kontakte zu pflegen und der eigenen Gesundheit Sorge zu tragen.
Dass sich solche hohen Belastungen negativ auf die ­Gesundheit auswirken, ist wissenschaftlich erwiesen und nachvollziehbar. Nur eine nachhaltig gesunde Ärzteschaft kann die Anforderungen und Heraus­forderungen des modernen Alltages bewältigen. Die Gesundheit von allen Ärztinnen und Ärzten ist wichtig, und es gilt, das berufliche und private Gleichgewicht und die Lebensqualität der Ärztinnen und Ärzte heute und in Zukunft zu stärken. Die Corona-Pandemie hat die Wichtigkeit einer starken Ärzteschaft deutlich gezeigt. Der unermüdliche Einsatz der Ärzteschaft sowie sämtlicher weiterer Gesundheitsberufe ermöglicht die erfolgreiche Bewältigung dieser Krise. Sie zeigt jedoch auch deutlich die Schwierigkeiten und Belastungen, mit denen Ärztinnen und Ärzte tagtäglich umgehen müssen. Lange Arbeitstage, kaum soziale Kontakte und Ausgleichsmöglichkeiten in der Freizeit belasten die Gesundheit der Ärztinnen und Ärzte aus­serordentlich. Wir tragen die Verantwortung dafür, dass unsere Ärztinnen und Ärzte sowohl während als auch nach der Pandemie gesund bleiben. Deshalb ist es an der Zeit zu handeln.

Die Argumente

– Gesunde Ärztinnen und Ärzte sind eine notwendige Voraussetzung für die optimale und quali­tativ hochstehende Patientenversorgung.
Die qualitativ hochwertige Versorgung von Patien­tinnen und Patienten steht in Abhängigkeit zur Gesundheit und Ausgeglichenheit der behandelnden ­Ärztinnen und Ärzte [2]. Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit sind stark von der psychischen Belastbarkeit abhängig. Ist diese durch chronischen Stress reduziert, leidet auch die Behandlungsqualität. Verschiedene Untersuchungen konnten zeigen, dass das Auftreten medizinischer Fehler bei psychisch belasteten Ärztinnen und Ärzten höher ist [3–5]. Es muss im Interesse der Arbeitgeber, der Patientinnen und Patienten, der Gesamtgesellschaft wie auch der Ärzteschaft selbst sein, gesunde Ärztinnen und Ärzte zu beschäftigen. Nur so können effektivere und effizientere Behandlungen erfolgen, Kosten gesenkt und Fehler vermieden werden. Gesunde Ärztinnen und Ärzte erfüllen dazu eine wesentliche Vorbildfunktion für ihre Patienten, die Medizinstudenten, Assistenzärztinnen und Assistenzärzte: die nachhaltige Weitergabe von gesundheitsförderndem Verhalten erfolgt nur, wenn Ärztinnen und Ärzte sich selbst gesund verhalten [6, 7]. Gesunde Ärztinnen und Ärzte sind produktiver und verbessern die Arbeitsgrundlage sowohl im stationären wie auch im ambulanten Setting. Ein gesunder Arzt ist somit entscheidend für die Effekti­vität des interprofessionellen Behandlungsteams. Dies ist die Basis einer qualitätsgesicherten Patienten­fürsorge [8].
– Die Rahmenbedingungen des medizinischen ­Alltags sind der Gesundheit von Ärztinnen und Ärzten nicht zuträglich.
Ärztinnen und Ärzte gehen bis an und teilweise weit über ihre Belastungsgrenzen hinaus, um die Patientenversorgung sicherzustellen. Eine Schweizer Querschnittstudie an Spitälern zeigt, dass 70% der Ärzteschaft hohem emotionalem Stress ausgesetzt sind, dass mehr als ein Drittel der befragten Ärztinnen und Ärzte regelmässig Überzeit von sechs Stunden und mehr in der Woche leistet und dass rund 86% der Ärztinnen und Ärzte keine ausreichende Work-Life-Balance haben [9, 10]. Dieses Ungleichgewicht zwischen hoher ­Belastung und mangelhafter Erholung schadet sowohl der psychischen als auch der physischen Gesundheit der Ärztinnen und Ärzte. Die dadurch entstehende psychosoziale Belastung steht in Zusammenhang mit verschiedenen psychischen und physischen Krankheitsbildern [11]. Die Funktion des Immunsystems steht ebenfalls in Zusammenhang mit psychosozialer Belastung [12]. Wir müssen verhindern, dass die Ärztinnen und Ärzte aufgrund der hohen Arbeitsbelastung ­erkranken oder Schaden davontragen.
– Ärztinnen und Ärzte sind mit hohen Erwartungen konfrontiert und stellen ebenso hohe Erwartungen an sich.
Von Ärztinnen und Ärzten wird erwartet, dass sie in ihrem Fachgebiet alles wissen, keine Fehler machen und allen Anspruchsgruppen im Gesundheitswesen gerecht werden. Die Anforderungen an das medizi­nische Fachwissen sind in den letzten Jahren enorm gestiegen. Das stark erhöhte Publikationsvolumen [13] im medizinischen Bereich macht es zunehmend schwerer, über den aktuellen Stand der Forschung informiert zu bleiben. Die Anpassung von klinischen Guidelines und das kritische Hinterfragen von Behandlungsmethoden tragen zusätzlich zu dieser Pro­blematik bei. Die Forderung nach Bestleistung in der medizinischen Betreuung lässt sich nur schwer mit den Herausforderungen der heutigen Wissensflut in Einklang bringen. Die hohen Ansprüche werden nicht nur seitens der Patientinnen und Patienten laut, auch Politik und Medien bringen den Ärztinnen und Ärzten grosse Aufmerksamkeit und damit auch Kritik ent­gegen. Die Verwendung von Medikamenten und Behandlungsmethoden, entstehende Kosten und Folgen werden kritisch hinterfragt, und individuelle Entscheidungen von Ärztinnen und Ärzten werden auf die Goldwaage gelegt. Zusätzlich wird von Ärztinnen und Ärzten erwartet, dass sie Höchstleistungen in Forschung und Lehre erbringen, um intakte Karrierechancen zu haben. Diese Forschungsaktivitäten sind nicht selten eine Beschäftigung, die zusätzlich zur klinischen Tätigkeit ausgeübt wird. Gleichzeitig werden im privaten Bereich die Werte verfolgt, Beziehungen zu pflegen, eventuell Kinder grosszuziehen und eigene Hobbys zu pflegen. Diese hohen Erwartungen, die Ärztinnen und Ärzte an sich selber stellen bzw. die an sie gestellt werden, sind einer der Gründe für den schwierigen Umgang mit der eigenen Gesundheit [14].
– Ärztinnen und Ärzte haben ein grösseres Risiko, unter gesundheitlichen Problemen zu leiden, als die Gesamtbevölkerung.
Die Arbeitsbelastung und deren Folgen für die Gesundheit sind im medizinischen Umfeld gut erforscht. Es gibt diverse Belege für den Zusammenhang zwischen Belastung am Arbeitsplatz und Suchtverhalten, Depression oder Burnout [15–17]. Der Arztberuf bringt inhärente Stressoren mit sich, welche sich auf die Gesundheit und Zufriedenheit der Ärztinnen und Ärzte auswirken. Die Schweizer Querschnittstudie an Spitälern zeigt, dass das Risiko, an Burnout zu erkranken, bei Ärztinnen und Ärzten höher liegt als bei anderen ­untersuchten Gesundheitsfachpersonen [9]. Daten des Bundesamtes für Statistik BFS zeigen, dass Ärztinnen und Ärzte eine 3- bis 6-mal höhere Suizidrate haben als die Gesamtbevölkerung. In internationalen Studien wird dieses erhöhte Risiko bestätigt. Ärzte weisen eine 1,3- bis 3,4-mal höhere Suizidgefährdung auf, Ärztinnen ein 2,5- bis 5,7-mal höheres Risiko [18].
– Ärztinnen und Ärzte sind es nicht gewohnt, Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Werden Ärztinnen und Ärzte krank, gehen sie oft nachlässig mit ihrer Genesung um. Studien zeigen auch, dass Ärztinnen und Ärzte mit Erkrankungen zur Arbeit kommen, die für sie Anlass wären, ihren eigenen Patientinnen und Patienten ein Arbeitsunfähigkeits-Zeugnis auszustellen [19]. Zusätzlich fällt es Ärztinnen und Ärzten schwer, sich untersuchen zu lassen, und sie behandeln sich oft selbst, denn sie können sich nur schwer mit der Patientenrolle identifizieren [20]. Dieser Umstand ist international bekannt. Die Welt­gesundheitsorganisation hat aus diesem Grund das Genfer Gelöbnis angepasst, damit Ärztinnen und Ärzten die Sorge um die eigene Gesundheit bewusster gemacht werden kann [21]. Der Rollenkonflikt, der ent­stehen kann, wenn der Arzt plötzlich Patient wird, führt zu zusätzlichen innerpersonellen Spannungen.
– Boundary Management ist eine zentrale Kompetenz für die Ausübung des ärztlichen Berufs.
Im Artikel 15 der Standesordnung der FMH ist fest­gehalten, dass Ärztinnen und Ärzte sich der Grenzen ihrer Fähigkeiten und Möglichkeiten bewusst sein müssen. Ärztinnen und Ärzte sind ausgewiesene Experten im Gesundheitswesen, meistens jedoch in einem spezifischen Fachbereich. Die Abgabe von Empfehlungen und Behandlungsanweisungen ausserhalb des eigenen Fachbereichs ist auch für Ärztinnen und Ärzte nicht möglich. Dies macht die Zusammenarbeit mit anderen Fachbereichen und Berufsgruppen un­umgänglich. Akzeptanz und Einhaltung der eigenen Kompetenzen sind Zeichen von Kompetenz und professionellem Handeln. Des Weiteren ist im Behandlungsgrundsatz der Standesordnung der FMH (Art. 4) festgehalten, dass jede medizinische Behandlung unter der Wahrung der Menschenwürde und Achtung der Persönlichkeit, des Willens und der Rechte der Patientinnen und Patienten zu erfolgen hat. Entscheidungen zur Gesundheit der Patientinnen und Patienten haben, wenn immer möglich und angebracht, gemeinsam mit den Patienten zu erfolgen. Ärztinnen und Ärzte müssen aber nicht nur gegenüber ihren Patientinnen und Patienten Grenzen setzen und einhalten. Auch am ­Arbeitsplatz und innerhalb des interprofessionellen Teams dürfen und müssen Grenzen respektiert und gewahrt werden.
– Arbeitgeber, Studien-, Weiter- und Fortbildungsstätten sind verpflichtet, die Gesundheit der Studierenden und Arbeitnehmenden zu wahren.
Die eigene Gesundheit ist für Ärztinnen und Ärzte genauso Pflicht und Recht. Für die eigene Gesundheit einzustehen sollte nicht als elitärer Wunsch eingestuft werden, sondern als Zeichen von Kompetenz. Die eigenen Bedürfnisse reflektieren zu können und die korrekte Interpretation von Krankheitszeichen am eigenen Leib sind notwendig, um für die eigene Gesundheit einstehen zu können. Das Erlernen dieser Fähigkeiten bereits bei Beginn der Ausbildung würde den Umgang mit den eigenen Bedürfnissen nachhaltig positiv verändern. Reflexionsfähigkeit und Analyse des eigenen Gesundheitszustandes sind Qualitäten, die auch an ­Patientinnen und Patienten weitergegeben werden können. Das Genfer Gelöbnis wurde im Oktober 2017 aktualisiert [22] und verpflichtet Ärztinnen und Ärzte, zur eigenen Gesundheit Sorge zu tragen. Sie werden verpflichtet, ihre eigene Gesundheit nicht hinter die Gesundheit der Patientinnen und Patienten zu stellen, damit sie ihrer Versorgungsaufgabe langfristig gerecht werden können. In der Schweiz ist der Gesundheitsschutz zudem auch rechtlich verankert. So muss der Arbeitgeber «alle Anordnungen erteilen und alle Massnahmen treffen, die nötig sind, um den Schutz der physischen und psychischen Gesundheit zu wahren und zu verbessern» [23].
– Führungspersonen und Teammitglieder sind entscheidende Gesundheitsfaktoren für Ärztinnen und Ärzte.
Gemeinschaft und soziale Interaktionen haben einen grossen Einfluss auf die Mitarbeitenden und sind deshalb individuelle Ressourcen zur Förderung der Gesundheit. Die Unterstützung durch das interdisziplinäre Team und Berufskollegen ist ebenso zentral wie unterstützende Führungskräfte, welche gesundheitsförderliche und auf Beziehung beruhende Führung ­anwenden. Deshalb ist es zentral, aktuelle Führungsstrukturen und -kulturen zu überarbeiten [24]. Die starre Hierarchie und säulenartige Führung von oben ist nicht mehr zeitgemäss. Neben der Führungskultur bedarf es einer offenen und anerkennenden Kommunikationskultur sowohl innerhalb der Ärzteschaft als auch im Umgang mit anderen Professionen. Wer unter Stress und Zeitdruck Entscheidungen trifft, macht Fehler. Diese Fehler offen anzunehmen und konstruktiv an­zugehen hilft, dem Druck besser standhalten zu können. Das Teilen solcher Erfahrungen mit anderen kann helfen, diese in Zukunft zu vermeiden und die persön­liche Last zu verringern.
– Strukturierte und systematisch umgesetzte Interprofessionalität kann entlastend wirken.
In interprofessionellen Teams arbeiten Personen aus unterschiedlichen Berufen so miteinander, dass in ­einer bestimmten Situation jeweils diejenige Person die Verantwortung übernimmt, die am besten dafür geeignet ist. Solche Teams kennen die Kompetenzen ihrer Teammitglieder sehr gut und können ihre Aufgaben optimal koordinieren. Fehlbehandlungen können so reduziert, Spitalaufenthalte verkürzt oder die Zahl der Nachkonsultationen verringert werden. Die Gestaltung der interprofessionellen Zusammenarbeit beeinflusst die Zufriedenheit am Arbeitsplatz aller Medizinal- und Gesundheitsberufe [25, 26]. Interprofessionelle Teams sind nicht strikt hierarchisch aufgebaut, sondern jede Person kann Verantwortung übernehmen. Dies wirkt sich positiv auf die Zufriedenheit am Arbeitsplatz und die Verweildauer im Beruf aus [27].
– Die Studierenden werden nicht ausreichend auf den Übertritt vom Studium in den Berufsalltag vorbereitet.
Der Übertritt aus dem Studium in den Berufsalltag ­gestaltet sich für viele Studierende schwierig. Trotz der deutlichen Verbesserung der praktischen Ausrichtung von Studiengängen an den Fakultäten in den letzten Jahren [28] fühlen sich viele Studierende weiterhin ­ungenügend auf den klinischen Alltag vorbereitet. Die hohen Anforderungen und Erwartungen an junge Ärztinnen und Ärzte treffen ohne Vorwarnung auf die Berufseinsteigenden: Lange Arbeitstage, hohe Verfügbarkeit, grosser administrativer Aufwand, hierarchische Strukturen sind nur einige der Herausforderungen, welchen sich die jungen Ärztinnen und Ärzte stellen müssen. Es ist unbedingt notwendig, die Studierenden besser auf den Übertritt vom Studium in den Berufsalltag vorzubereiten. Dadurch wird der Umgang der Studierenden mit den Herausforderungen des klinischen Alltages verbessert, und weniger junge Ärztinnen und Ärzte erwägen einen frühen Austritt aus dem Beruf. Dies dient langfristig der Gesundheit des Einzelnen und auch beugt es dem Mangel an Fachkräften vor.
– Politik, Arbeitgebende und Bildungsinstitutionen sind mitverantwortlich für die Erhaltung der Gesundheit von Ärztinnen und Ärzten.
Der Arbeitnehmerschutz in der Schweiz ist über das Bundesgesetz über die Unfallversicherung UVG und über das Bundesgesetz über die Arbeit in Industrie, Gewerbe und Handel (ArG) gewährleistet. Laut Art. 2 der Verordnung 3 zum Arbeitsgesetz vom 18. August 1993 (ArGV 3, SR 822.113) muss der Arbeitgeber «alle An­ordnungen erteilen und alle Massnahmen treffen, die ­nötig sind, um den Schutz der physischen und psychischen Gesundheit zu wahren und zu verbessern.» Der Arbeitgeber muss auch dafür sorgen, dass «die Arbeit geeignet organisiert wird» (Art. 2, ArGV 3, SR 822.113). Gemäss diesem Grundsatz ist der Arbeitgeber verantwortlich dafür, dass die Arbeitnehmenden nach der Arbeit ebenso gesund sind, wie sie es vor der Arbeit ­waren. Diesem Grundsatz entsprechende Strukturen und Angebote sind ebenfalls seitens Politik und Bildungsinstitutionen zu fördern.
– Hilfe kann nur annehmen, wer auch Hilfe erhält.
Die Annahme von Hilfe ist für viele Ärztinnen und Ärzte ein Zeichen von Schwäche und mit Scham be­haftet [29]. Der Fokus auf die eigene Gesundheit ab ­Studienbeginn sowie die Schaffung von strukturellen Angeboten, wie niederschwelligen Anlaufstellen und Unterstützungsangeboten, tragen dazu bei, dass Ärztinnen und Ärzte trotz Belastungen und Herausforderungen gesund bleiben. Um adäquate Angebote zu schaffen, ist es zentral, dass die Angebote auf den Bedarf und die Bedürfnisse der Ärztinnen und Ärzte abgestimmt sind und frei von Stigmatisierung sind. Themen psychischer und physischer Gesundheit müssen von Ärztinnen und Ärzten untereinander gleich behandelt werden wie im Kontakt mit Patientinnen und Patienten.
Charta

Gesunde Ärztinnen und Ärzte für gesunde Patientinnen und Patienten

Die Forderungen

 1. Für eine optimale Betreuung und Behandlung der Patientinnen und Patienten braucht es gesunde Ärztinnen und Ärzte.
 2. Die Gesundheit von Ärztinnen und Ärzten ist entscheidend für eine hohe Qualität ihrer Arbeit. Es liegt im gesamtgesellschaftlichen Interesse, ihre Gesundheit zu erhalten.
 3. Das Wohlbefinden der Ärztinnen und Ärzte und das Wohlergehen aller anderen Team-Mitglieder hängen voneinander ab.
 4. Die Selbstfürsorge und Selbstregulation wird von Beginn des Studiums bis zur Pensionierung prak­tiziert und gefördert.
 5. Die physische und psychische Gesundheit von Ärztinnen und Ärzten hat eine hohe gesellschafts­politische, akademische und unternehmerische Priorität.
 6. Die psychosoziale Belastung, die von Ärztinnen und Ärzten getragen wird, muss anerkannt, adressiert, erforscht und thematisiert werden.
 7. Ein ausgeglichenes Privat- und Berufsleben muss gefordert, gefördert und respektiert werden. Dies gilt sowohl in der Aus- und Weiterbildung als auch im Berufsalltag und bei Karrierechancen.
 8. Die Gesundheit von Ärztinnen und Ärzten zu schützen, zu bewahren und zu fördern liegt in der Mitverantwortung von politischen, akademischen und beruflichen Institutionen.
 9. Respekt und Toleranz sind fundamentale Werte in der Aus- und Weiterbildung sowie während der ­gesamten beruflichen Tätigkeit. Eine offene Kommunikationskultur, das Bewusstsein für Probleme in Zusammenhang mit Abhängigkeiten, Diskriminierungen oder Belästigungen muss gefördert werden.
10. Die Rahmen-, Vertrags- und Arbeitsbedingungen während Studium und Berufstätigkeit müssen die Gesundheit der Ärztinnen und Ärzte schützen. Arbeitgeber, Aus- und Weiterbildungsstätten halten sich an die geltenden Rechtsgrundlagen.
11. Die Zeit, die aus gesetzlichen und reglementarischen Gründen für die Aus-, Weiter- und Fort­bildung aufgewendet wird, gilt als Arbeitszeit (z.B. Ultraschallkurs).
12. Die geltenden gesetzlichen Grundlagen müssen während der Aus- und Weiterbildung und des Berufslebens eingehalten werden. Dazu gehören z.B. die Bestimmungen zu Arbeitszeit, Gesundheitsschutz und Fürsorgepflicht.
13. Leadership muss befähigend, respektvoll und fürsorglich sein. Es ist eine wichtige Voraussetzung, um die Gesundheit der Ärztinnen und Ärzte zu ­erhalten und zu fördern. Wertschätzendes Leadership kann erlernt werden.
14. Strukturierte interprofessionelle Teamarbeit hilft, die emotionale und fachliche Belastung zu verteilen. Gemeinsame Verantwortung trägt zur Erhaltung der Gesundheit und des Wohlbefindens von Ärztinnen, Ärzten und Teams bei. Sie muss ge­fördert und systematisch in die Arbeitsorganisation integriert werden.
Die Charta «Ärztegesundheit – gesunde Ärztinnen und Ärzte für gesunde Patientinnen und Patienten» wurde von der ­Arbeitsgruppe Prevention for Doctors erarbeitet.
Vertretene Verbände:
• Junge Haus- und KinderärztInnen Schweiz JHaS
• Haus- und Kinderärzte Schweiz mfe
• Unterstützungsnetzwerk für Ärztinnen und Ärzte Remed
• Schweizerische Gesellschaft für Arbeitsmedizin SGARM
und Swiss Public Health Doctors SPHD
• Schweizerisches Institut für ärztliche Weiter- und Fortbildung SIWF
• Swiss Medical Students Association swimsa
• Verband Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte VSAO
Vertretene Abteilungen der FMH:
• Abteilung Berufsentwicklung FMH
• Abteilung Daten, Demographie und Qualität FMH
• Abteilung Public Health FMH
• Abteilung Stationäre Tarife FMH
Robin.rieser[at]fmh.ch
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