Zur Geschichte der Einwegspritze

Emotionale Injektionen

Tribüne
Ausgabe
2022/19
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20743
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(19):646-647

Affiliations
Prof. Dr. rer. soc., Redaktor Kultur, Geschichte, Gesellschaft

Publiziert am 10.05.2022

Einweg emotionalisiert. Ein chirurgischer Wegwerf-Nadelhalter aus Edelmetall etwa wurde auf dem letztjährigen deutschen Ärztetag zum Symbol für die «unglaubliche Ressourcenverschwendung» im Gesundheitswesen gemacht. Das Thema boomt. Ein Blick auf die Geschichte der Einwegspritze zeigt allerdings, dass Nachhaltigkeit auch bei «Wegwerfprodukten» in ein Netz unterschiedlicher Ziele und Werte eingebunden ist.
Die Begrifflichkeit, die heute im Umfeld von Einwegprodukten verwendet wird, spricht eine eindeutig abwertende Sprache: Abfall, Plastik, Wegwerfmentalität oder Bequemlichkeit. Auch hinter dem Ersatz der nach jedem Gebrauch zu sterilisierenden Glas- und Metallspritzen durch Einwegmodelle in den 1950er und 1960er Jahren wird heute oft «Bequemlichkeit» als Hauptgrund gesehen. Wie gewöhnlich bei Innovationen kamen hier jedoch viele Gründe zusammen.

Hygienisch und praktisch

Zunächst wirkte das Zeitalter therapeutischer Injektionen, von Antibiotika wie Penicillin über Hormone wie Insulin bis zu weltweiten Impfkampagnen, z.B. gegen Polio. Sie erforderten eine flexible, massenhafte Verfügbarkeit von Injektionsgeräten. Hinzu kam die boomende Transfusionsmedizin. «Einweg», beginnend mit Pappbechern als «Gesundheitsgeschirr» in den 1870er Jahren, war auch ein Kind des aufkommenden, umfassenden Hygienegedankens. Mit «Einweg» versprach und verspricht man sich einen effizienteren Schutz vor Krankheitsübertragung. Natürlich waren die praktischen Einmalprodukte auch einfacher zu handhaben, effizienter und somit arbeitsökonomischer. Das galt entsprechend für die anderen Einwegprodukte im Spital wie Masken, Handschuhe oder ­operative Instrumente. Und nicht zuletzt war und ist Einweg auch ein gewisser Schutz vor körperlichem Ekel im Gesundheitswesen.
Auch im Haushalt hielten Feuerzeuge, Kugelschreiber oder Rasierer «zum Wegwerfen» Einzug. Im aufkommenden Konsumkapitalismus galt Abfall noch nicht als ökologisches Problem. Doch bereits in den 1960er Jahren gab es eine ernsthafte Besorgnis speziell um den Spritzenabfall. Allerdings aus Gründen gesundheitlicher Sicherheit. Spezielle Entsorgungsrichtlinien sollten dafür sorgen, dass die Spritzen mit den scharfen Nadeln nicht in die Hände von spielenden Kindern, Abfallentsorgenden und Drogenabhängigen gelangten.

Von Glas zu Synthetik

Immer wieder wird der neuseeländische Erfinder Colin Murdoch (1929–2008) als Vater der (Plastik-)Einwegspritze bezeichnet. Er soll auch das Betäubungsgewehr erfunden haben. Sein Patent stammt von 1956. Doch wenn man genauer hinsieht, war die Innovation zu diesem Zeitpunkt schon viele Male entwickelt worden.
Als Vorläufer der Einwegspritze war schon während des Zweiten Weltkriegs unter dem Namen «Syrette» eine Art Tube mit Nadel der Firma Squibb u.a. zur schnellen Morphin- oder Atropinabgabe (wegen gefürchteter Giftgasangriffe) auf dem US-Markt. 1943 wurde von der damaligen Firma Wyeth unter dem ­Namen «Tubex» ein Einweg-Glasampullen-Nadel-Kassettensystem in einer wiederverwendbaren Halterung entwickelt.
Der aus Österreich nach Australien emigrierte Charles Rothauser (1913–1997) war eigentlich Produzent von Spielpuppen aus Synthetik-Material. 1948 stellte er in Adelaide die erste Injektionsspritze aus undurchsich­tigem Polyethylen, später Polypropylen her, offenbar weil sich das Penicillin gerne am Glaszylinder festsetzte und dies die Reinigung erschwerte (Abb. 1). Zum Schutz vor Hepatitis-Übertragungen anästhesierte das Serum Center des Michael Reese Hospital (Chicago) bereits 1950 vor Blutabnahmen die Haut mit selbst gebauten Einmal-Injektions-Vorrichtungen aus Gummi und Metall und präsentierte seine Technik stolz im Journal of the American Medical Association.
Abbildung 1: Einwegspritze aus Kunststoff designed von Harry Whillis und Charles Rothauser, 1949 (© Collection: Museum of Applied Arts and Sciences. Gift of Charles Rothauser AO. Photographer Marinco Kojdanovski).
Die industrielle Grossproduktion, zunächst mit einem Glaszylinder, begann Mitte der 1950er Jahre. Etwa 1954 mit der ersten Glaseinwegspritze von Becton Dickinson für Polio-Massenimpfungen. Ihr Name war «Hypak» bzw. «Discardit». To discard bedeutet u.a. «wegwerfen». 1955 brachte die Firma Roehr, heute Cardinal Health, unter dem Namen «Monoject» eine Einmal-Kunststoff­spritze heraus. «Plastipak» von Becton Dickinson kam als Massenprodukt 1961 auf den US-Markt. In Europa brachte die deutsche Firma B. Braun 1962 die Kunststoff-«Braunüle» für Dauerinfusionen heraus.
Die sich entwickelnde Synthetik-Technologie beschleunigte alles. Die Standardmaterialien Polystyrol, Polypropylen oder Polyethylen (PS, PP, PE) verdrängten Glas und Metall für den Zylinder, den Kolben und den Kanülensockel vollständig. Sie waren weniger bruchanfällig als Glas und wurden zunehmend mit Reinheit gleichgesetzt.
In den 1960er Jahren breiteten sich die steril abgepackten Einwegspritzen rasant aus und wurden zum Standard und Symbol für moderne Medizin. Der britische National Health Service gab 1965 Einmalspritzen kistenweise und umsonst an die Hausärzteschaft ab. Weltweite Immunisierungskampagnen taten das ihre dazu.

Sicherheit vs. Nachhaltigkeit

Die Kritik am Einweg im Gesundheitswesen entwickelte sich nur langsam. Das Deutsche Ärzteblatt zum Beispiel berichtete zwar schon um 1970 allgemein über Themen des neueren «Umweltschutzes». Ein kritischer Bericht über Einwegprodukte sowie Abfallvermeidung im Spital ist allerdings erst 1990 nachweisbar.
Richtig aufgeflammt ist die Nachhaltigkeits-Debatte dann in den letzten Jahren mit dem Ziel, auf die öko­logischen Folgen der Einweg-Praktiken aufmerksam zu machen: dass sie nicht nur Abfall produzieren, sondern auch Rohstoffe und Energie verbrauchen würden und die Produkte teilweise unter katastrophalen Arbeits­bedingungen hergestellt würden. Aktuell kam noch das Argument instabiler globaler Lieferketten hinzu. Gleichzeitig formiert sich neuerdings eine Kritik an strengen Sterilisierungs-Regulatorien für den Mehrweg-Gebrauch, etwa in kleinen Arztpraxen.
Dass die praktische Anwendung von Mehrweg-Systemen gerade im Gesundheitsbereich allerdings weniger verbreitet ist, mag daran liegen, dass die ökologische Argumentation gerade im Gesundheitsbereich in einer harten Konkurrenz mit jenem Argumentationsgang stand und steht, der sich mindestens genauso gut dramatisch darstellen lässt: die gesundheitliche Sicherheit. Insbesondere in Zeiten infektiöser Herausforderungen war und ist dies der Fall. Nicht nur in den letzten beiden Corona-Jahren führte die Infektionsangst zu einem Einweg-Boom. Bereits in der Aids-Ära wurde speziell die Einwegspritze eher als Rettung denn als ökologisches Problem betrachtet. Der genannte ­Colin Murdoch behauptete 1993 sogar, ohne seine Erfindung hätten sich womöglich 30 bis 40 Prozent der Weltbevölkerung mit HIV infiziert.
Die Einwegspritze wird in Zukunft wohl auch in nachhaltigen Spitälern anzutreffen sein. Ihr Versprechen von Sicherheit und Praktikabilität wird stärker sein als der schlechte Ruf des Plastikabfalls. Anders ist das vermutlich beim metallenen Wegwerf-Nadelhalter. Ein Nachhaltigkeits-Vorschlag lautet, ihn nicht mehr aus Edelmetall herzustellen, sondern − aus Plastik.

Schwerpunktserie Nachhaltigkeit im ­Gesundheitswesen

Der Klimawandel ist eine weltweite Herausforderung. Auch das Schweizer Gesundheitswesen kann seinen Beitrag dazu leisten, ihm zu begegnen. In einer Serie betrachten wir das Thema aus verschiedenen Perspektiven.
Einzelnachweise und Literatur beim Verfasser.