Meine Beraterin, die Vergangenheit

Zu guter Letzt
Ausgabe
2022/19
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20744
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(19):658

Affiliations
Stellvertretende Chefredaktorin der Schweizerischen Ärztezeitung

Publiziert am 10.05.2022

Was denken Sie, wenn Sie das Wort «Zukunft» hören? Und was, wenn Sie «Vergangenheit» hören? Vielleicht geht es Ihnen wie mir: Zukunft verbinde ich mit Aufbruchsstimmung, Planungen, Innovationen. Wird von uns allen nicht gefordert, vor allem die Zukunft im Blick zu haben, sie zu gestalten – und neuen Entwicklungen bloss nicht hinterherzuhinken?
Wenn ich an das Wort «Vergangenheit» denke, ist mein erster Impuls: Hier geht es um etwas Verstaubtes und Überwundenes. «Lass die Vergangenheit ruhen», sagt man. Vergangenheit klingt irgendwie irrelevant, nach Pferdekutschen statt Elektroautos oder Aderlass statt wirkungsvoller Therapie. Nach völlig überholten Konzepten. Der Blick soll nach vorn gerichtet sein. Bloss nicht zurück. Aber warum eigentlich?
Zum Glück folge ich meinem ersten Impuls nicht immer und sage daher: Wir sollten öfter zurückschauen. Denn nur durch den Blick in die Vergangenheit können wir die Gegenwart verstehen und die Zukunft ­gestalten. Mir fällt kein Lebensbereich ein, für den diese Erkenntnis nicht gelten würde. Ein Beispiel aus dem Privatleben, das vielen bekannt ­vorkommen dürfte: In einem Interview für einen Artikel riet mir eine Kinderpsychologin einmal, mich ­daraufhin zu beobachten, wie ich in Stresssituationen mit meinen Kindern umgehe. Denn dann erhöhe sich die Wahrscheinlichkeit, dass ich die nicht immer ganz optimalen Erziehungsmethoden meiner eigenen Eltern anwende. Ein gezielter Blick zurück kann also in solch einer Si­tuation helfen, die Gegenwart zu verstehen und die ­zukünftigen Reaktionen zu verändern.
Die Medizin bildet keine Ausnahme, wenn es um die Notwendigkeit geht, aus der Vergangenheit für die ­Zukunft zu lernen. Im Artikel auf Seite 646 beschreibt der Medizinhistoriker Eberhard Wolff die Geschichte der Einwegspritze. Der Artikel ist Teil unserer Schwerpunktserie über Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen. Eigentlich ist es uns ein Anliegen, in der Serie zu ­beschreiben, welche Möglichkeiten wir haben, um das Gesundheitswesen jetzt und künftig nachhaltiger zu gestalten. Der Blick in die Zukunft verdeutlicht, weshalb das nötig ist. Der Klimawandel kann weder ­geleugnet noch ignoriert werden. Auch Ärztinnen und Ärzte sollten deshalb Gewohnheiten hinterfragen und verändern. Wie alle anderen Menschen auch müssen sie einen Beitrag leisten, damit der Klimawandel zumindest abgemildert werden kann.
Auch über Abfallvermeidung müssen wir dabei nachdenken. Eine wichtige Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt: Sollte man im Sinne der Ressourcenschonung und des Umweltbewusstseins zurückkehren zu mehrfach verwendbaren medizinischen Produkten? Waren Einwegprodukte womöglich ein kurzsichtiger Fehler, eine reine Bequemlichkeitsentscheidung? Es gibt eine ganze Bewegung, die unter dem Motto zero waste Abfall jeglicher Art vermeiden will, um die ­Zukunft so gut wie möglich zu gestalten. Ein beein­druckendes und in vielen Fällen auch angebrachtes Ziel. Aber ist es auch geeignet, um die Zukunft der ­Medizin zu gestalten?
Das Spannende im Leben ist, dass die Dinge meistens nicht schwarz oder weiss sind. So auch hier. Die Einwegspritze hat nicht nur für mehr Abfall gesorgt, ­sondern auch für mehr Hygiene. Sie hat Menschen vor ­Ansteckungen mit unterschiedlichen Krankheiten geschützt. Der ganzheitliche Blick auf die vergangenen Ereignisse und die Fakten, die wir dadurch sammeln können, helfen uns, die gegenwärtige Situation zu ­verstehen. Einwegspritzen gibt es nicht nur, weil sie ­bequemer sind als Mehrwegspritzen. Wir sollten also die Vergangenheit detailliert betrachten. Nur so können wir erkennen, welche Möglichkeiten wir zukünftig haben und was wir unbedingt beachten müssen, wenn wir den Status Quo ändern wollen. Eins steht fest: Stillstand ist keine Option, reine Rückwärtsgewandtheit erst recht nicht. Änderungen muss es geben, um die Zukunft zu planen. Aber bitte in Absprache mit einer unserer wichtigsten Beraterinnen: der Vergangenheit.
eva.mell[at]emh.ch