Motion für mehr Datenkompetenz im Gesundheitswesen

Tribüne
Ausgabe
2022/18
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20754
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(18):609-611

Affiliations
a Dr. med., executive MBA focus healthcare, Präsidentin Walliser Ärztegesellschaft, Co-Initiantin von Data Literacy – Schweiz; b Prof. ès sc., CStat PStat, Statistiker, CEO Statoo Consulting Bern, Professor für Datenwissenschaft Universität Genf, Co-Initiant von Data Literacy – Schweiz

Publiziert am 03.05.2022

Mitte Mai 2022 wird der Nationalrat erstmals in der Schweiz darüber abstimmen, ob im Zuge der Digitalisierung im Gesundheitswesen offiziell eine Data Literacy-­Strategie implementiert werden soll. Bei Annahme der Motion wäre die Schweiz nach Deutschland eines der ersten Länder der Welt, die die Wichtigkeit einer nachhaltigen gesellschaftlichen Datenkompetenzförderung erkennen und in die politische Agenda aufnehmen .
Datenkompetenz (Data Literacy) umfasst die Fähigkeiten, Daten auf kritische Art und Weise zu sammeln, zu managen, zu bewerten und anzuwenden. Dafür braucht es eine berufsübergreifende Zusammenarbeit, eine Feedback-Kultur zwischen den Datenproduzentinnen und -produzenten einerseits und den Datennutzerinnen und -nutzern andererseits. Datenkompetenz erfordert auch die Entwicklung, Einführung und Einhaltung einer Datenethik und verlangt eine Datennutzung in einem adäquaten Kontext sowie die Entwicklung einer angemessenen Kommunikationskultur. Bereits im Januar 2021 machten die Autoren in der Schweizerischen Ärztezeitung einen Aufruf für mehr Datenkompetenz als Grundlage sachgerechter Entscheidungen [1].

Wieso braucht es mehr Datenkompetenz?

Leider zeigt sich immer wieder, dass der Begriff Datenkompetenz und die damit zusammenhängenden Grundkonzepte und -kompetenzen zu wenig verbreitet sind und nur fragmentiert umgesetzt werden. Landläufig herrscht z.B. immer noch die Meinung, dass eine hundertprozentige Abdeckung mit (irgendwelchen) Daten die besten und «richtigen» Resultate liefern würde. Dass Vollerhebungen extrem aufwendig sind, praktisch kaum sinnvoll umsetzbar sind, wenn die Ansprüche an Qualität und Repräsentativität erfüllt sein sollten, und deshalb mit vielen potenziellen Verzerrungen behaftet sind, wird oft verkannt. Dass Verzerrungen in Erhebungen zu Fehlschlüssen führen können, wenn die Grundsätze der Data Literacy-Prin­zipien nicht berücksichtigt werden, ist immer noch zu wenig Menschen und Politikerinnen und Politikern bekannt.
Alternativen, um kosteneffizienter, zielführender und rascher sinnvolle, qualitativ bessere Daten mit Hilfe statistisch validierter Stichprobenerhebungen zu erheben, werden ­gerade in politisch geforderten Projekten kaum berücksichtigt.
Die zunehmende Digitalisierung und der damit zusammenhängende enorme quantitative Zuwachs an potenziell verfügbaren Daten verlocken dazu, die Quantität der Daten ungeachtet deren Qualität und primären Eignung und Bestimmung für etwelche Analysen zu nutzen. Aufgrund der grossen Datenmengen besteht die Gefahr, dass dadurch «statistisch signifikante» Korrelationen aufpoppen, die dann mit nicht verifizierten Kausalitäten gleichgesetzt ­werden. Dies kann zu folgenschweren Fehlinterpre­tationen und damit zusammenhängenden falschen ­Entscheidungen führen – was gerade im Gesundheitswesen tragische Folgen haben kann.
Umso wichtiger ist es, uns gerade jetzt nicht von Datenquantitäten blenden zu lassen, sondern mehr Qualität statt Quantität bei Datensammlungen und -analysen zu fordern.

Digitalisierung als Chance nutzen

Im Rahmen der COVID-Pandemie ist klar geworden, wie wichtig es wäre, sinnvoll und kohärent qualitativ brauchbare und vergleichbare Daten zu erheben und diese kontextuell adäquat zu interpretieren. Dass wir in der Schweiz trotz einer extrem aufwendigen und teuren Teststrategie nur wenig wirklich sinnvoll brauchbare und vergleichbare Daten generieren konnten, sollte Anlass dazu sein, unsere Datenstrategien fundamental zu überdenken und anzupassen. Entsprechend sieht auch das Bundesamt für Gesundheit (BAG) in seinem Bericht über die Verbesserung des Daten­managements im Gesundheitsbereich vom 12. Januar 2022 einen grossen, vielschichtigen Optimierungsbedarf [2]. «Datenkompetenz» kommt darin nur indirekt vor, und der ambulante Bereich wird leider, wie bereits während des gesamten Pandemie-Managements, praktisch ausgeklammert.
Parallel dazu wird der Ruf nach verstärkter Digitalisierung im Gesundheitswesen, gerade auch in Bezug auf den ambulanten Sektor, in vielen politischen Vorstös­sen laut. Es wird kritisiert, dass Daten altmodisch per Fax übermittelt würden. Sicher, eine zeitgemässe Nutzung der digitalen Medien tut not. Letztere sind aber nur ein Mittel zum Zweck. Digitale Medien allein werden das relevante strategisch wichtige Problem sinnvoller Datenerhebungen, -auswertungen und -nutzung nicht lösen. Paradoxerweise könnten sie, der COVID-Pandemie gleich, durch eine qualitativ unbrauchbare Datenflut Fehlanalysen fördern.
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Was gefordert wird

Deshalb fordert die von der nationalrätlichen Kommission eingereichte Motion 22.3016 Implementierung einer nachhaltigen Data Literacy-Strategie in der digitalen Transformation des Gesundheitswesens [3] vom Bundesrat Massnahmen auf verschiedenen Ebenen, um die Datenkompetenzentwicklung im Gesundheits­wesen im Zuge der Digitalisierung zu fordern und zu fördern.
1. Die Motion fordert vom Bundesrat, im Zuge der ­Digitalisierungsbestrebungen eine kohärente Data Literacy-Strategie (Datenkompetenz-Strategie) ausarbeiten und implementieren zu lassen.
Damit soll einerseits «Datenkompetenz» als strategisch unerlässliche gesellschaftliche Kompetenz im Zuge der Digitalisierung erkannt, verankert und gefördert werden. Andererseits soll der Bundesrat konkret Instanzen wie BAG, Bundesamt für Statistik und die Akademien der Wissenschaften Schweiz beauftragen, in Zusammenarbeit mit kompetenten Statistikerinnen und Statistikern, Data Literacy-Fachpersonen und den zuständigen Vertreterinnen und Vertretern der betroffenen Berufsverbände (wie z.B. FMH, kantonale Ärztegesellschaften) einen Data Literacy-Kodex und datenkompetenz-konforme Methodologien und Konzepte zum Umgang mit (digitalen) Daten in Einklang mit laufenden internationalen Entwicklungen zu erarbeiten.
2. Auf «operativer» Datenmanagement-Verbesserungs-Ebene im Gesundheitsbereich soll der Bundesrat das BAG beauftragen, im ambulanten Sektor ein Data Literacy-basiertes Datenerhebungsprojekt auszuarbeiten und umzusetzen, das wichtige Erkenntnisse zu Verläufen und Behandlungsoptionen von COVID-19 im ambulanten Setting generieren könnte.
Damit könnte die Lücke im BAG-Bericht zur Verbesserung des Datenmanagements im Gesundheitsbereich in Bezug auf den ambulanten Sektor geschlossen werden. Projektvorschläge wurden beim BAG eingereicht, konnten aber aufgrund fehlender logistischer und ­finanzieller Unterstützung nicht sinnvoll ausgearbeitet und implementiert werden. Erkenntnisse aus ­einem solchen Projekt könnten eine proaktivere «Sentinella-Funktion» der ambulanten Ärzteschaft im ­Rahmen zukünftiger Epidemien und Pandemien ermöglichen und relevante datenbasierte Erkenntnisse und damit zusammenhängende sinnvolle Vorschläge mit Einsparungspotenzial ermöglichen.
3. Auf Public Health-Ebene fordert die Motion den Bundesrat dazu auf, eine interprofessionelle Präventionskampagne gegen übertragbare Krankheiten wie COVID, Grippe und anderen Viren, z.B. RSV, einzuleiten.
Dies würde es ermöglichen, die anlässlich der zwei­jährigen Pandemie eingeübten einfachen Hygienemassnahmen sinnvoll zu nutzen zur Reduktion von vermeidbaren Ansteckungen, insbesondere auch in Praxen, Spitälern, Altersheimen und an öffentlichen Veranstaltungen. Es wäre eine ethisch und wirtschaftlich sinnvolle Investition mit hohem Return on investment-Faktor in Bezug auf Gesundheitskosten, Arbeitsausfälle und soziale Beziehungen. Gleichzeitig würde eine solche Kampagne illustrieren, dass angewandte Datenkompetenz keine abstrakte Theorie ist, sondern dank einer einfachen Bedienungsanleitung von jedem und jeder von uns im Alltag umgesetzt werden kann. Sinnigerweise sollte eine solche Kampagne in Zusammenarbeit mit den Kantonen und Berufsverbänden lanciert werden. Als Anregung dazu könnte die interprofessionelle Data Literacy-Präventionskampagne «Gemeinsam gesund dank guter Gewohnheiten» [4] dienen. Sie illustriert, dass auch in einem veränderten Kontext die Maske – zur rechten Zeit am rechten Ort – eine nachhaltige, sinnvolle Hygienemassnahme darstellen könnte. Dank Datenkompetenz könnten wir sinnvolle Erkenntnisse aus der Pandemie nachhaltig implementieren.
Mit Annahme der Motion könnten strategisch wichtige und dringende Verbesserungen unserer gesellschaftlichen Datenkompetenz auf verschiedenen Ebenen eingeleitet werden. Wir hoffen, dass die Bedeutung dieser Motion und ihrer Forderungen erkannt und breit unterstützt wird.
Die Annahme der Motion könnte Türen öffnen für die Einleitung einer nachhaltigen Datenkompetenz-­Kampagne, die zur Stärkung der allgemeinen Datenkompetenz der Bevölkerung, nicht nur im Gesundheitsbereich führen sollte. So könnte der überfällige Kulturwandel unserer gemeinsamen gesellschaft­lichen Datenkultur im digitalen Zeitalter sinnvoll eingeleitet werden.

Das Wichtigste in Kürze

• Im Mai stimmt der Nationalrat über die Motion 22.3016 Implementierung einer nachhaltigen Data Literacy-Strategie in der digitalen Transformation des Gesundheits­wesens ab.
• Datenkompetenz (Data Literacy) umfasst die Fähigkeiten, Daten auf kritische Art und Weise zu sammeln, zu managen, zu bewerten und anzuwenden.
• Mit der Motion wird u.a. gefordert, dass adäquatere Methoden zur Datenerhebung und -auswertung gewählt werden, um aussagekräftigere Resultate zu erhalten. Zudem soll die ­Datenkompetenz der Gesamtbevölkerung im Zuge der Digitalisierung verbessert werden.
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