Nachhaltigkeit braucht einen festen Platz im medizinischen Alltag

Zu guter Letzt
Ausgabe
2022/2122
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20764
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(2122):752

Affiliations
Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publiziert am 24.05.2022

Aktuell dominiert der schreckliche Krieg in der Ukraine unseren Alltag – ein Krieg, den wir in so unmittelbarer Nähe nicht mehr für möglich gehalten hatten. Aber auch der jüngste Bericht des Weltklimarats IPCC konfrontiert uns mit Herausforderungen, von denen unser zukünftiges Leben noch stärker abhängen wird. In seinem dritten Teilbericht benennt der Rat die letzten Mittel, mit denen wir die Klimakatastrophe noch abwenden können. Bereits die Brundtland-Kommission forderte im Jahr 1987 in ihrem Bericht Our Common Future, der den Begriff Sustainable Development prägte, eine nachhaltige Entwicklung (mit bislang sehr limitiertem Erfolg).
Unsere Arbeit und unser Arbeitsumfeld müssen sehr viel nachhaltiger werden. Wir verursachen 5 bis 8% der CO2-Emissionen in der Schweiz. Zwar ist die Gesundheit der Grundstein für ein gutes Leben, doch auch wir Ärztinnen und Ärzte müssen mit unseren Ressourcen sparsamer umgehen – das gilt es auch zu verinnerlichen. Das Team von Nicolas Senn, der die Ausbildung in Hausarztmedizin in Lausanne leitet, hat mehrere Studien zur Nachhaltigkeit in Arztpraxen durchgeführt: Ein nachhaltiger Effekt lässt sich durch Reduktion der Raumflächen und entsprechende Einsparung bei den Heizkosten erzielen (ohne dass die Patientinnen und Patienten frieren müssen). Die Fahrten von Patientinnen und Patienten wie auch Pflegepersonal erzeugen grosse Mengen an CO2.
Im Spital gibt es zahlreiche Sektoren mit hohen Treib-hausgasemissionen; Forderungen nach einer Reduktion werden nicht immer auf Gegenliebe stossen. Trotzdem müssen wir uns der Problematik stellen. Eine Ausgabe der Revue médicale suisse von 2019 trug den Titel «Médecine et durabilité: une nécessité» (Medizin und Nachhaltigkeit: eine Notwendigkeit) [1]. Auch die Schweizerische Ärztezeitung behandelt das Thema [2], und das Low-TechMagazine (eine solarbetriebene Website) widmete der mangelnden Nachhaltigkeit ­unserer Branche kürzlich ein Dossier [3].
Am 24. März hat die medizinische Fakultät in Lausanne eine Plattform für Nachhaltigkeit und Gesundheit eröffnet, die den Wissensaustausch zur Planetary Health fördern soll. Heidi.news schrieb dazu:«Paradox … die Gesundheit des Menschen schadet der des Planeten» [4]. Und das US-amerikanische Hastings Center warf im Rahmen eines Webinars am 19. April folgende gute Frage auf: Is It Possible to Have Healthy People on a Sick Planet? Es geht also darum, Ökosysteme und Menschen gleichermassen zu pflegen!
Die Plattform der Fakultät arbeitet eng mit dem vor zwei Jahren gegründeten Centre de compétences en durabilité, einem Kompetenzzentrum für Nachhaltigkeit, der Universität zusammen. Zu dessen Zielen gehört es, die Lehre so auszubauen, dass alle Studierenden Grundkenntnisse zum Thema Nachhaltigkeit mit auf den Weg bekommen, und die interdisziplinäre Forschung in den sieben Fakultäten zu fördern.
In Frankreich bietet die «École des hautes études en santé publique» die Ausbildung «Changement climatique, transition et santé» (Klimawandel, Transition und Gesundheit) an, die an das Programm zur Reduktion der CO2-Emissionen im Gesundheitswesen «Décarboner la Santé» des überaus aktiven Thinktanks Shift Project gekoppelt ist.
Die Schweizer Akademie der Naturwissenschaften hat 2020 einen alarmierenden Bericht über biodiversitätsschädigende Subventionen herausgebracht [5]. Hier ein Auszug: «Trotzdem ist der Zustand der Biodiversität kritisch. Ein wichtiger Grund dafür ist die Vielzahl von Subventionen und finanziellen Fehlanreizen der ­öffentlichen Hand.» Die Studie identifizierte 162 schädliche Subventionen. Mit ungewohnter Deutlichkeit wird hier die häufig grob vernachlässigte Frage nach den negativen Externalitäten unseres Handelns aufgeworfen. Ganz im Sinne unseres Grundsatzes «Primum non nocere». Auch wenn Verfechter der uneingeschränkten Freiheit dies kritisch sehen mögen; hier geht es darum, die kontraproduktive Verwendung öffentlicher Gelder auf den Prüfstand zu stellen, nicht darum, die Forschung zu behindern. Es ist sinnvoll und notwendig, auf die Subvention von Massnahmen zu verzichten, die unseren Lebensraum – und somit unsere Lebensqualität – beeinträchtigen.
Das Einsparen von Energie muss zum Handlungsgrundsatz im Gesundheitswesen werden. Sicherlich wird sich manches durch Innovationen verbessern lassen, aber wir dürfen nicht alles auf diese Hoffnung setzen, sondern müssen uns, wo irgend möglich, beschränken.
jean.martin[at]saez.ch
1 Sommer J et al. (dir. publ.). Revue médicale suisse, 8. Mai 2019.
2 Rippstein J. «50% der Spitäler könnten ihren Umwelt-­Fussabdruck halbieren». Schweiz Ärzteztg. 2021;102(45):1490–1492.
4 Heidi.news (Genf) – Le Point santé et alimentation, 23. März 2022.
5 Swiss Academies Factsheets, Vol. 15, Nr. 7, 2020.