Vom Umgang mit Pflegebedürftigen – zwischen sorgsam und grausam

Zu guter Letzt
Ausgabe
2022/23
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20796
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(23):792

Affiliations
Prof. Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publiziert am 07.06.2022

Mit seinem aufsehenerregenden Enthüllungsbuch [1] über die Misshandlung älterer Menschen in den französischen Pflegeheimen des Orpea-Konzerns hat der Journalist Victor Castanet einen Weckruf ausgesandt, der nicht ungehört verhallen darf. Endlich finden die zahlreichen Stimmen von Angehörigen, Heimbewohnenden, aber auch von Pflegekräften Gehör, die beklagen, dass in etlichen Einrichtungen des börsennotierten euro­päischen Pflegeheimbetreibers Orpea finanziellen Aspekten systematisch Vorzug gegenüber der Qualität der Pflege gegeben wird. Der schonungslose Untersuchungsbericht des französischen Gesundheitsministeriums[2] beschreibt ein «System der Kostenoptimierung»auf allen Ebenen: angefangen bei Qualität und Umfang der Mahlzeiten, über unzureichende Materialausstattung (selbst im Hygiene- und Wäschebereich) bis hin zum ständigen Mangel an Personal, dessen übermässige Arbeitsbelastung keine angemessene Pflege ermöglicht.
Und in der Schweiz?, fragt man sich da besorgt. Es gibt keine offiziellen Daten, aber ungefähre Zahlen. Dabei ist von einer erheblichen Dunkelziffer auszugehen, da pflegebedürftige ältere Menschen aufgrund gesellschaftlicher Tabus häufig davor zurückschrecken, sich zu beschweren. 200 gemeldete Misshandlungsfälle verzeichnete im Jahr 2018 eine der drei Organisationen, die sich zum nationalen Kompetenzzentrum Vieillesse sans ­violence / Alter ohne Gewalt[3] zusammengeschlossen haben, um «Opfern und ihren Angehörigen eine Anlaufstelle zu bieten, rasche Hilfe zu ermöglichen, Gewalt gegen Ältere zu verhindern und Pflegende zu schulen». Von diesen Misshandlungen wurden 80% zu Hause begangen, die restlichen 20% in Einrichtungen. Solche Misshandlungen sind laut einer Studie, die Daten aus Zürich ausgewertet hat, vorwiegend psychologischer, aber auch finanzieller und physischer Natur [4]. Bei der häuslichen Pflege bestehen die Risikofaktoren im Zusammenleben und in der emotionalen oder finanziellen Abhängigkeit der misshandelnden Personen vom Opfer, insbesondere wenn dieses an Demenz leidet. Diese Angehörigen sind mit der Situation häufig überfordert. Bei der Pflege in Heimen erhöhen schwierige Arbeitsbedingungen, Überlastung sowie ein unzureichendes Qualifikations- und Schulungsniveau das Risiko von Misshandlungen. Um diesen Auswüchsen, die bisweilen gar nicht beabsichtigt sind, vorzubeugen, schaffen die Präventionsstellen bei den Pflegeteams ein Bewusstsein für Signale einer Überforderung. Zudem plädieren sie für spezielle Schulungen der in Pflegeheimen tätigen Fachkräfte. Es darf nicht unterschätzt werden, wie viel Kompetenz, Wissen und Achtsamkeit die Pflege einer bedürftigen oder dementen Person – neben menschlicher Wärme und Geduld – erfordert.
Auch wir Ärztinnen und Ärzte sind betroffen. Es ist an uns, auf Signale für eine mögliche Misshandlungssituation zu achten und die zuständigen Ansprechstellen zu kennen, so Prof. Christophe Büla, Leiter der Abteilung Geriatrie am CHUV, in einem Beitrag [5]. Ich möchte ergänzen, dass wir im Hinblick auf die Qualität der Pflege verpflichtet sind, wachsam zu bleiben und gegebenenfalls einzugreifen. Im Falle von Orpea wurde diese Qualität massiv unterlaufen, was die Risiken der Kommerzialisierung im Gesundheitsbereich deutlich aufzeigt.
Glücklicherweise steht einer solchen unerträglichen finanziellen Ausbeutung der Pflegebedürftigkeit von Menschen das Engagement der grossen Mehrheit der Pflegekräfte und Heimleitungen gegenüber, die das Wohl der ihnen anvertrauten Menschen in den Mittelpunkt stellen. Dies beinhaltet, dass auf die Betroffenen mit ihren individuellen und wechselnden Wünschen und Bedürfnissen kontinuierlich eingegangen wird. Die Werte und persönlichen Entscheidungen der einzelnen Bewohnerinnen und Bewohner werden respektiert, damit ein partnerschaftlicher Umgang möglich wird. Inzwischen hat sich die Zivilgesellschaft den ethischen Gedanken zu eigen gemacht, nach dem ältere Menschen systematisch in die sie betreffenden Entscheidungen einbezogen werden müssen [6]. Dafür war es auch höchste Zeit, wenn man sich vor Augen führt, dass bereits Simone de Beauvoir in Das Alter ausführte: «Durch die Art, wie sich eine Gesellschaft gegenüber ihren Alten verhält, enthüllt sie […] ihre Grundsätze und Ziele.»
1 Castanet V. Les fossoyeurs. Paris: Fayard; 2022.
2 Solidarite-sante.gouv.fr. Rapport complet mission IGAS-IGF sur les Ehpad du groupe Orpea.
4 Lacher, et al. Types of abuse and risk factors associated with elder abuse. Swiss Med Wkly. 2016;146:w14273.
5 Büla C. Abuse in older persons: why physicians need to be aware. Swiss Med Wkly. 2016;146.
6 Bourdaire-Mignot C, Gründler T. Dis-moi comment tu traites tes vieux (...). La revue des droits de l’Homme, ­juillet 2018, online.