Studie «Voraussetzungen ambulante Tarifstrukturen»

TARDOC ist als System deutlich entwickelter

FMH
Ausgabe
2022/2122
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20798
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(2122):705-708

Publiziert am 24.05.2022

Im Auftrag der FMH haben der Gesundheitsökonom Dr. oec. HSG Willy Oggier und Prof. Dr. iur. Ueli Kieser, Experte für Versicherungsrecht, die beiden Tarifsysteme «TARDOC» und «ambulante Pauschalen» auf die Angemessenheit und Datengrundlage hin beurteilt. In ihrem Gutachten «Voraussetzungen ambulante Tarifstrukturen» zeigen sie auf, wie Art. 43 Abs. 5 KVG in gesundheitsökonomischer und in rechtlicher Hinsicht zu verstehen und umzusetzen ist.
Beginnen wir mit den juristischen Grundlagen. Herr Prof. Kieser, was steht im Gesetz?
Kieser: Das Gesetz besagt, dass eine bestimmte Tarifstruktur geschaffen werden muss. Gestützt darauf muss ein Tarifvertrag erstellt werden, der dann zur Genehmigung unterbreitet wird. Im Gutachten habe ich diese Schritte aus juristischer Sicht beleuchtet und die massgebenden Kriterien aufgezeigt.
Und welches sind Ihre Haupterkenntnisse?
Kieser: Zum einen, dass im Parlament, als man das Gesetz beraten hat, zwar über Verschiedenes diskutiert wurde, aber dass doch wenig Klarheit bestand, welches denn wirklich die Auswirkungen der neuen Regelungen mit ambulanten Pauschalen sind. Zum anderen, dass man immer wieder daran erinnern muss, wie der Bundesrat mit den eingereichten Tarifverträgen umzugehen hat. Das Gesetz definiert dazu klare Rahmenbedingungen.
Es ist nicht am Bundesrat, Varianten und mögliche Lösungen zu diskutieren?
Kieser: Nein, es ist wichtig und richtig, dass sehr viel den Tarifpartnern überlassen bleibt. Denn es gilt das Prinzip der Vertragsfreiheit und Tarifautonomie. Die Vertragsparteien vereinbaren miteinander einen Tarifvertrag; der Bundesrat als Genehmigungsbehörde prüft, ob dieser mit dem Gesetz und dem Gebot der Wirtschaftlichkeit und Billigkeit in Einklang steht. Das ist in Art. 46 Abs. 4 KVG festgehalten. Wenn diese Grundsätze erfüllt sind, dann ist der Vertrag zu genehmigen.
Dr. oec. HSG Willy Oggier gehört zu den führenden Gesundheitsökonomen der Schweiz. Er studierte Volkswirtschaftslehre an der Hochschule St. Gallen und promovierte zum Dr. oec. HSG. Nach einigen Jahren Tätigkeit an der Hochschule St. Gallen ist er seit 1996 als Inhaber der Firma Willy Oggier Gesundheitsökonomische Beratungen AG selbstständig. Neben seiner Beratertätigkeit hat er verschiedene Lehraufträge, u. a. an interuniversitären Lehrgängen in Basel, Bern, Zürich und der Medizinischen Universität Wien. Daneben ist er als Moderator und Referent im In- und Ausland unterwegs.
Prof. Dr. iur. Ueli Kieser ist Rechtsanwalt und seit 2012 Titularprofessor für Sozialversicherungsrecht und Gesundheitsrecht an der Universität St. Gallen (HSG). Er gehört in diesen Rechtsgebieten zu den führenden Wissenschaftlern der Schweiz. Seit 1995 führt er eine Anwaltskanzlei, seit 1992 nimmt er Lehraufträge an den Universitäten Zürich, St. Gallen und Bern wahr. Prof. Kieser ist ab Juni 2022 Mitglied des Obersten Gerichtshofs des Fürstentum Liechtenstein.
Herr Oggier, wie beurteilen Sie aus gesundheitsökonomischer Sicht die Tarifvorschläge, die jetzt eingereicht worden sind?
Oggier: TARDOC ist als System deutlich entwickelter, er hat auch eine längere Entwicklungszeit hinter sich. Die ambulanten Pauschalen wurden spitalbasiert entwickelt, also mit der Minderheit der ambulanten Leistungserbringer. Und da stellen sich doch einige Fragen. Die Datengrundlage des TARDOC ist zudem sehr viel transparenter.
Gerade die Frage der Transparenz wird heiss diskutiert. Aus Ihrer Sicht sind ambulante Pauschalen nicht transparenter?
Oggier: In der vorliegenden Version klar nein. Denn erstens müsste man im Detail nachvollziehen können, wie das Mapping gemacht wurde. Zweitens müsste man sehen können, wie die ambulanten Leistungserbringer eingebaut wurden. Und es müsste auch offengelegt werden, dass die Abgrenzungen zu den Nicht-Pflichtleistungen im ambulanten Bereich, so zum Beispiel die Hotellerie im Spital, sauber gemacht wurden. In den Unterlagen, die mir zu Verfügung stehen, habe ich diese Informationen nirgends gefunden.
Die Repräsentativität der ambulanten Leistungserbringer ist bei Pauschalen nicht gegeben?
Oggier: Das ist eindeutig so. Die Mehrheit der ambulanten Leistungserbringer sind frei praktizierende Ärzte und Gruppenpraxen, und diese wurden in den Datengrundlagen der ambulanten Pauschalen nicht berücksichtigt. Wenn man ambulante Pauschalen aus den stationären Strukturen ­heraus rechnet, benachteiligt man all jene, die nach Einzelleistung abrechnen müssen. Denn die Kostenneutralität ist über den ganzen ambulanten Bereich zu betrachten. Für die freien Praxen bedeutet das Hochrisiko.
Ambulante Pauschalen eignen sich also aus Ihrer Sicht nicht, um die Grundversorger zu stärken?
Oggier: Auf dem aktuellen Stand definitiv nicht. Tarifsysteme senden immer Anreize. In einem System, das über Zwangsabgaben finanziert ist, muss der Anreiz so gesetzt werden, dass bei gleicher Qualität der Kosten-
effizientere belohnt wird und nicht jener, der Strukturerhalt betreibt.
Wie sollten ambulante Pauschalen denn aufgebaut sein?
Oggier: Pauschalen müssen moderne Medizin abbilden können. Sie müssen möglichst klare Lösungen für Probleme bieten und Doppelspurigkeiten verhindern. Und sie sollen das ganze Spektrum im KVG abdecken. Die ambulanten Pauschalen, die jetzt diskutiert werden, sind einseitig in der somatischen Akutmedizin angesiedelt. Teilstationäre Leistungen, zum Beispiel in der Rehabilitation oder in der Psychiatrie, sind nicht abgebildet. Obwohl sie sich gut für ambulante Pauschalen eignen.
Eine Pauschale sollte zudem eine ganze Episode abdecken, weil sonst die grosse Gefahr besteht, dass man Leistungen zweimal verrechnet. Auch das ist bei den vorgeschlagenen ambulanten Pauschalen nicht gegeben, es handelt sich eher um eine Verdichtung von Einzelleistungen.
Die Gefahr, dass Versicherte zu viel bezahlen, ist also bei den ambulanten Pauschalen höher als beim Einzelleistungstarif?
Oggier: Das optimale Abgeltungssystem gibt es nicht. Es gibt nur solche mit unterschiedlichen Vor- und Nachteilen. Vereinfacht gesagt haben ambulante Pauschalen, vor allem dann, wenn sie spitalbasiert berechnet werden, ähnliche Gefahren wie SwissDRGs. Sie geben sehr, sehr viele Anreize zur Mengenausweitung. Zum Beispiel indem man versucht, möglichst viele Leistungen vor- oder nachgelagert zu erbringen, um sie zusätzlich verrechnen zu können. Zudem ist nicht geklärt, ob es bei den ambulanten Pauschalen eine ­Garantieleistung gibt. Der Drehtüreffekt kann also unter Umständen zusätzlich verrechnet werden.
Die Politik hat entschieden, dass Einzelleistungstarife wie auch ambulante Pauschaltarife je auf einer einzigen, gesamtschweizerisch vereinbarten, einheitlichen Tarifstruktur beruhen müssen. Damit sind eigentlich zwei Tarifstrukturen möglich für ambulante Leistungen. Wie beurteilen Sie dies aus ökonomischer und rechtlicher Sicht?
Kieser: Im Gesetz steht heute klar, dass es für Einzelleistungen und für ambulante Pauschalen zwei Tarifstrukturen gibt. Für beide müssen genau dieselben Grundsätze gelten. Aber es ist nicht konkretisiert, was genau eine Tarifstruktur ist. Ich habe den Eindruck, dass man bei der Genehmigung der Pauschalen grosszügiger sein möchte als bei den Einzelleistungen. Aber das ist falsch.
Was, glauben Sie, ist der Grund dafür?
Kieser: Vermutlich ist es ein unbestimmtes Empfinden, dass Pauschalen kostengünstiger seien. Aber Pauschalen sind nicht per se das bessere Instrument. Es sind einfach zwei verschiedene Systeme.
Es gibt Stimmen, die sagen, dass man zuerst die Ausarbeitung der ambulanten Pauschalen abwarten müsse, bevor man den TARDOC genehmigen könne. Sie würden dem widersprechen?
Kieser: Ich bin der Überzeugung, dass die Genehmigungsbehörde aus dem TARDOC sehr viel ableiten kann für die ambulanten Pauschalen. So, wie die Pauschalen heute vorliegen, ist die Transparenz in der Tat ein erhebliches Problem. Der Bundesrat als Genehmigungsbehörde braucht jedoch Transparenz. Wenn er den TARDOC vorzieht und nach den zulässigen Genehmigungskriterien überprüft, hat er eine klare Ausgangslage, um dann auch die ambulanten Pauschalen einordnen zu können.
Oggier: TARDOC sollte vor den ambulanten Pauschalen eingeführt werden. Sonst gibt es erhebliche Schnittstellenprobleme, und ein gleichzeitiger kostenneutraler Systemwechsel von TARMED zu TARDOC, aber auch zu den ambulanten Pauschalen, kann nicht sichergestellt werden.
Was heisst das konkret?
Oggier: TARDOC und ambulante Pauschalen kann man nur dann parallel einführen, wenn beide von den gleichen Voraussetzungen ausgehen. Das ist aber nicht gegeben, wenn die ambulanten Pauschalen im Vergleich zu TARMED entwickelt werden.
Der TARDOC bildet die moderne Medizin ab, Stand heute. Die Halbwertszeit des medizinischen Wissens beträgt wenige Jahre. Wenn man wartet, bis die ambulanten Pauschalen reif genug für eine Genehmigung sind, und den TARDOC erst dann einführt, vergibt man viel Zeit.
Der Weg kann eigentlich nur der sein, dass man jetzt mit dem TARDOC startet. Die Vertreter der ambulanten Pauschalen merken dann, dass sie Gas geben müssen. Und der TARDOC wird weiter gepflegt und auf neue Entwicklungen angepasst.
Der TARDOC muss also aktiv in Gebrauch sein, damit er stets aktuell bleibt?
Oggier: Genau. Wenn er nicht in Gebrauch ist, dürften sich die Initianten bald die Frage stellen, weshalb sie weiterhin eigenes Geld investieren sollen, um ihn aktuell zu halten.
Welche Daten sind nötig, um einen Tarif weiterzuentwickeln und zu pflegen? Und wie sollen sie verwendet werden?
Oggier: Das ist eine sehr komplexe Frage. Vereinfacht gesagt geht es um zwei Dimensionen: Wie entwickelt man die Tarifstruktur, und wie stellt man die Kostenneutralität sicher. Bei der Tarifstruktur gibt es ein paar Grundfragen. Bilde ich moderne Medizin sauber ab? Bilde ich sie mit Daten der Mehrheit der Leistungserbringer ab? Berücksichtige ich die kosteneffizienten Leistungserbringer? Wie machen wir das in Zukunft? Die moderne Medizin entwickelt sich ja, deshalb ist es sinnvoll, auch mit Expertenpanels zu arbeiten. Beim TARDOC hat man das zum Teil so gemacht.
Und im Bereich der Kostenneutralität?
Oggier: Hier gibt es zwei Dimensionen zu beachten. Die statische Kostenneutralität, d. h. es darf zu keinen Kostenausweitungen für qualitativ vergleichbare Leistungen kommen, wenn wir am Tag X von einem System auf das andere umstellen. Und die dynamische Kostenneutralität. Ein dynamisches Kostenneutralitätskonzept muss zulassen, dass kosteneffiziente Leistungserbringer wachsen. Deren Kosten werden steigen, weil sie mehr Menge machen. Weil die teureren Leistungserbringer verlieren, kommt es damit zu Marktanteilsverschiebungen.
Darum ist es wichtig, dass die ambulanten Pauschalen nicht über TARMED gemappt werden, sondern über TARDOC. Sonst kann man das nicht überprüfen. Wenn man böse wäre, könnte man sagen, dass die Spitäler das Mapping auf TARMED gemacht haben, weil sie sich in einer solchen dynamischen Kostenneutralität eben genau nicht vergleichen lassen wollen.
Lassen Sie uns noch einige juristische Details näher betrachten. Prof. Kieser, Sie schreiben im Gutachten: «Jedoch hat die Behörde im Genehmigungsverfahren nicht ihr Ermessen auch im Zusammenhang mit Sachverhaltsermittlungen und Würdigungen an die Stelle eines sachgerecht ausgeübten Ermessens der Vertragspartner zu stellen.» Was heisst das aktuell und ganz konkret für den TARDOC und die ambulanten Pauschalen?
Kieser: Das ist ein ganz zentraler Punkt. Man sagt, jede Leistung ist relativ so viel wert im Vergleich zu einer anderen Leistung. Das ist ein Ermessen. Die Genehmigungsbehörde darf hier nur eingreifen, wenn die Wirtschaftlichkeit tangiert ist, wenn die Billigkeit tangiert ist oder wenn die hohe qualitative Versorgung nicht garantiert ist. Es ist und bleibt Aufgabe der Tarifpartner, hier Lösungen definitiv festzulegen. Und nicht, Lösungen nur vorzuschlagen.
Wenn ich Sie richtig verstehe, entspricht die Förderung der ambulanten Pauschalen also gar nicht dem Gesetz?
Kieser: Das Gesetz ist in der Tat nicht so angelegt. Es sagt nur: «Es gibt Einzelleistungstarife, und es gibt Pauschalen im ambulanten Bereich.» Aber welches System man wählt und wie man es konkret ausgestaltet, dazu sagt das Gesetz nichts. Das ist eben typischerweise Sache der Tarifpartner.
Ein weiteres Zitat aus dem Gutachten: «Es ist grundsätzlich nicht zulässig, den Tarif im gleichen Verfahren und gleichzeitig mit der Nichtgenehmigung des Tarifvertrags hoheitlich festzusetzen.» Können Sie mir das erklären?
Kieser: Der Bundesrat kann einen eingereichten Tarifvertrag genehmigen oder nicht genehmigen. Entweder – oder. Wenn er zum Ergebnis kommt, dass er den Tarifvertrag nicht genehmigt, ist die Aufgabe abgeschlossen. Dann geht das Geschäft wieder zurück an die Tarifpartner, die nachverhandeln können oder wieder von vorne starten können. Aber der Bundesrat kann nicht sagen, ich genehmige den Tarifvertrag nicht, und dann im gleichen Zug etwas hoheitlich festlegen. Das sind zwei unterschiedliche Themen, die der Bundesrat nicht vermischen darf.
Lassen Sie uns noch die Frage der Mehrheiten beleuchten. Was sagen Sie zu dieser Diskussion? Geht es um die Mehrheit der Versicherten, der Leistungserbringer, der Verbände, die hinter TARDOC stehen müssen?
Kieser: Es geht um einen breiten Konsens. Das heisst um eine Würdigung, ob die wichtigen Player dabei sind. Man kann nicht einfach einen Prozentsatz nehmen. Wenn eine klare Mehrheit beim Tarifvertrag dabei ist, dann ist das ein breiter Konsens. Im Gesetz steht dazu nichts. Deshalb gibt es ja so viele Diskussionen.
Oggier: Aus gesundheitsökonomischer Sicht wecken diese Diskussionen um die Mehrheiten bei mir den Verdacht, dass man eigentlich gar nichts bewilligen will, damit man politisch eingreifen kann. Ich möchte einfach daran erinnern, dass das KVG ein Gesetz für die Versicherten ist. Nicht für H+, nicht für santésuisse, nicht für die FMCH, nicht für die FMH. Es ist für die Versicherten. Wenn man bei dieser Optik bleibt, muss man sagen: TARDOC vertritt die Mehrheit der Versicherten. Punkt. Schluss. Basta. Die ambulanten Pauschalen nicht. Punkt. Schluss. Basta.
Wir kommen zum Schluss. Was möchten Sie aus Ihrer Sicht noch deponieren?
Kieser: Gegenwärtig läuft in der Gesetzgebung sehr viel. Das Parlament hat so viele Vorlagen zu behandeln, dass es äusserst schwierig ist, die Übersicht zu wahren und zu erkennen, wohin die Reise geht. Aus meiner Sicht müsste es einen viel klareren Masterplan geben, was der Bundesrat eigentlich will. Aus vielen Vorlagen entsteht zudem eine riesige Anzahl an Folgefragen und Durchführungsfragen. Es wäre wahrscheinlich an der Zeit, einmal das System zu belassen, wie es ist, und zu schauen, wie sich die bereits verabschiedeten Revisionen auswirken.
Oggier: Mit der letzten Aussage, das System zu belassen, wie es ist, bin ich nicht ganz einverstanden. Wir haben mindestens eine Reform im Parlament, die aus gesundheitsökonomischer Sicht extrem wichtig ist. Das ist die einheitliche Finanzierung ambulant-stationär. Wir dürfen dort nicht die gleichen Fehler machen wie bei der neuen Spitalfinanzierung.
Man hat damals nicht nur die SwissDRGs als einheitliche Tarifstruktur für akutsomatische Leistungen eingeführt, sondern parallel dazu auch den Finanzierungsschlüssel für die stationären Leistungen zwischen Kanton und Krankenversicherern verschoben. Daher konnten die Wirkungen der SwissDRGs in der Folge nicht klar genug evaluiert werden.
Es wäre daher sehr wichtig, den TARDOC jetzt einzuführen. Und die einheitliche Finanzierung ambulant-stationär dann, wenn sie fertig beraten ist. Wenn man das gleichzeitig tut, ist eine saubere Evaluation nicht mehr möglich.