Haben Sie mich richtig verstanden?

Tribüne
Ausgabe
2022/2526
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20801
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(2526):870-872

Affiliations
Redaktorin der Schweizerischen Ärztezeitung

Publiziert am 22.06.2022

Damit sich ärztliche Fachpersonen und ihre Patientinnen und Patienten wirklich gut verstehen, braucht es manchmal Übersetzungskunst. Allerdings birgt ein Trialog allerlei Tücken. Was die Ärzteschaft von Dolmetschenden erwarten sollte und wie Missverständnisse vermieden werden können.
Ärztliche Konsultationen in Anwesenheit einer Dolmetscherin oder eines Dolmetschers sind eine heikle Sache. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) [1]. «Ärztliche Fachpersonen und Pflegekräfte weisen häufig auf Kommunikationsprobleme mit Patientinnen und Patienten hin. Die Kommunikation wird zusätzlich erschwert, wenn für die Verständigung Dolmetschende benötigt werden», erklärt Gertrud Hofer, ehemalige Professorin am Institut für Übersetzen und Dolmetschen der ZHAW und Autorin der Studie. Sie analysierte rund zwanzig Gesprächsauszüge aus Konsultationen mit Albanisch beziehungsweise Türkisch sprechenden Personen, die an den Universitätsspitälern Basel, Zürich und Bern auf Video festgehalten wurden.
Im Jahr 2020 wurden im Gesundheitswesen 160 274 Einsätze von Dolmetschenden verzeichnet [2]. Das entspricht 439 Konsultationen pro Tag. Dolmetschende sind für eine adäquate medizinische Betreuung fremdsprachiger Personen unerlässlich. Eine gute Arzt-Patienten-Verständigung bildet die Voraussetzung für korrekte Diagnosestellungen und adäquate Behandlungsempfehlungen; laut unterschiedlichen Studien werden 80% der Diagnosen auf Grundlage der Anamnese gestellt. Dolmetschende sorgen somit dafür, dass die medizinische Versorgung bestimmten Qualitäts- und Sicherheitsansprüchen genügt – angesichts des Zustroms von Flüchtenden aus der Ukraine ein höchst aktuelles Thema.
Die Studie beleuchtet erhebliche Verständigungsprobleme im Trialog. So sprechen Dolmetschende etwa von Adern statt von Gefässen oder vom Magen statt von der Gebärmutter. Es kommt auch vor, dass sie den Patientinnen und Patienten nahelegen, etwas zu verschweigen, zum Beispiel Lähmungserscheinungen, oder sie sprechen von kleinen Problemen statt von starken Schmerzen. Weiter verlieren Gefühlsäusserungen oft ihre Tonalität, so dass das ärztliche Fachpersonal nicht darauf eingehen kann. Das falle im spontanen Gespräch nicht weiter auf, erklärt Gertrud Hofer, da die Ärztin resp. der Arzt die Sprache der Patientin oder des Patienten nicht versteht.
Laut Gertrud Hofer lässt sich ein solches Eingreifen in die Äusserungen von Patientinnen und Patienten damit erklären, dass Dolmetschende sich als Vermittelnde ­sehen und ein Rollenverständnis haben, das sie legitimiert, Sachverhalte auszulassen oder eigene Gedanken einzufügen. Dazu kommt, dass sie oft nicht genügend ausgebildet sind. Sie haben zwar die Möglichkeit, Weiterbildungskurse zu belegen, aber eine spezifische Ausbildung an einer Hochschule haben die wenigsten.

Tipps für das Gespräch mit ­Dolmetschenden

Vor dem Gespräch:
– Die dolmetschende Person über den Grund der Konsultation und über die Patientin oder den Patienten informieren.
– Die dolmetschende Person darauf hinweisen, dass sie bei Unklarheiten intervenieren soll, wenn die Patientin oder der Patient verwirrt ist oder wenn ihr etwas Spezielles auffällt. Dasselbe gilt, wenn die Ärztin oder der Arzt zu schnell spricht oder einen Satz nicht beendet.
– Der Patientin oder dem Patienten mitteilen, dass alles übersetzt wird und die Konsultation vertraulich ist.
Während des Gesprächs:
– Langsam sprechen, kurze Sätze bevorzugen und Pausen einlegen. 
– Ganze Sätze formulieren, Ellipsen vermeiden. 
– Auf Fachjargon verzichten, komplexe Fachbegriffe erläutern. 
– Blick auf die Patientin oder den Patienten richten und auf Gesichtsausdruck und Gestik achten.
– Sich so setzen, dass man sowohl die Patientin oder den Patienten als auch die dolmetschende Person im Blickfeld hat.
– Der dolmetschenden Person mit einem leichten Kopfnicken signalisieren, dass sie an der Reihe ist.
Nach dem Gespräch:
– Sich vergewissern, dass die Patientin oder der Patient das Gesagte verstanden hat. Zum Beispiel nachfragen, ob noch etwas unklar ist, und sie oder ihn bitten zu wiederholen, welche Behandlung sie erhält.
– Nachbesprechung mit der dolmetschenden Person: Hat sie sich wohl gefühlt? Ist ihr etwas Ungewöhnliches an der Patientin oder dem Patienten aufgefallen? Gibt es kulturelle Besonderheiten, die man kennen sollte?

Auf wirre Aussagen hinweisen

Wie sieht es in der Praxis aus? Feyrouz Ounaies verfügt über das Zertifikat für interkulturell Dolmetschende und 30 Jahre Erfahrung. Sie weiss um die Wichtigkeit ­einer getreuen Wiedergabe: «Ich bemühe mich, so zu übersetzen, wie die Patientin oder der Patient sich ausdrückt, auch wenn das Gesagte wirr klingt. Wenn ich Sätze ändere, dann nur, wenn ich die betroffene Person sehr gut kenne und mir sicher bin zu wissen, was sie meint.» Und genau hier können Probleme entstehen. Melissa Dominicé Dao, leitende Ärztin der Abteilung für Allgemeine Medizin des Universitätsspitals Genf (HUG) und Spezialistin für Arzt-Patienten-Kommunikation, betont: «Ich erwarte von einem Dolmetscher, dass er mir sagt, wenn der Patient sich seltsam ausdrückt. Es kam schon vor, dass ich völlig ins Schwimmen gekommen bin, weil der oder die Dolmetschende sich bemühte, den konfusen Äusserungen des Patienten einen Sinn zu geben.» Denn es stehe viel auf dem Spiel, so Sophie Durieux, zuständige Ärztin für das Programme Santé Migrants am HUG: «Eine wirre Sprache kann ein entscheidender anamnestischer Faktor sein. Aufgehübschte Sätze können Fehldiagnosen begünstigen.»

Fachchinesisch vermeiden

Während Dolmetschende das Gesagte möglichst treu übersetzen müssen, spielt das ärztliche Personal eine ebenso wichtige Rolle, um Verständnisprobleme zu vermeiden, beispielsweise durch ein passendes Vokabular: «Wir müssen uns bewusst sein, dass Dolmetschende keine Gesundheitsfachleute sind. Daher sollte man Fachjargon vermeiden und komplizierte Begriffe erläutern. Das müssen wir auch bei nicht fremdsprachigen Patientinnen und Patienten beachten», so Sophie Durieux, in deren Abteilung etwa 80% der Konsultationen in Anwesenheit von Dolmetschenden stattfinden. Ein weiterer wichtiger Punkt: Es sollte in kurzen, vollständigen Sätzen gesprochen werden. Laut der ZHAW-Studie neigen Ärztinnen und Ärzte zu elliptischen Auslassungen und unvollständigen Sätzen.
Allerdings arbeiten nicht alle Ärztinnen und Ärzte regelmässig mit Dolmetschdiensten zusammen und haben daher möglicherweise falsche Erwartungen, was dazu führt, dass die gesamte Verantwortung für das Gespräch den Dolmetschenden aufgebürdet wird. Ein Fehler, nach Meinung von Melissa Dominicé Dao: «Der Arzt muss die Kontrolle über die Situation behalten und korrektiv eingreifen, wenn das Gespräch an ihm vorbeigeführt wird oder Informationen nur unvollständig zu ihm durchdringen. Es ist seine Konsultation; er behandelt den Patienten.» Eingreifen sollte die Ärztin resp. der Arzt auch, wenn die Patientin oder der Patient das Gesicht verzieht oder etwas mehrmals wiederholt.
In der Studie wird deutlich, dass die medizinischen Fachleute zu kommunikativen Fehlschlägen beitragen, weil sie die Komplexität des Dolmetschens unterschätzen. «Ärztinnen und Ärzte schenken den Dolmetschenden mehr Vertrauen als den Patientinnen und Patienten und sprechen mit den Dolmetschenden über letztere statt mit ihnen», erläutert die Linguistin.

Ausbildung von Sprach- und Kulturmittelnden

Die 1999 gegründete schweizerische Interessengemeinschaft für interkulturelles Dolmetschen und Vermitteln INTERPRET nimmt im Auftrag des Bundes Aufgaben im Zusammenhang mit der Befähigung und Qualitätssicherung wahr. Sie hat ein Ausbildungs- und Qualifikationssystem mit zwei Qualifizierungsebenen geschaffen: dem Zertifikat und dem eidgenössischen Fachausweis, der die Vertiefung von drei Modulen (Psychotherapie, Telefondolmetschen und Gerichtsdolmetschen) ermöglicht. Seit 2005 haben 1500 Dolmetschende das Zertifikat und 150 den eidgenössischen Fachausweis erworben. Das System wird momentan komplett überarbeitet, so Geschäftsleiterin Lena Emch-Fassnacht. Die Umstrukturierung soll es den Dolmetschenden gestatten, sich gezielter auf einen bestimmten Bereich (Asyl und Justiz, Soziales und Bildung, Gesundheit) zu spezialisieren. Dass nicht alle Spitäler über eine geregelte Zusammenarbeit mit einem Dolmetschdienst verfügen, liegt oft an der Finanzierung. «Wir wollen mit den Tarifpartnern eine entsprechende Lösung erarbeiten, damit die Kostenübernahme für Dolmetschleistungen geregelt wird», erklärt Lena Emch-Fassnacht. Sie hofft, dass die Ukrainekrise diesen Prozess beschleunigt.

Bedeutung von Gestik und Blick

Für den korrekten Ablauf des Trialogs ist die Metakommunikation von zentraler Bedeutung und muss von der ärztlichen Fachperson durch ihre Blickführung und eine adäquate Körperhaltung orchestriert werden. Sie sollte sowohl die Patientin oder den Patienten als auch die dolmetschende Person im Blickfeld behalten, den Blick auf das Gegenüber richten und wechselweise das Wort erteilen. Auf diese Weise gestaltet sich das Gespräch flüssiger. Mit den telefonischen Konsultationen während der Pandemie ging diese Metakommunikation verloren. «Ohne visuelle Orientierung haben wir uns ständig unterbrochen», so die Allgemeinmedizinerin vom HUG.
Ein gewisser Kontrollverlust ist jedoch wegen der Mündlichkeit und der inhärenten Spontaneität von Gesprächen unvermeidlich. In der Regel sind die Ärztinnen und Ärzte sich dessen bewusst. Die professionelle Dolmetscherin Feyrouz Ounaies erklärt: «Alles Wort für Wort zu übersetzen ist unmöglich. Die Sprache ist Ausdruck einer ganzen Kultur.» Es gebe jedoch Strategien, um diesen Kontrollverlust auszugleichen, betont Sophie Durieux. So bittet sie die Patientinnen und Patienten beispielsweise zu wiederholen, welche Behandlung sie bekommen.
Giulia May / Unsplash

Sensibilisieren für den Trialog

Für Feyrouz Ounaies verläuft ein Gespräch dann optimal, wenn die Ärztin oder der Arzt der dolmetschenden Person auf Augenhöhe begegnet. «Im Idealfall ist die ärztliche Fachperson bereit zu einem kurzen Austausch im Vorfeld der Konsultation, damit wir vorab auf dem gleichen Informationsstand sind. Nach der Konsultation ist es wichtig, zu besprechen, ob während des Gesprächs etwas Besonderes passiert ist, und uns über kulturelle Besonderheiten auszutauschen. Das schafft eine Atmosphäre von gegenseitigem Vertrauen und Respekt.» Sie erläutert vor der Konsultation ihrem ärztlichen Gegenüber ihre Arbeitsweise – dass die Sprechsequenzen vorzugsweise kurz sein sollten und eine Dreiecksanordnung ­wünschenswert ist.
Laut Melissa Dominicé Dao ist es von entscheidender Bedeutung, dass angehende Medizinerinnen und Mediziner bereits in der Ausbildung für die Arbeit mit Dolmetschenden sensibilisiert werden. In Genf ist ein entsprechender Kurs obligatorischer Teil des Medizinstudiums. In der Abteilung für Allgemeine Medizin müssen Ärztinnen und Ärzte in der praktischen Ausbildung mindestens eine Stunde pro Jahr diesem Thema widmen. Die Ärzteschaft muss die wichtige Rolle der Dolmetschenden als Neutralitätsgaranten verstehen. Sophie Durieux betont: «Bei Personen, die eine traumatische Erfahrung gemacht haben, müssen professionelle Dolmetschende beigezogen werden, die dem Berufsgeheimnis unterliegen.» Es ist nicht empfehlenswert, verlegenheitshalber Angehörige als Sprachmittler heranzuziehen. Am HUG wurde ein Leitbild bezüglich der Anforderungen im Umgang mit Dolmetschenden ausgearbeitet, das die medizinischen Fachpersonen kennen müssen [3].
Auf der einen Seite gebe es viele Erwartungen an die Dolmetschenden, auf der anderen Seite fehle es an einer national koordinierten Ausbildungsfinanzierung, fasst Lena Emch-Fassnacht, Geschäftsleiterin von INTERPRET, zusammen. Angesichts der derzeitigen starken Nachfrage nach Dolmetschenden für die ukrainische Sprache wächst jedoch die Sensibilität für dieses Thema.
julia.rippstein[at]emh.ch
1 Hofer G (in Vorb.). Gedolmetschte Ärzt:innen-Patient:innen-Gespräche. Phänomene und Probleme aus gesprächsanalytischer und aus dolmetschwissenschaftlicher Perspektive. Tübingen: Narr (360 S., ISBN 978-3-8233-8554-7, ca. € 78,00, ET 10/2022).