FMH-Tarifmonitoring – Auswirkungen sichtbar machen

Covid-19: Medizinische Leistungen werden stärker nachgefragt

FMH
Ausgabe
2022/23
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20830
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(23):760-762

Affiliations
Expertin, Abteilung Ambulante Versorgung und Tarife, FMH

Publiziert am 07.06.2022

Medizinische Leistungen rund um Covid-19 sind inzwischen ein fester Bestandteil des medizinischen Alltags, und es ist unbestritten, dass wir künftig mit dem Virus leben werden. Die Abrechnungszahlen der ärztlichen ambulanten Leistungen 2021 zeigen unter anderem, dass diese Tatsache als zusätzlicher Faktor bei Analysen zu Kostenentwicklungen berücksichtigt werden muss.
Im zweiten Jahr der Pandemie wurden die Menschen wieder mobiler, ein Grossteil der Bevölkerung konnte geimpft werden. Die «Normalität» scheint inzwischen greifbar. Die Analyse der Abrechnungszahlen der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte aus dem Jahr 2021 zeigt ein differenziertes Bild: Im Anschluss an den ­pandemiebedingten Rückgang hat die Nachfrage nach medizinischen Leistungen wieder zugenommen, Routinekontrollen wurden nachgeholt, und Patientinnen und Patienten entschieden sich wieder für den persönlichen Kontakt anstelle des Telefonats oder des Videocalls mit ihrem Arzt des Vertrauens.
Abbildung 1: Entwicklung der Anzahl Patienten pro Arztpraxis im Vergleich zum Vorjahr, ärzteeigene Datensammlung, nicht hochgerechnet, alle Facharztdisziplinen, Gesetz: KVG, Tarif: TARMED.

Das Bedürfnis nach ärztlichem Rat wächst

Die Anzahl Personen, die 2021 einen Arzt oder eine Ärztin aufsuchten, ist so hoch wie nie, Patientinnen fragten im Vergleich zu den Jahren vor der Pandemie häufiger medizinische Leistungen nach. Corona hat zu einer Verhaltensänderung zumindest bei einem Teil der Bevölkerung geführt. Dies lässt sich an den Detailanalysen zum Jahr 2021 in der ärzteeignen Datensammlung sehr gut ablesen. Die Anzahl Patienten pro Praxis stieg im Vergleich zum Vorjahr um mehr als 4% – im Vergleich zu 2017 sogar um mehr als 8% [1].
Dieser Trend ist dabei nicht für alle Facharztgruppen identisch: Die Nachfrage nach kardiologischen Leistungen ist beispielsweise um mehr als 7% gestiegen. Dieses Wachstum ist unter anderem auf verschobene Jahreskontrollen zurückzuführen. Ein grosser Teil des Anstiegs ist auf Patientinnen und Patienten zurückzuführen, welche Abklärungen zu möglichen Impfnebenwirkungen benötigten. Die Kosten pro Patient und Patientin blieben dabei fast stabil.

Kosten unter dem Niveau der Vorjahre

Im Vergleich dazu verzeichneten Hausärztinnen und Hausärzte 2021 einen Zuwachs an Patientinnen und Patienten von 4,11%, diese suchten jedoch ihre Ärztin häufiger auf als in den Vorjahren. Die Kosten pro Sitzung blieben dabei unter dem Niveau der Jahre vor der Pandemie. Aufgrund der wachsenden Zahl an Konsultationen stiegen die TARMED-Kosten pro Patient im Vergleich zu den Vorjahren leicht an (+1,4%). Diese ­Zunahme der Konsultationen erklärt sich durch Abklärungen von Erkältungskrankheiten und Ausschluss oder Bestätigung einer Infektion mit Covid-19. Ein Viertel aller Tests auf Covid-19 wurde in nieder­gelassenen Praxen durchgeführt. Wer mit Sym­ptomen ihre Arztpraxis aufsuchte, benötigte anschliessend eine Behandlung, ob der Test positiv oder negativ ausfiel. Mit zunehmendem gesellschaftlichem Leben haben die Erkältungskrankheiten ab April 2021 deutlich zugenommen, was insbesondere in den Abrechnungsdaten von pädiatrischen Praxen zu sehen ist: Hier hat die Anzahl der Patienten 2021 im Vergleich zum Vorjahr deutlich zugenommen (Altersgruppe 0–4 Jahre: +10,21%). Die beiden Beispiele zeigen, wie ­unterschiedlich sich die Pandemiesituation auf die Facharztdisziplinen auswirkt und wie wichtig eine ­differenzierte Analyse der Kostenentwicklungen ist.
Abbildung 2: Entwicklung der Anzahl Patienten pro Arztpraxis für die Altersgruppen 15–34 Jahre, ärzteeigene Datensammlung, nicht hochgerechnet, alle Facharztdisziplinen, indexiert ab 2017, Gesetz: KVG, Tarif: TARMED.
Was bei der Analyse der Patienten nach Altersgruppe auffällt, ist die Gruppe von Personen zwischen 15 und 34 Jahren, welche im Vergleich zur Gesamtbevölkerung häufiger einen Arzt oder eine Ärztin aufsuchten. Betrachtet man die 15–24-Jährigen bzw. 25–34-Jährigen separat, unterscheiden sich diese beiden Altersgruppen wie folgt: Die jüngeren Patienten suchten seltener einen Arzt auf als die 25–34-Jährigen, dann jedoch häufiger. Dieser Trend ist bereits seit 2017 zu beobachten und wurde durch die Pandemie verstärkt.
Die Analyse nach Altersgruppen zeigt weiterhin, dass die TARMED-Kosten pro Patient zwischen den 15–34-Jährigen im Vergleich zur älteren, teilweise multimorbiden Bevölkerungsgruppe stärker ansteigen. Dies ist ein Indikator für ein wachsendes Patientenbedürfnis. Dass ein solches durch die Ärzteschaft nicht per se beeinflussbar ist, wird im folgenden Abschnitt aus­geführt. Von einem arztinduzierten Kostenzuwachs bei älteren, multimorbiden Patienten kann ebenfalls keine Rede sein: Das TARMED-Volumen ist bei Patienten ab 75 Jahren nahezu stabil, und die Anzahl Sitzungen nimmt seit 2014 ab.
Die Zusammensetzung der Leistungen pro Patient hat sich 2021 kaum verändert. Die Gesprächsleistungen nehmen leicht zu und machen weiterhin den grössten Anteil neben Untersuchungs- und Behandlungsleistungen aus.
Abbildung 3: Entwicklung der Anzahl Patienten pro Arztpraxis für die Altersgruppen 15-34 Jahre sowie ab 75 Jahren, ärzteeigene Datensammlung, nicht hochgerechnet, alle Facharztdisziplinen, indexiert ab 2017, Gesetz: KVG, Tarif: TARMED.

Differenzierte Betrachtung

Die Entwicklung der Gesundheitskosten ist in aller Munde [2]. Auf dem politischen Parkett häufen sich Vorstösse und Ideen zur Eindämmung des Kostenwachstums [3]. Bei der Beurteilung möglicher Massnahmen müssen die Ursachen dieser Gesundheitskosten-Entwicklung unbedingt zuerst analysiert werden und ­Entscheidungen nicht ohne fundierte Grundlagen ge­troffen werden. Denn unter den derzeit zur Diskussion stehenden Kostendämpfungsmassnahmen werden insbesondere diejenigen leiden, welche auf eine gute und qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung angewiesen sind – unsere Patientinnen und Patienten.
Interessant ist die unterschiedliche Betrachtung der Kostenträger auf die Kostenentwicklungen: Pius Zängerle, Direktor curafutura, rückt die Entwicklungen 2021 ins richtige Licht und relativiert wie folgt:
«Der durchschnittliche Anstieg über zehn Jahre zeigt daher ein genaueres Bild: Es sind +2,5% pro Jahr. Dieser Wert ist keineswegs katastrophal, sondern liegt sogar unter dem Zielwert, den die Expertengruppe des Bundesrates 2017 vorgeschlagen hatte» [4].

Volumen pro Patient (TARMED)

Das Volumen pro Patient gibt die Kosten (Anzahl Taxpunkte) pro Patient an, welche durch einen Arzt oder eine Ärztin innerhalb einer Periode im TARMED abgerechnet worden sind.

Sitzungen pro Patient

Die Anzahl Sitzungen pro Patient gibt an, wie oft ein Patient innerhalb einer Periode bei einem Arzt / einer Ärztin in Behandlung war. Als Sitzung gilt ein Patientenkontakt pro Tag.

Patienten pro Praxis

Die Anzahl Patienten pro Praxis gibt an, wie viele Patienten (Erstkontakte) innerhalb einer Periode in einer Arztpraxis in Behandlung waren. Als Arztpraxis gilt eine ZSR-Nummer.
santésuisse hingegen zeigt sich den Entwicklungen gegenüber gewohnt apokalyptisch:
«Pro versicherte Person sind die Kosten im Jahr 2021 um 5,1 Prozent gestiegen. Damit erhöhen sich die Kosten in der Grundversicherung so stark wie seit dem Jahr 2013 nicht mehr» [5].
Kosten können aus unterschiedlichen Gründen ansteigen, welche nicht gleichbedeutend mit einer arztinduzierten Mengenausweitung sind. Wenn beispielsweise
Abbildung 4: TARMED-Leistungen pro Patient nach Kategorie, ärzteeigene Datensammlung, nicht hochgerechnet, alle Facharztdisziplinen, indexiert ab 2017, Gesetz: KVG.
– mehr versicherte Personen zur Ärztin (Erstkontakt) gehen, steigen die Kosten insgesamt – dieses Wachstum ist nachfrageinduziert und nicht den Ärzten anzulasten;
– mehr versicherte Personen häufiger zum Arzt gehen (Folgekontakte), steigen die Kosten ebenfalls; auch dies kann nicht automatisch mit einer ärzteinduzierten Mengenausweitung gleichgesetzt werden.
Die Pandemie ist ein weiterer exogener Faktor, welcher sowohl die Kostenentwicklung als auch die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten beeinflusst. Weiterhin wurde die «Ambulantisierung» durch die Pandemie weiter gefördert: Wo möglich, meiden viele Patientinnen und Patienten einen stationären Aufenthalt, wenn ein Eingriff auch ambulant möglich ist. Welchen Einfluss Covid-19 künftig auf die Gesundheitskosten hat, wird sich in den kommenden Jahren zeigen. Das Thema Long Covid ist weiterhin eine grosse Unbekannte, deren Auswirkungen und nachhaltige Verhaltensänderungen in der Bevölkerung nicht unterschätzt werden dürfen [6].
Es zeigt sich einmal mehr, dass sich bei Kostenentwicklungen Einflussfaktoren überlagern, die nur sehr eingeschränkt durch die Ärzteschaft steuerbar sind. Die Einführung von Kostenzielen beträfe alle Patientengruppen. In der Folge müssten Ärztinnen und Ärzte einer Nachfrage begegnen, die sie selbst nicht steuern können. Dessen ungeachtet würden sie, wie es die medizinische Sorgfaltspflicht gebietet, ihre Verantwortung wahrnehmen und alle Patientinnen und Patienten behandeln.

Machen Sie mit bei der ärzteeigenen Datensammlung!

Dank der ärzteeigenen Datensammlungen kann die FMH ­umfassende Analysen von Abrechnungsdaten im praxisambulanten Bereich vornehmen. Sie ist damit in der Lage, die ärztliche Perspektive von Kostenentwicklungen im Gesundheitswesen zu beschreiben und einzuordnen. Die Praxisdaten von 2021 verdeutlichen erneut, dass sich bei Kostenentwicklungen verschiedene Einflussfaktoren überlagern, die nur sehr eingeschränkt durch die Ärzteschaft steuerbar sind.
Die FMH erhält alle Daten aggregiert und vollständig ano­ny­misiert: Daten zu einer einzelnen Arztpraxis oder einem Patienten können zu keinem Zeitpunkt eingesehen werden [7]. Die Analysen der FMH tragen zur öffentlichen und politischen Meinungsbildung in tarifpolitischen und gesundheitswirtschaftlichen Fragen bei. Sie sind nur dank jener Arztpraxen möglich, welche ihre Abrechnungsdaten an die kantonalen Trustcenter liefern.
Die Zahl der Datenlieferanten nimmt stetig zu, und es ist unser Ziel, die Abdeckung weiter zu erhöhen. Wir bedanken uns bei allen Ärztinnen und Ärzten, die mit ihrer Datenlieferung die Datensammlung verbessert haben, sie mitfinanzieren und es der FMH damit ermöglichen, so aussagekräftige Analysen durchzuführen. Im Datenpool der Schweizer Ärzteschaft sind aktuell 345 Mio. Rechnungskopien mit rund 3,5 Milliarden.
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