Medizin-ethische Richtlinien zum Umgang mit Sterben und Tod in der Standesordnung

Leitplanken für Behandlungen und Betreuung am Lebensende

FMH
Ausgabe
2022/24
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20844
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(24):796-797

Affiliations
a Dr. med., Präsidentin FMH; b Prof. Dr. med., Präsident SAMW

Publiziert am 14.06.2022

Menschen, die mit dem eigenen Sterben konfrontiert sind, zu behandeln und begleiten ist eine zentrale Aufgabe der Medizin. Die am 19. Mai 2022 in die Standesordnung der FMH übernommenen SAMW-Richtlinien Umgang mit Sterben und Tod bieten der heutigen gesellschaftlichen Realität entsprechende Leitplanken zu Themen wie Selbstbestimmung, Leiden und Leidenslinderung bis hin zur ärzt­lichen Suizidhilfe.
Die neu in die Standesordnung der FMH integrierten medizin-ethischen Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) Umgang mit Sterben und Tod unterscheiden sich von der ersetzten Fassung aus dem Jahr 2004 in wesent­lichen Punkten. Sie wurden bereits 2018 von der SAMW mit dem Ziel veröffentlicht, Gespräche über Sterben und Tod zu erleichtern und die gemeinsame Entscheidfindung und Vorausplanung der Behandlungen und Massnahmen am Lebensende zu fördern. Thematisiert werden z.B. das Recht auf Selbstbestimmung, Fragen rund um Lebensqualität, Leiden und Leidens­linderung, die Betreuung und Unterstützung der Angehörigen oder Entscheidungsmodelle wie ­Advance Care Planning.
Ron Szalata / Unsplash
Diese Erweiterungen tragen den medizinischen und gesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung und wurden in der 2018 von der SAMW durchgeführten öffentlichen Vernehmlassung insgesamt sehr positiv aufgenommen. Zu einer kontroversen Diskussion führte ausschliesslich das Kapitel zur Suizidhilfe (6.2.1). Dieses war 2018 auch der Grund, dass die Ärzte­kammer die Übernahme der Richtlinien in das ärztliche Standesrecht ablehnte. Damit blieb standesrechtlich die Fassung von 2004 gültig, während die SAMW die Version 2018 bereits in Kraft gesetzt hatte. Für die Fachpersonen entstand ein verwir­render, der Sache nicht dienlicher Zustand mit zwei unterschiedlichen Richtlinien.
SAMW und FMH suchten seither einen Weg, um diese unbefriedigende und zu Unsicherheiten führende ­Situation aufzulösen. Eine gemeinsame Arbeitsgruppe setzte sich differenziert mit dem Kapitel zur Suizidhilfe und den dort verwendeten Begriffen auseinander und nahm präzisierende Anpassungen vor. Diese wurden von den verantwortlichen SAMW-­Gremien im Jahr 2021 genehmigt: Zentrale Ethikkommission (ZEK), ­Vorstand und Senat. Auf eine erneute öffentliche Vernehmlassung wurde verzichtet, weil die Anpassungen im Verständnis der SAMW keine materielle Änderung der Richtlinien darstellen. Mit dem Entscheid der Ärztekammer vom 19. Mai 2022, diese angepassten Richtlinien in die Standesordnung der FMH aufzunehmen, liegt nur noch eine gültige Fassung der Richtlinien zum Umgang mit Sterben und Tod vor. Diese sind auf Deutsch, Französisch, ­Italienisch und Englisch online zugänglich: 
www.samw.ch/richtlinien.

Unterschiede zur Version 2018

Die von der SAMW 2018 in Kraft gesetzten Richtlinien waren bisher nicht Teil der FMH-Standesordnung. Welche Unterschiede bestehen zwischen den Versionen 2018 und 2021? Der aktuelle Text benennt explizit, was vorher implizit enthalten war: Suizidhilfe bei gesunden Personen ist im Sinne dieser Richtlinien medizin-ethisch nicht vertretbar.
Weiter enthält die Fassung 2021 eine Ergänzung in ­Bezug auf Personen mit Sterbewunsch, die an einer psychischen Krankheit leiden: «Ist davon auszugehen, dass der Suizidwunsch ein aktuell vorliegendes Sym­ptom einer psychischen Störung ist, darf der Arzt keine Suizidbeihilfe leisten und muss dem Patienten die Behandlung der Krankheit anbieten.» Damit ist um­gekehrt klar, dass bei urteilsfähigen Personen nicht ­allein aufgrund einer bestehenden psychia­trischen Vorgeschichte ein ärztlich assistierter Suizid grundsätzlich ausgeschlossen werden darf, sofern alle medizin-ethisch geforderten Bedingungen erfüllt sind.
Um in jedem Fall sicherzustellen, dass der Sterbewunsch wohlerwogen und dauerhaft ist, schreiben die Richtlinien neu vor, dass der Arzt bzw. die Ärztin mindestens zwei ausführliche Gespräche im Abstand von mindestens zwei Wochen mit der betroffenen Person zu führen hat. Eine Abweichung ist in begründeten Ausnahmefällen jedoch möglich.
Die Bedingung, dass die Krankheitssymptome und/oder Funktionseinschränkungen die Ursache unerträglichen Leidens sind und der Sterbewunsch für den Arzt oder die Ärztin nachvollziehbar sein muss, wird mit dem Hinweis ergänzt, dass die Schwere des Leidens durch eine entsprechende Diagnose und Prognose zu substantiieren ist. Es ist weder möglich noch gefordert, das Ausmass des Leidens einer Patientin bzw. eines ­Patienten objektiv festzustellen. Dies halten auch die Richtlinien in Übereinstimmung mit der Fassung von 2018 fest. Die Tatsache, dass eine Diagnose vorliegt, kann allein nicht ausreichend sein dafür, dass eine Ärztin oder ein Arzt einen bestehenden Leidenszustand als nachvollziehbar einschätzt. Die Diagnose soll jedoch in diese Beurteilung einfliessen.
Die Richtlinien zielen darauf ab, die Selbstbestimmung aller Beteiligten – der Patientinnen und Patienten, der Angehörigen und der medizinischen Fachpersonen – zu achten und zu schützen. Sie bieten klare, an der ­klinischen Realität orientierte Leitplanken für die ärztliche Suizidhilfe. Damit gewährleisten sie auch mehr Sicherheit für Ärztinnen und Ärzte, die zur Suizidhilfe bereit sind. Für den Teil der Ärzteschaft, der die Suizidhilfe ablehnt, ändert sich nichts.

Orientierung und Rechtssicherheit

Die Richtlinien widmen medizinischen Handlungen, die möglicherweise oder sicher den Eintritt des Todes beschleunigen, das umfangreichste Kapitel, weil zahlreiche rechtliche und medizin-ethische Fragen zu ­berücksichtigen sind. Sie erläutern allgemein akzeptierte ärztliche Handlungen wie die Unterlassung oder den Abbruch lebenserhaltender Massnahmen oder die palliative Sedierung. Darüber hinaus fassen sie die in der Schweiz nicht zulässigen ärztlichen Handlungen zusammen.
Für den Bereich der kontrovers diskutierten Handlungen verfolgen die Richtlinien ein zweifaches Ziel: Sie gehen vom Grundsatz aus, dass die genuine ärztliche Rolle im Umgang mit Sterben und Tod darin besteht, Symptome zu lindern und die Patientinnen und Pa­tienten zu begleiten. Es gehört nicht zu den ärztlichen Aufgaben, von sich aus Suizidhilfe anzubieten, und es gibt keine Verpflichtung, diese zu leisten. Für Ärztinnen und Ärzte, die Suizidhilfe leisten wollen, wird als Unterstützung formuliert, unter welchen Umständen die ärztliche Beihilfe bei der Verwirklichung des ­Suizidwunschs im Sinne der vorliegenden Richtlinien medizin-ethisch vertretbar ist.
Die Richtlinien schaffen einen geschützten Raum für medizinische Fachpersonen mit unterschiedlichen Überzeugungen zu kontrovers diskutierten Handlungen. Sie gewährleisten Orientierung und Rechtssicherheit sowohl für Ärztinnen und Ärzte, die Suizidhilfe ablehnen, wie für jene, die diese durchführen wollen.
Die Richtlinien Umgang mit Sterben und Tod (2018, angepasst 2021) sind auf Deutsch, Französisch, Italienisch und Englisch erhältlich → samw.ch/richtlinien

Das Wichtigste in Kürze

• Die SAMW-Richtlinien Umgang mit Sterben und Tod (2018, angepasst 2021) sind neu Bestandteil der FMH-Standesordnung. Sie ersetzen die bisherige Version aus dem Jahr 2004 (aktualisiert 2013).
• Die Richtlinien nehmen Themen auf, die bisher fehlten, z.B. Leitlinien zum Umgang mit Sterbewünschen und Entscheidungsmodelle wie Advance Care Planning.
• Im kontrovers diskutierten Kapitel zur Suizidhilfe wurde das 2004 formulierte Kriterium «Die Erkrankung des Pa­tienten rechtfertigt die Annahme, dass das Lebensende nahe ist» ersetzt durch: «Die Krankheitssymptome und/oder Funktionseinschränkungen des Patienten sind schwerwiegend, was durch eine entsprechende Diagno­se und Prognose zu substantiieren ist. Sie sind für ihn Ur­sache unerträglichen Leidens. Der Sterbewunsch muss für den Arzt bzw. die Ärztin nachvollziehbar sein.»
Die Richtlinien Umgang mit Sterben und Tod (2018, angepasst 2021) sind auf Deutsch, Französisch, Italienisch und Englisch erhältlich → samw.ch/richtlinien
Schweizerische Akademie der Medizinischen ­Wissenschaften (SAMW)
Haus der Akademien
Laupenstrasse 7
CH-3001 Bern
ethics[at]samw.ch