Die neue gesetzliche Regelung und ihre Umsetzung

Patientendaten im Wegweisungsvollzug

FMH
Ausgabe
2022/2526
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20857
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(2526):845-848

Publiziert am 22.06.2022

Welche Rolle spielen Ärzte und Ärztinnen, wenn Patienten mit einem rechtskräftigen Wegweisungsentscheid und mit der zwangsweisen Ausschaffung konfrontiert sind? Haben Behörden Einsicht in sensible Daten? Wer beurteilt die Transportfähigkeit? Diese und weitere Fragen haben in jüngster Zeit aufgrund einer Gesetzesänderung besondere Aktualität erlangt. Der nachfolgende Beitrag fasst die jüngste Entwicklung zusammen.

Die Vorgeschichte in aller Kürze

SAMW, FMH sowie die Konferenz Schweizerischer Gefängnisärzte stehen seit dem Jahr 2013 im Dialog mit den für die Ausschaffung zuständigen Bundesbehörden (zunächst BFM, Bundesamt für Migration; heute SEM, Staatssekretariat für Migration). In zwei Arbeitsgruppen wurden einerseits der medizinische Datenfluss (d.h. die Weitergabe von Patientendaten an die Ausschaffungsbehörden) und andererseits die mit der Ausschaffung verbundenen und dieser entgegenstehenden Gesundheitsrisiken (Kontraindikationen) diskutiert und bearbeitet. Im Jahr 2015 wurde durch die SAMW die Richtlinie Ausübung der ärztlichen Tätigkeit bei inhaftierten Personen ergänzt um ein Kapitel bzw. Anhänge «Medizinische Untersuchung in der Ausschaffungshaft» und «Medizinische Untersuchung durch Begleitärzte». In der Folge kam es zu einem weitgehenden Konsens mit der Erarbeitung des Formulars «Ärztlicher Bericht im Rückkehrbereich/Wegweisungsvollzug», in dem das genaue Vorgehen festgelegt wurde. Sowohl SAMW (Schweizerische Akademie der Medi­zinischen Wissenschaften), FMH (Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte) als auch KSG (Kon­ferenz Schweizerischer Gefängnisärzte) stimmten ­diesem Formular zu, welches für die Weitergabe medizi­nischer Daten das Einverständnis der Patientin resp. des Pa­tienten oder eine förmliche Entbindung vom Arzt­geheimnis voraussetzt.
Obschon auch die Bundesbehörden ausdrücklich anerkannten, dass gestützt auf diese Zusammenarbeit und des erwähnten Formulars die Zusammenarbeit zwischen den behandelnden Ärztinnen und Ärzten und den Ausschaffungsbehörden weitestgehend reibungsfrei ablief, kam es auf Druck der Kantone – und noch während der laufenden Verhandlungen – im Jahr 2015 zum Erlass einer neuen Gesetzesbestimmung im Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG). Der am 1. Januar 2018 in Kraft getretene Art. 71b AIG lautet wie folgt:
Art.  71b163 Weitergabe medizinischer Daten zur Beurteilung der Transportfähigkeit
1. Die behandelnde medizinische Fachperson gibt auf Anfrage die für die Beurteilung der Transportfähigkeit notwendigen medizinischen Daten von Personen mit einem rechtskräftigen Weg- oder Ausweisungsentscheid an die folgenden Behörden weiter, soweit diese die Daten zur Erfüllung ihrer gesetz­lichen Aufgaben benötigen:
a. die für die Weg- oder Ausweisung zuständigen kantonalen Behörden;
b. die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des SEM, die für die zentrale Organisation und Koordination des zwangsweisen Weg- und Ausweisungsvollzugs zuständig sind;
c. die medizinischen Fachpersonen, die im Auftrag des SEM die medizinische Überwachung beim Vollzug der Weg- oder Ausweisung im Zeitpunkt der Ausreise wahrnehmen.
2. Der Bundesrat regelt die Aufbewahrung und ­Löschung der Daten.
Die Ärzteschaft und die seit 2013 involvierten Vertreterinnen und Vertreter der SAMW, FMH und KSG wurden zu dieser Gesetzesbestimmung nicht konsultiert. Die Verabschiedung des Erlasses während der noch laufenden Gespräche mit dem SEM führte zu einem erheblichen Vertrauensverlust. Die neue gesetzliche Regelung widerspricht zudem dem Konsens, den die Ärzteschaft mit dem SEM in langem Ringen 2017 gefunden hatte. Wenn das gemeinsam erarbeitete Formular zur Weiterleitung der medizinischen Information unter Wahrung des Berufsgeheimnisses ausser Kraft gesetzt wird, können, so die Befürchtung im Anschluss an das Inkrafttreten des neuen Rechts, auch medizinisch vertrau­liche Patientendaten ungefiltert an jede zustän­dige Behörde (Bund, Kanton) gelangen. Dennoch suchte die SAMW zusammen mit den damals am Dialog beteiligten Ärzteorganisationen im Frühjahr 2019 erneut das Gespräch mit dem SEM. Weil gleichzeitig der Umgang mit der neuen Gesetzesbestimmung in der Vollzugspraxis zu erheblichen Unsicherheiten und Schwierigkeiten führte, konnte in zähen Verhandlungen, die sich über drei Jahre hinzogen, eine Verordnungsbestimmung ausformuliert werden, die den ­Anliegen der Ärzteschaft in wesentlichen Teilen Rechnung trägt und die als Grundlage für die weitere ­Zusammenarbeit dienen kann.
Noch im Gange sind weitere Gespräche in der neu ­zusammengesetzten Arbeitsgruppe «Medizinischer Datenfluss» in Zusammenarbeit des SEM mit SAMW, FMH und KSG, die im Rahmen der Umsetzung von Art. 15 der Verordnung über den Vollzug der Weg- und ­Ausweisung sowie der Landesverweisung von aus­ländischen Personen (VVWAL) die Musterprozesse überprüft und anpasst, den medizinischen Informa­tionsfluss klärt und den notwendigen Arztbericht überprüft und anpasst.
Wesley Tingey / Unsplash

Die revidierte Verordnung zum AIG

Am 1. Mai 2022 sind zwei Ausführungsbestimmungen zu Art. 71b AIG in Kraft getreten, Art. 15p und 15q VVWAL, die die Zuständigkeiten und organisatorischen Abläufe näher klären. Die Bestimmungen lauten wie folgt:
Die Ärztin oder der Arzt, die oder der im Auftrag des SEM die medizinische Überwachung beim Vollzug der Weg- oder Ausweisung im Zeitpunkt der Ausreise wahrnimmt, ist für den Entscheid zuständig, ob eine betroffene Person im Rahmen des Vollzugs einer Weg- oder Ausweisung aus medizinischer Sicht transportfähig ist.
1. Die behandelnde Ärztin oder der behandelnde Arzt darf ausschliesslich medizinische Daten weiter­geben, die:
a. ihr oder ihm zum Zeitpunkt der Anfrage zur ­Verfügung stehen; und
b. für die Beurteilung der Transportfähigkeit einer betroffenen Person für den Vollzug einer Weg- oder Ausweisung notwendig sind.
2. Die Stellen nach Artikel 71b Absatz 1 Buchstaben a–c AIG fordern die notwendigen medizinischen Daten bei der behandelnden Ärztin oder dem behandelnden Arzt schriftlich an und teilen ihr oder ihm mit, welche Ärztin oder welcher Arzt gemäss Artikel 15p für den Entscheid betreffend die Transportfähigkeit zuständig ist.
3. Die behandelnde Ärztin oder der behandelnde Arzt informiert die betroffene Person über seine oder ihre gesetzliche Pflicht zur Datenweitergabe.
4. Die behandelnde Ärztin oder der behandelnde Arzt leitet die notwendigen medizinischen Daten unverzüglich an die Ärztin oder den Arzt nach Artikel 15p weiter und informiert gleichzeitig die Stellen nach Artikel 71b Absatz 1 Buchstaben a und b AIG über die Weitergabe der Daten.

Was die Verordnung klärt – und was nicht

Zunächst einmal – und das ist ein bedeutsamer Fortschritt! – wird in der Verordnung klargestellt, dass die im Wegweisungsvollzug oder sonst wie in die Behandlung einbezogenen Ärztinnen und Ärzte keine Verantwortung für den Wegweisungsvollzug haben. Sie müssen keine zusätzlichen Abklärungen treffen oder für die mit dem Wegweisungsvollzug befassten Behörden irgendwelche Gesundheitsdaten erheben. Ob eine medizinische Kontraindikation für den Wegweisungsvollzug gegeben ist, müssen sie nicht beurteilen. Art. 15p VVWAL stellt überdies klar, dass die Beurteilung der Transportfähigkeit zwingend durch eine Ärztin oder einen Arzt erfolgen muss (aktuell sind dies die Ärzte der OSEARA), die vom SEM beauftragt wurden, und nicht durch eine Gesundheitsfachperson ohne ärztliche Ausbildung.
Ferner stellt die Verordnung klar, dass nicht eine ganze Krankenakte weitergegeben wird, sondern ausschliesslich diejenigen Gesundheitsdaten – sofern vorhanden –, die für den Wegweisungsvollzug relevant sind. Das können Diagnosen sein, die einem Wegweisungsvollzug entgegenstehen (Kontraindikationen), oder auch Informationen zu einer während des Transports nötigen Medikation, Hilfsmitteln und dergleichen. Medi­zinische Daten, die keinen Zusammenhang zur Transportfähigkeit haben und die für den Vollzug der Wegweisung nicht erforderlich sind, werden nicht ­weitergegeben.
Gemäss der neuen Verordnung müssen nur Gesundheitsdaten weitergegeben werden, die für den Wegweisungsvollzug relevant sind (Megaflopp | Dreamstime.com).
Es wird zudem (gegenüber der viel zu weit gefassten Gesetzesbestimmung) der Personenkreis deutlich ­eingeschränkt, der die Daten erhält. Diese werden nämlich nur und direkt von der behandelnden Ärztin oder dem behandelnden Arzt an die für den Wegweisungsvollzug zuständige Ärztin oder den Arzt (d.h. derzeit: OSEARA) weitergeleitet, nicht an die Behörden. Die Behörden werden nur über die vollzogene Datenweitergabe informiert.
Schliesslich enthält die Verordnung Angaben zum konkreten Vorgehen, wenn eine Anfrage um Datenherausgabe erfolgt ist. Dabei ist wichtig zu betonen, dass nach einhelliger Auffassung von FMH, SAMW und KSG zuerst und vor allem immer das Gespräch mit dem vom Wegweisungsvollzug betroffenen Patienten gesucht wird. Die Information über die bevorstehende Ausschaffung sollte allerdings nicht durch die Ärztin oder den Arzt erfolgen, sondern durch die mit der ­Ausschaffung beauftragten Behörden. Die Ärztin oder der Arzt ersucht dann die betroffene Person um ­Einwilligung zur Datenweitergabe. Die transparente Information über das Auskunftsersuchen und auch über das weitere Vorgehen ist mit Blick auf das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient von zentraler Bedeutung. Wird die Einwilligung erteilt – was oftmals zutreffen wird, wenn die Diagnose dem Wegweisungsvollzug entgegensteht –, steht das Arztgeheimnis der Datenweitergabe nicht mehr entgegen. ­Allerdings muss die Einwilligung freiwillig und ohne Druck erfolgen. Sie muss sich zudem auf die aktuell vorhandenen Gesundheitsdaten beziehen; deshalb ist beispielsweise eine Pauschaleinwilligung, die im Kontext des Asylgesuchs gegenüber den Behörden erteilt wird (und wie sie behandelnden Ärzten häufig vor­gelegt wird), mit Blick auf die Rechtsprechung zum Arztgeheimnis ­unwirksam.
Wird hingegen im Kontext des Wegweisungsvollzugs die Einwilligung verweigert, stellt sich die Frage, unter welchen Umständen die Informationen den für den Vollzug verantwortlichen Ärzten dennoch mitgeteilt werden müssen. Hier konnten letzte Differenzen ­zwischen der am Dialog beteiligten Ärzteschaft und dem SEM nicht bereinigt werden. Die bundesrätliche Botschaft zu Art. 71b AIG scheint davon auszugehen, dass es sich um eine Durchbrechung des strafrechtlich geschützten Arztgeheimnisses handelt. Dagegen sprechen indessen verschiedene juristische Argumente. Insbesondere ist es offensichtlich, dass die erwähnte Bestimmung – im Gegensatz zu anderen Melderechten und -pflichten – das Berufsgeheimnis nicht ausdrücklich erwähnt, ja es ist nicht einmal von Ärztin oder Arzt, sondern von «medizinischer Fachperson» die Rede. Der Text ist mit anderen Worten uneindeutig. Zudem ­verlangt die Rechtsprechung des Bundesgerichts für Ausnahmen vom Arztgeheimnis mit Recht eine klare gesetzliche Grundlage, und angesichts der hohen Bedeutung des Arztgeheimnisses, das auch durch das Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung erfasst wird, muss der Grundsatz der Verhältnismäs­sigkeit gewahrt sein. Nun ist aber Art. 71b AIG sehr offen und (viel zu) weit gefasst. In den Beratungen der Kommission und des Parlaments war überdies vom Arzt­geheimnis nicht die Rede, vielmehr wurde in der Kommission betont, dank des Dialogs zwischen SEM und der Ärzteschaft funktioniere der Datenfluss gut.

Empfehlungen für die Ärzteschaft

Aus diesen Gründen wird der betroffenen Ärzteschaft bei Fehlen einer Einwilligung und wenn tatsächlich Gesundheitsdaten vorhanden sind, die für den Wegweisungsvollzug von Bedeutung sind, dringend empfohlen, bei der zuständigen vorgesetzten Behörde oder Aufsichts­behörde um Entbindung vom Arztgeheimnis nachzu­suchen. Dieses Vorgehen drängt sich schon deshalb auf, weil viele Personen im Wegweisungsvollzug anwaltlich vertreten sind und daher das sehr reale Risiko einer Strafanzeige wegen Verletzung des Berufsgeheimnisses besteht. Eine entsprechende strafrechtliche Verurteilung kann – neben den direkten Sanktionen (Busse oder Haft bis drei Jahre) – auch standesrechtliche und berufsrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Es versteht sich von selbst, dass dabei, wie die Verordnung es verlangt, «ohne Verzug» vorzugehen ist. In der Regel sollte eine Entbindung vom Arztgeheimnis innert maximal weniger Tage möglich sein. Sind beim angefragten Arzt gar keine relevanten Informationen vorhanden, so darf dies nach hier vertretener Auffassung auch ohne Entbindung vom Arztgeheimnis so mitgeteilt werden. Plant der Arzt, wegen fehlender Einwilligung um Entbindung vom Arztgeheimnis nachzusuchen, so ist der Patient darüber zu informieren, dass eine entsprechende Pflicht zu diesem Vorgehen besteht und daher, falls eine Entbindung erteilt wird, das Arztgeheimnis nicht mehr gewahrt werden kann. Auch dies dient der Transparenz und dem Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient.

Weitere Entwicklungen

Wie oben bereits erwähnt, wird sich in den kommenden Monaten die Arbeitsgruppe «Medizinischer Datenfluss» um die Umsetzung des Art. 15 VVWAL kümmern. Die Arbeitsgruppe erfolgt in Zusammenarbeit mit Vertretern und Vertreterinnen der FMH, der KSG, der vom SEM beauftragten OSEARA/JDMT Medical Services und Personen verschiedener kantonaler Behörden, die im Wegweisungsvollzug involviert sind. Es werden die bestehenden Prozesse bezüglich der aktuellen Anforderungen der VVWAL Art. 15 (Informationsfluss der medizinischen Daten zwischen dem ärztlichen Behandler und dem vom SEM beauftragten Arzt [OSEARA, JDMT Medical Services]) und in einer zweiten Gruppe Anpassungen des aktuellen ärzt­lichen Formulars (z.B. medizinische und psychiatrische Angaben, Medikation, Vitalwerte, Laborwerte etc.) geprüft.
Ziel ist, dass die neuen Verordnungsbestimmungen unter Einhaltung der medizin-ethischen Anforderungen umgesetzt werden können und der Informationsfluss zwischen den behandelnden Ärzten und den vom SEM beauftragten Ärzten sowie den zuständigen Behörden auf Kantons- und Bundesebene für alle Beteiligten geklärt ist und ohne Verzögerung stattfindet. Nach einer Testphase mit definierten Kantonen wird erwartet, dass 2023 die Umsetzung des Art. 15 VVWAL flächendeckend in allen Kantonen mit einem schweizweit gültigen Formular in einen einheitlichen Prozess implementiert ist.

Zusammenfassung

In Zukunft und entsprechend Art. 71b AIG und Art. 15 VVWAL sollten für alle – die am Wegweisungsvollzug beteiligten Parteien wie behandelnde Ärzteschaft, Behörde und Ärzteschaft, die im Auftrag der Behörde die Wegweisung begleiten – die jeweiligen Aufgaben klar sein.
Für die behandelnde Ärzteschaft wird klar sein, dass sie nur die medizinischen Daten, die ihr zum Zeitpunkt der Anfrage vorliegen und für die Beurteilung der Transportfähigkeit für den Vollzug der Weg- oder Ausweisung nötig sind, im schweizweit gültigen Formular eintragen muss und nach eingeholter Entbindung von der wegzuweisenden Person – direkt der vom SEM beauftragten Ärzteschaft, die die Transportfähigkeit beurteilt und die Wegweisung begleitet – weiter­geben darf.
FMH Generalsekretariat
Elfenstrasse 18, Postfach
CH-3000 Bern 16