Differenziertes Arbeitsunfähigkeitszeugnis

Wiedereingliederung nach Mass

Weitere Organisationen und Institutionen
Ausgabe
2022/3334
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20883
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(3334):1031-1033

Affiliations
a Dr. med., Facharzt für Allgemeine Innere Medizin, Hausarztpraxis Weissenstein, Langendorf und Vertreter Ärzteschaft reWork Kanton Solothurn; b freischaffender Journalist BR, Uster

Publiziert am 17.08.2022

Ärztinnen und Ärzte sowie Patientinnen und Patienten bilden nach einem Unfall oder während einer Krankheit ein Team. Gemeinsam gestalten sie die Genesung bestmöglich, sodass die Betroffenen schon bald wieder ihrem gewohnten Alltag nachgehen können. Auch die Arbeitgeber sollten miteinbezogen werden. Dabei hilft das differenzierte Arbeitsunfähigkeitszeugnis.
In der Regel möchten Arbeitnehmende nach einem Unfall oder einer Krankheit möglichst rasch wieder ­arbeiten können. Ihre Arbeit ist oft ein wichtiger gesellschaftlicher Anker im Alltag, Quelle des Selbstwertgefühls und die soziale und existenzielle Grundlage. Ausfälle bei der Arbeit und damit auch der Verlust des gewohnten Alltags sind deshalb oft eine belastende und verunsichernde Erfahrung. Wer nicht arbeiten kann, verliert soziale Kontakte, wichtige Aufgaben und die Möglichkeit, mitzugestalten und sich persönlich weiterzuentwickeln – und wird so erst recht nicht ­gesünder. Hinzu kommt: Je länger jemand bei der Arbeit ausfällt, desto geringer ist die Chance auf eine ­erfolgreiche Rückkehr an den Arbeitsplatz. Nach sechs Monaten sinkt sie bereits um die Hälfte.

Die Ärzteschaft hilft

Es ist für die Patientinnen und Patienten also ent­scheidend, dass sie bald wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren können. Die Ärzteschaft möchte das ­unterstützen und hat sich einer bestmöglichen und ­raschen Genesung ihrer Patientinnen und Patienten verschrieben. Doch rasch soll nicht unkoordiniert ­bedeuten und schon gar nicht zu schnell sein. Ein ­zielgerichtetes und individuelles Hinführen zurück an den Arbeitsplatz ist für den Genesungsprozess ­zentral. Dabei darf man die Gesundheit auf keinen Fall aufs Spiel setzen und zu schnell wieder zu viel arbeiten.

Mögliche Tätigkeiten genau benennen

Im Zentrum aller Bemühungen steht immer die ­Pa­tientin respektive der Patient. Viele Arbeitgeber möchten dementsprechend ihre Verantwortung gegenüber den Arbeitnehmenden wahrnehmen und haben selbst ­grosses Interesse daran, dass ihre Fachkräfte so schnell wie möglich genesen und wieder arbeiten. Die schwierigste Frage ist allerdings immer, was ab wann wieder gemacht werden kann.
Auf diese Frage kann und dürfen ärztliche Fachpersonen eine Auskunft geben, ohne auf die Verletzung oder Krankheit selbst einzugehen. Genau hier kommt das differenzierte Arbeitsunfähigkeitszeugnis zum Zug, auch unter dem Namen «ressourcenorientiertes Eingliederungsprofil (REP)» bekannt. Es entscheidet nicht nur über die Arbeitsfähigkeit oder -unfähigkeit, sondern kann diese viel detaillierter ­benennen. Es dient der Beurteilung, ob der Einsatz der betroffenen Person an ­ihrem angestammten oder ­einem vom Betrieb zur ­Verfügung gestellten Schon-Arbeitsplatz möglich ist. Es beschreibt beispielsweise, ob die oder der Arbeitnehmende Lasten heben kann oder wechselnde Haltungen einnehmen können muss.
Damit hat man ein Instrument, um zusammen mit den Betroffenen und ihren Arbeitgebern die Rückkehr an den Arbeitsplatz bestmöglich und schrittweise zu planen. Das wirkt auch dem Risiko der Chronifizierung entgegen, da die Patientin oder der Patient rascher wiedereingegliedert und der Arbeitsplatz leichter erhalten werden kann. Die Grenze ist jedoch klar gezogen: Die Arbeitnehmenden sagen, was sie mitteilen möchten. Das ist ihr höchstpersönliches Recht.
Damit die Wiedereingliederung gelingt, hilft eine gute Koordination mit dem Arbeitgeber (Nick Fewings / Unsplash).

Rückschlüsse auf die Diagnose vermeiden

Um eine Arbeitsfähigkeit oder Arbeitsunfähigkeit benennen zu können, braucht eine ärztliche Fachperson Informationen über den Arbeitsplatz. Diese An­gaben erhält sie meistens nur im Austausch mit den Arbeitgebenden. Diese können die konkrete ­Situation beschreiben und auch das Angebot an Schonarbeitsplätzen aufzeigen. Diese Kenntnisse sind entscheidend. Wichtig ist: Der Arbeitgeber darf keine Diagnose kennen, ­sofern die Patientin oder der Patient dies nicht explizit gutheisst. Er muss nur wissen, was der Mitarbeitende in welchem Ausmass machen kann, um einen angepassten Arbeitsplatz zu finden. Rückschlüsse auf die Verletzung oder Erkrankung sind durch ein differenziertes Arbeitsunfähigkeitszeugnis nicht möglich – wohl aber Interpretationen oder ­Mutmassungen, die ein Arbeitgeber allerdings auch ohne dieses Zeugnis anstellen kann.

Wie sieht das konkret aus?

Ein Beispiel: Ein Schreiner ist nach einer Diskus-
hernien-Operation vorerst zu hundert Prozent krankheitsbedingt arbeitsunfähig. Er vermittelt den Kontakt zwischen der ärztlichen Fachperson und dem Arbeitgeber. Der Arbeitgeber bittet die behandelnde Fach­person um ein differenziertes Arbeitsunfähigkeitszeugnis und beschreibt die Tätigkeit, die der Schreiner ausführt oder alternativ ausführen könnte. Diese füllt nun das REP aus und definiert eine Tätigkeit und einen Zeitraum, in dem der Patient einen halben Tag lang ­arbeiten kann. Danach braucht er Erholung. Während diesem halben Tag sind nur administrative Arbeiten möglich, beispielsweise in der Arbeitsvorbereitung. Der Arbeitnehmer kann also nicht dafür eingesetzt werden, wofür er angestellt wurde. Das heisst letztlich: halber Tag, halbe Leistung, also 25 Prozent Arbeits­fähigkeit. Das kann im Lauf der Genesung stetig an­gepasst werden. Je genauer der Stellenbeschrieb des Arbeitgebers ist, desto zielgerichteter kann die stufenweise Rückkehr an den Arbeitsplatz erfolgen.
Trotzdem: Aus dem REP ist kein Rückschluss auf die tatsächliche Verletzung möglich – nicht einmal, ob es sich um ein Problem des Rückens, der Hüfte, der Schulter oder der Leiste handelt. Die Ursache könnte genauso ein Leistenbruch oder ein Tumor am Rücken sein.
Ein anderes Beispiel: Ein Patient leidet an Long-Covid. Selbst unter jungen Menschen gibt es eine Häufung von Long-Covid, mit teils mühsamen Verläufen und diffusen Symptomen. Sie sind für Ärztinnen und Ärzte schwierig einzuschätzen und zu behandeln, für Be­troffene schwer zu ertragen und für Taggeldversi­cherungen und auch für Arbeitgeber nicht einfach zu ­bewerten.
Aber: Ist eine Arbeitnehmerin oder ein Arbeitnehmer chronisch müde, steht im differenzierten Arbeits­zeugnis nicht, ob es sich um eine Herzschwäche, eine Depression oder Long-Covid handelt. Die Person ist schlicht chronisch krank. Ein Rückschluss auf die ­Ur­sache ist nicht möglich. Das Zeugnis trägt bloss dazu bei zu beschreiben, wann und hoffentlich mit welcher Steigerung sie welche Tätigkeiten wiederaufnehmen kann.
Elnur | Dreamstime.com

Arbeitgebende miteinbeziehen

Die Initiative für ein differenziertes Arbeitsunfähigkeitszeugnis muss vom Arbeitgeber aus kommen, der es anfordern kann, aber auch bezahlen muss. Die ärztliche Fachperson kann einen Arbeitgeber oder eine ­Patientin resp. einen Patienten höchstens auf diese Möglichkeit hinweisen. Wünschen Betroffene ein solches Zeugnis und weisen ihren Arbeitgeber darauf hin, sind alle Beteiligten motiviert, die Hinführung an den Arbeitsplatz bestmöglich zu gestalten. Wenn der Arbeitgeber auf den Willen der Patientin oder des Patienten hin beigezogen wird, kann ein Arbeitsplatz besser erhalten werden, auch wenn es sich um eine lange ­Genesungszeit handelt.
Eines ist klar: Ein Arbeitsunfähigkeitszeugnis muss der betroffenen Person gerecht werden, nicht den Arbeitgebenden. Arbeitgebende müssen dieses Zeugnis primär akzeptieren. Sie können aber viel dazu beitragen, den Betroffenen ebenfalls gerecht zu werden. Eine ­Arbeitsfähigkeit muss nämlich oft langsam aufgebaut werden. Zum Beispiel als Teil einer ambulanten Rehabilitation kann der Arbeitsplatz als Training dienen. Das muss gut geplant sein und für Arbeitgeber ist das häufig schwierig. Sie brauchen eine Fachperson, die das begleiten kann. Für die Ärztinnen und Ärzte ist es wiederum schwierig, einfach eine Zahl hinzuschreiben, zu wie vielen Prozent jemand arbeitsfähig ist. Aber im Interesse der Patientinnen und Patienten sollte dieser Aufwand weder von Arbeitgebern noch von ärztlichen Fachpersonen gescheut werden. Für die Betroffenen ist es wichtig, dass sie wieder ganz gesund werden, dies bedeutet auch, dass sie sozial abgesichert bleiben und ihr Arbeitsplatz erhalten bleibt und sie ihre Rolle und ihr Selbstwertgefühl wieder aufbauen können.

Der Mensch macht den Unterschied

Mitarbeitende möchten heutzutage nicht einfach ihr Gehalt am Monatsende, sie möchten einen Sinn in ­ihrer Arbeit erkennen, Wertschätzung erfahren und etwas beitragen können. Gute Chefs und gute Mit­arbeitende der Personalabteilung nehmen Verant­wortung wahr und vertreten menschliche und soziale Kompetenzen wie Werte, Respekt und Vertrauen. Sie haben Verständnis für die Mitarbeitenden und geben ihnen die Sicherheit, dass sie ihre Gesundheit beim Wiedereinstieg nicht aufs Spiel setzen. Eine ärztliche Fachperson baut hierzu Lösungen und nutzt Chancen. Keiner will jemanden einfach krankschreiben, sondern viel lieber behandeln und heilen. Dazu braucht es ­Stabilität und zu dieser gehört auch der Arbeitsplatz.
Grundsätzlich läuft es immer dann gut, wenn genau diese Voraussetzungen da sind. Alle müssen wollen, dann helfen Werkzeuge wie ein differenziertes Arbeitsunfähigkeitszeugnis enorm. Informationen, Merkblätter und Vorlagen dazu gibt es unter rework-ch.ch sowie unter rep.compasso.ch.

Das Wichtigste in Kürze

• Fällt eine Patientin oder ein Patient nach einem Unfall bei der Arbeit aus, möchte sie oder er häufig möglichst rasch wieder einsteigen.
• Ein differenziertes Arbeitsunfähigkeitszeugnis, auch als ressourcenorientiertes Eingliederungsprofil (REP) bekannt, kann bei der Reintegration helfen.
• Im REP kann detailliert angegeben werden, welche Tätigkeiten Betroffene ab wann machen dürfen, ohne die Verletzung oder Krankheit selbst zu nennen.
• Im Austausch zwischen Arbeitgeber, betroffener Person und ärztlicher Fachperson können so ein angepasster Arbeitsplatz sowie passende Tätigkeiten definiert werden.
• Das REP muss vom Arbeitgeber angefordert und bezahlt werden. Von der ärztlichen Fachperson oder den Betroffenen kann es nur angeregt werden.
kilian.baertschi[at]suva.ch