Stress am Arbeitsplatz ist eine der Ursachen, die zum Fachkräftemangel im Gesundheitswesen beitragen. Von 2017 bis 2021 wurde dazu eine grossangelegte nationale Studie mit dem Namen STRAIN unter Leitung der Berner Fachhochschule durchgeführt. Die Studie hatte sich zum Ziel gesetzt, Stressquellen, Stressreaktionen und daraus entstehende Langzeitfolgen im Arbeitsalltag von Gesundheitsfachpersonen in der Schweiz zu erfassen und mittels Intervention langfristig zu reduzieren [1]. Leadership konnte dabei – neben den generellen Arbeitsbedingungen – als wichtiger Faktor bei der Mitarbeitendenzufriedenheit identifiziert werden. Mit anderen Worten: Die Qualität der Führung hat einen relevanten Einfluss auf den Fachkräftemangel.
Bevor nun aber in Zusammenhang mit dem Fachkräftemangel zahlreiche Forderungen an die Führung im Gesundheitswesen gestellt werden, braucht es ein klares Verständnis darüber, was gute Führung in der speziellen Situation von Gesundheitseinrichtungen überhaupt bedeutet und unter welchen Rahmenbedingungen sie entstehen kann. Denn trotz STRAIN und anderen Studien sind Forschung und Literatur zu Leadership im Gesundheitswesen immer noch spärlich, und es besteht grosser Forschungsbedarf.
Zu Interventionen in der Behandlung von Patientinnen und Patienten wird viel klinische Forschung durchgeführt, um diese zu optimieren und deren Wirkungen und Nebenwirkungen zu untersuchen. Gleichermassen sollten wir Leadership und organisatorische Massnahmen als Interventionen im Gesundheitssystem verstehen und dieses Thema systematisch beforschen. Denn das eine beeinflusst das andere.
Leadership hat letztlich nicht nur einen Effekt auf den Fachkräftemangel, sondern auch auf Behandlungsqualität, Patientensicherheit und Wirtschaftlichkeit. Zu Leadership gehört insbesondere die Schaffung einer entsprechenden Teamkultur und Atmosphäre. In der Organisationstheorie gibt es das Konzept der psychologischen Sicherheit. Wenn sich Mitarbeitende sicher fühlen, sind sie bereit, sich stärker zu engagieren, mehr zu kooperieren und offen ihre Ansichten zu äussern. Wenn Menschen ehrlich sagen, was sie denken, dann werden vermehrt Verbesserungsvorschläge gemacht, und Fehler können offen angesprochen werden. All dies ist förderlich für Effizienz, Qualität und Patientensicherheit.
Die STRAIN-Studie hat gezeigt, dass Forschung in diesem Thema herausfordernd ist und Zusammenhänge und Effekte schwer zu identifizieren und zu messen sind. Trotzdem sollte genau das noch verstärkt versucht werden, und die Finanzierung dieser Projekte wäre insbesondere eine Aufgabe für die nichtkommerzielle Forschungsförderung wie Nationalfonds und Innosuisse. Etwas pointiert lautet meine These: Leadership-Forschung kann ebenso Leben retten wie klinische Forschung.
Neben der Forschung braucht es gezielte Aus-, Weiter- und Fortbildung der Führungskräfte aller Stufen. Zwar existieren bereits zahlreiche Angebote. Diese sollten aber meiner Meinung nach stärker auf die spezifischen Anforderungen von Gesundheitsorganisationen und deren Führungskräfte ausgerichtet werden. Sie könnten mittelfristig mehr Aspekte von Evidence-Based Leadership in Health Care vermitteln.
Zuallererst jedoch braucht es ein Bewusstsein und den Willen, Leadership als Arbeit und Aufgabe ernst zu nehmen und ihm die entsprechende Aufmerksamkeit und Bedeutung zu geben. Dieses Verständnis muss an der Spitze der Organisation beginnen. Es reicht nicht, Nachwuchskräfte einmalig in Führungsseminare zu schicken. Das Thema ist eine Kulturfrage und betrifft die gesamte Organisation. Denn: Alle Führungskräfte haben wiederum Vorgesetzte und sind gleichermassen wie die Angestellten den Rahmenbedingungen des Betriebs ausgesetzt.
Leadership ist kein Allheilmittel gegen den Fachkräftemangel, aber mit Sicherheit ein wichtiger Baustein in der Behandlung dieses Problems – und darüber hinaus.
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