Wenn alles zu anstrengend wird

Tribüne
Ausgabe
2022/2930
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20890
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(2930):950-952

Affiliations
Dr. med., Freie Journalistin

Publiziert am 20.07.2022

Weltweit sind ca. 17 Millionen Menschen von Myalgischer Enzephalomyelitis oder dem Chronischen Fatigue-Syndrom betroffen – in der Schweiz bis zu 24 000 Personen. Die Krankheit, die meist infolge eines viralen Infekts auftritt, fesselt viele von ­ihnen ans Bett, eine wirkungsvolle Therapie gibt es nicht. Auch weil zu wenig ­geforscht wird.
Sie können sich im Alltag kaum noch selbst versorgen, leiden an grippeartiger Erschöpfung, pathologischer Muskelerschöpfbarkeit, Schmerzen und kognitiven Einschränkungen. Ruhe hilft nicht, aktiv werden aber auch nicht. Patientinnen und Patienten, die von einer Myalgischen Enzephalomyelitis (ME) und dem Chronischen Fatigue-Syndrom (CFS) betroffen sind, geben Ärztinnen und Ärzten Rätsel auf. Was ist los mit ihnen? Und wie kann man ihnen helfen?
Eins steht fest: Sich aus der Erschöpfung heraus trainieren hilft bei den komplexen Krankheitsbildern nicht. Die Symptome können sich nach jeder Aktivität, egal ob körperlich oder geistig, verschlimmern. Denn der Körper zeigt eine neuroimmunologische Reaktion auf Anstrengung, die Post-Exertional Neuroimmune Exhaustion (PENE).

Unterschiede und ­Gemeinsamkeiten

Die Herausforderung ist allerdings nicht nur, ME und CFS überhaupt zu diagnostizieren, sondern auch, beide voneinander abzugrenzen. Fast alle ME-Patientinnen und Patienten erfüllen die Diagnosekriterien für CFS, doch umgekehrt erfüllt nur circa ein Drittel bis die Hälfte der CFS-Patientinnen und -Patienten die Kriterien für ME. Trotz der Unterschiede (siehe auch Kasten «Unterschiede zwischen ME und CFS») gilt hierzulande: «In der Schweiz wird die Diagnose ME nicht vergeben, diagnostiziert wird nur unter dem Begriff CFS», sagt Jonas Sagelsdorff, Co-Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für ME & CFS (SGME), und erklärt: «ME ist eine Subgruppe von CFS.»
Dennoch sind ME und CFS nicht gleichbedeutend [1]. Kurz zusammengefasst ist MEdefiniert als Krankheit mit dem Leitsymptom PENE [2] und immunologischen, neurologischen und kardiovaskulären Symptomen sowie Einschränkungen in der Energieproduktion und dem Energietransport. Das Leitsymptom von CFS ist hingegen Fatigue, eine schwere pathologische Erschöpfung. Damit CFS diagnostiziert werden kann, muss es sich um eine besonders schwere Form der Fatigue handeln, die den Patientinnen und Patienten einfachste Alltagshandlungen unmöglich machen kann.

Unterschiede zwischen ME und CFS

Eine 2021 erschienene Studie hat bei MRTs von ME-Betroffenen mikrostrukturelle Anomalien im Gehirn gefunden. Diese Anomalien waren aber nicht bei Erkrankten vorhanden, die ausschliesslich die Kriterien für CFS erfüllen [16]. Bei ihnen konnten hingegen verschiedene andere pathophysiologische Veränderungen nachgewiesen werden [17]. Und wer wiederum die Kriterien für ME erfüllt, ist häufiger bettlägerig und pflegebedürftig als CFS-Betroffene [18].
Die Symptome können ein Leben lang bleiben. In den ersten 18 Monaten kann es durch konsequente Schonung noch zu Remissionen kommen, die aber danach extrem selten sind. Etwa 75 Prozent der Patientinnen und Patienten sind Frauen und die Krankheit betrifft alle Gesellschaftsschichten und alle Altersgruppen ab der Kindheit. Manches deutet darauf hin, dass die Prävalenz von ME in ärmeren Bevölkerungsschichten höher ist [19].

Diagnose mithilfe eines Kriterienkatalogs

Aber wie die passende Diagnose finden? Es gibt keine anerkannten Blutmarker oder bildgebende Verfahren, die eine eindeutige Diagnose erlauben. Deshalb wird ME durch eine Kombination von Einschluss- und Ausschlusskriterien diagnostiziert. Ein gutes Verhältnis von Spezifität und Sensitivität ergibt sich aus den Kanadischen Konsenskriterien und deren Nachfolge­dokument, den Internationalen Konsenskriterien [3, 4]. Die SGME bietet einen Onlinefragebogen an, der die Kriterien automatisch auswertet [5]. Andere Kriterien, wie die 1994er-CDC-Kriterien, die Oxford-Kriterien oder die 2015 vom IOM vorgeschlagenen SEID-Kriterien weisen eine schlechte Spezifität auf und sind gemäss SGME deshalb nicht zu empfehlen [6, 7].
In der Schweiz leiden 16 000–24 000 Menschen am Chronischen Fatigue-Syndrom. Sowohl das Krankheitsbild als auch die ­Diagnose sind komplex, da die Abgrenzung zu Myalgischer Enzephalomyelitis nicht einfach zu treffen ist. (Foto: Lea Aring)

Gutachter liegen oft falsch

Insgesamt sind in der Schweiz Schätzungen zufolge derzeit zwischen 16 000 und 24 000 Menschen von ME und CFS betroffen. Etwa 60 Prozent von ihnen sind durch die Krankheit arbeitsunfähig, mindestens ein Viertel von ihnen ist ans Haus gebunden oder bettlägerig und pflegebedürftig [8].
Wer chronisch erschöpft ist, kann nicht arbeiten. Und doch ist es für Betroffene schwierig, eine IV-Rente zu bekommen. Wenn IV-Renten gutgesprochen wurden, geschah dies in der Vergangenheit meist nicht für ME beziehungsweise CFS, sondern für eine Begleiterkrankung oder gar für eine Fehldiagnose, wie eine im Jahr 2021 stattgefundene Befragung der SGME von Patientinnen und Patienten ergab. Kürzlich hat die Gesellschaft eine weitere Datenerhebung [9] durchgeführt: Der Grossteil der befragten Antragstellerinnen und Antragsteller gab an, dass der Gutachter die Krankheit für eine psychische bzw. psychosomatische Krankheit gehalten habe. Problematisch ist, das vor allem das Leitsymptom PENE relevant für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit ist, da sich die ausserordentliche Symptomverschlechterung oft erst nach der Begutachtung zeigt. Dieses Leitsymptom war den Gutachtern laut den Befragten in aller Regel nicht bekannt.

Anhaltende Erschöpfung nach ­viralen Infekten

Gemäss einer US-amerikanischen Studie litten 13 Prozent der Jugendlichen und Erwachsenen sechs Monate nach einer Epstein-Barr-Virus-Infektion noch unter verschiedenen Symptomen. Zwei Jahre nach der Infektion waren noch vier Prozent an CFS erkrankt [20]. Die konkreten Zahlen, wie viele Covid-Erkrankte an Langzeitschäden leiden werden, sind im Moment noch unklar. Das statistische Amt des Vereinigten Königreichs geht von zehn Prozent aus [21]. Anfang Mai dieses Jahres hat Prof. Carmen Scheibenbogen, Fachimmunologin der Charité Berlin, ein Interview gegeben, in dem sie betonte, dass von jenen, die nach einer akuten Covid-Erkrankung Long Covid entwickeln, letztendlich 10 bis 20 Prozent an ME leiden werden [22].

Forschungsinteresse ist klein

Dass die Krankheit so wenig bekannt ist, liegt auch daran, dass sie bisher kaum erforscht wird. In den 1950er- Jahren wurde sie zwar zum ersten Mal unter ihrem Namen Myalgische Enzephalomyelitis beschrieben und von Beginn an als neuroimmunologische Krankheit erkannt. Und das Institute of Medicine (IOM) erkannte ME 2015 eindeutig als schwer behindernde körperliche Krankheit an [10]. In der Schweiz gibt es aber bisher kaum nennenswerte Forschung über ME. Immerhin: Zu Beginn dieses Jahres wurde eine Masterarbeit an der Universität Basel zum Thema verfasst. Und aktuell läuft eine epidemiologische Studie am Tropeninstitut Basel [11].
© Lea Aring

Fehlendes Wissen in der Ärzteschaft

Auch im Medizinstudium in den Fachgebieten Immunologie und Neurologie kommt die Krankheit bisher kaum vor. Schweizer Hausärztinnen und Hausärzten ist ME in der Regel ebenfalls nicht bekannt – lediglich ein Sechstel der Erkrankten hat eigenen Angaben zufolge einen Hausarzt, der die Krankheit erkennt und sich damit auskennt [12].
«ME und CFS werden noch immer mit Aktivierungstherapie behandelt, obwohl mittlerweile viele nationale Gesundheitsämter explizit davon abraten – im schlimmsten Fall kann diese Fehlbehandlung zu einer irreversiblen Zustandsverschlechterung bis hin zu vollständiger Pflegebedürftigkeit führen», so Sagelsdorff. Auch das britische National Institute for Health and Care Excellence (NICE) und das Center for Disease Control and Prevention (CDC) raten explizit davon ab [13].

Begleitung der Betroffenen

Glücklicherweise gibt es sie trotzdem: Ärztinnen und Ärzte sowie medizinische Einrichtungen, die sich mit der Erkrankung gut auskennen. Die Medizinische Poliklinik am Kantonsspital Graubünden [14] sowie die Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik am UZS [15] gelten als gute Anlaufstellen für ME/CFS-Betroffene. Zusätzlich führt die SGME eine Liste mit informierten Ärztinnen und Ärzten, die Patientinnen und Patienten auf Anfrage bekommen.
Doch auch diejenigen, die sich viel mit der Krankheit beschäftigen, wissen aufgrund der mangelhaften Forschungslage oft nicht weiter. Viele Fragen bezüglich ME/CFS sind noch offen und es gibt noch keine allgemein anerkannte Behandlung. «Aufgrund der Zusammenhänge zwischen ME/CFS und Long Covid ist es sehr wichtig, dass die Schweiz die Erforschung dieser schwer behindernden Krankheit massiv fördert», so Sagelsdorff. «Dies ist nicht nur eine ethische Frage, sondern mittelfristig auch wirtschaftlich die günstigste Lösung, denn die Alternative sind Tausende von arbeitsunfähigen bis pflegebedürftigen Patientinnen und Patienten.»

Ärztenetzwerk im Aufbau

Die Schweizerische Gesellschaft für ME & CFS plant derzeit den Aufbau eines Ärztenetzwerks zur Förderung der Versorgungsstrukturen für ME-Patientinnen und -Patienten. Interessierte Ärztinnen und Ärzte, die sich beteiligen möchten, können sich unter info[at]sgme.ch melden.
 1 INSTITUTE OF MEDICINE: Beyond Myalgic Encephalomyelitis / Chronic Fatigue Syndrome: Redefining an Illness, Februar 2015.
 2 BRUCE. M. CARRUTHERS ET AL., «Myalgische Enzephalomyelitis – Erwachsenen- und Kinderheilkunde: Internationale Konsensleitlinie für Ärzte», 2012.
 3 CARRUTHERS, BRUCE M. ET AL.: «Clinical Working Case Definition, Diagnostic and Treatment Protocols», in: Journal of Chronic Fatigue Syndrome, Vol. 11 2003.
 4 CARRUTHERS, BRUCE M. ET AL.: «Myalgic encephalomyelitis: International Consensus Criteria», in: Journal of Internal Medicine, Juli 2011.
 5 www.sgme.ch/icc/de/ (abgerufen am 05.05.2022).
 6 JASON, LEONARD A. ET AL: «Comparing the Fukuda et al. Criteria and the Canadian Case Definition for Chronic Fatigue Syndrome», in: Journal of Chronic Fatigue Syndrome, Volume 12 2004.
 7 JASON, LEONARD A. ET AL: «Unintended Consequences of not Specifying Exclusionary Illnesses for Systemic Exertion Intolerance Disease», in: Diagnostics, Juni 2015.
 8 https://sgme.ch/me-cfs/ (abgerufen am 05.05.2022).
 9 SCHWEIZERISCHE GESELLSCHAFT FÜR ME & CFS, ME in der Schweizer Invalidenversicherung, Mai 2022.
10 MCEVEDY, COLIN P.; BEARD, A. W.: «Concept of Benign Myalgic Encephalomyelitis», in: British Medical Journal, Januar 1970.
11 KÖNIG, RAHEL S. et al: «The Gut Microbiome in Myalgic Encephalomyelitis (ME)/Chronic Fatigue Syndrome (CFS)», in: Frontiers in Immunology, Januar 2022. Und: raps.swissethics.ch/runningProjects_list.php?q=%28ProjectTitle~contains~me%2Fcfs%29&orderby=dBASECID
12 SCHWEIZERISCHE GESELLSCHAFT FÜR ME & CFS: Die Situation der ME-Patient:innen in der Schweiz, Mai 2021, S. 12.
14 www.ksgr.ch/poliklinik.aspx (abgerufen am 10.05.2022).
16 SONYA MARSHALL-GRADISNIK: «Diffusion tensor imaging reveals neuronal microstructural changes in myalgic encephalomyelitis/chronic fatigue syndrome», in: European Journal of Neuroscience, August 2021.
17 INSTITUTE OF MEDICINE, Beyond Myalgic Encephalomyelitis / Chronic Fatigue Syndrome: Redefining an Illness, Februar 2015, S.16.
18 SCHWEIZERISCHE GESELLSCHAFT FÜR ME & CFS, Die Situation der ME-Patient:innen in der Schweiz, April 2021.
19 INSTITUTE OF MEDICINE, Beyond Myalgic Encephalomyelitis / Chronic Fatigue Syndrome: Redefining an Illness, Februar 2015, S. 31, 243.
20 LEONARD A. JASON, BEN Z. KATZ, «Chronic fatigue syndrome following infections in adolescents», in: Current Opinion in Pediatrics, Februar 2013.
21 OFFICE FOR NATIONAL STATISTICS, «The prevalence of long COVID symptoms and COVID-19 complications», Dezember 2020.