Vom Delegations- zum Anordnungsmodell

FMH
Ausgabe
2022/2728
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20906
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(2728):894-897

Affiliations
a Prof. Dr. iur.; b lic. iur. , Rechtsanwältin, Leiterin Abteilung Rechtsdienst FMH; c Dr. iur., Juristin Abteilung Rechtsdienst FMH; d Leiter Abteilung ambulante Versorgung und Tarife FMH

Publiziert am 05.07.2022

Im Juli tritt das neue Anordnungsmodell in Kraft. Damit verändert sich die Zusammenarbeit zwischen Ärzteschaft und Psychologinnen und Psychologen. Wie die ­Zulassung funktioniert, welche Tarife gelten, wer für die Abrechnung zuständig ist und ob psychologische Psychotherapeuten und Ärzte weiterhin gemeinsame Räumlichkeiten nutzen können – zu diesen Fragen gibt es nun rechtliche Einschätzungen.
Am 1. Juli 2022 erfolgt ein Systemwechsel vom Delegationsmodell zum Anordnungsmodell in der psychologischen Psychotherapie. Neu können psychologische Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten auf Anordnung einer Ärztin oder eines Arztes selbständig und auf eigene Rechnung zulasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) tätig sein. Sie sind neu als Leistungserbringer in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zugelassen und können somit ihre Leistungen in eigener fachlicher Verantwortung erbringen.

Ärztliche Anordnung

Die Leistung der psychologischen Psychotherapie kann nur dann zulasten der OKP abgerechnet werden, wenn sie auf Anordnung durch Ärztinnen und Ärzte mit ­einem Facharzttitel in Allgemeiner Innerer Medizin, in Psychiatrie und Psychotherapie, in Kinderpsychiatrie und -psychotherapie oder in Kinder- und Jugendmedizin oder eines Arztes oder einer Ärztin mit dem interdisziplinären Schwerpunkt Psychosomatische und psychosoziale Medizin (SAPPM), erfolgt.
Die Anzahl der Sitzungen und unter welchen Voraussetzungen diese zulasten der OKP abgerechnet werden können, ist in Art. 11b Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV) geregelt. Danach übernimmt die Versi­cherung pro ärztliche Anordnung die Kosten für höchstens 15 Abklärungs- und Therapiesitzungen. Der psychologische Psychotherapeut oder die psychologische Psychotherapeutin erstattet vor Ablauf der angeordneten Anzahl Sitzungen dem anordnenden Arzt oder der anordnenden Ärztin Bericht. Soll die Psychotherapie nach 30 Sitzungen zulasten der Versicherung fortgesetzt werden, so hat der anordnende Arzt oder die anordnende Ärztin dem Vertrauensarzt bzw. der Vertrauensärztin der Krankenversicherung rechtzeitig zu berichten. Dieser Bericht mit dem Vorschlag zur Fortsetzung der Psychotherapie muss eine durch einen Facharzt oder eine Fachärztin mit einem Weiter­bildungstitel in Psychiatrie und Psychotherapie oder in Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie erbrachte Fallbeurteilung beinhalten.
Spätestens ab dem 1. Januar 2023 muss mit dem Anordnungsmodell abgerechnet werden (Nick Fewings / Unsplash).
Für Leistungen zur Krisenintervention oder Kurz­therapie für Patienten und Patientinnen mit schweren Erkrankungen bei Neudiagnose oder bei einer lebensbedrohlichen Situation wird die Anordnung auf einen Arzt oder eine Ärztin mit einem Weiterbildungstitel unabhängig von der Fachrichtung erweitert. In diesem Fall übernimmt die Versicherung höchstens zehn ­Abklärungs- und Therapiesitzungen.

Zulassung für ­Fachpersonen

Ab 1. Juli 2022 werden psychologische Psychotherapeuten und psychologische Psychotherapeutinnen vom Kanton zugelassen, wenn sie die folgenden Voraussetzungen, welche in Art. 50c KVV geregelt sind, erfüllen:

Kantonale Berufsausübungsbewilligung

Sie müssen gemäss Art. 50c lit. a KVV über eine kantonale Bewilligung für die Ausübung des Psychologie­berufs nach Art. 22 Bundesgesetz über die Psychologieberufe (PsyG) verfügen. Diese wird erteilt, wenn die Person gemäss Art. 24 Abs. 1 lit. a PsyG im Besitz eines eidgenössischen oder eines anerkannten ausländischen Weiterbildungstitels in Psychotherapie ist, vertrauenswürdig ist sowie psychisch und physisch Gewähr für eine einwandfreie Berufsausübung bietet und eine Amtssprache des Kantons beherrscht, für den die Bewilligung beantragt wird.

Klinische Erfahrung

Des Weiteren müssen die psychologischen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten gemäss Art. 50c lit. b KVV über klinische Erfahrung von drei Jahren verfügen, davon sind mindestens zwölf Monate in psychotherapeutisch-psychiatrischen Einrichtungen zu absolvieren, die über eine der folgenden Anerkennungen des Schweizerischen Instituts für ärztliche Weiter- und Fortbildung (SIWF) verfügen
– ambulante oder stationäre Weiterbildungsstätte der Kategorie A oder der Kategorie B nach dem Weiterbildungsprogramm «Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie» vom 1. Juli 2009 in der Fassung vom 15. Dezember 2016 oder
– in einer Weiterbildungsstätte der Kategorien A, B oder C nach dem Weiterbildungsprogramm «Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie» vom 1. Juli 2006 in der Fassung vom 20. Dezember 2018.
Die vom SIWF zertifizierten Weiterbildungsstätten ­finden Sie im Weiterbildungsstättenregister unter ­folgendem Link: www.siwf.ch → Weiterbildungsstätten → Anerkennung Weiterbildungsstätten.

Selbständige Ausübung auf eigene Rechnung

Wenn eine Psychotherapie durch psychologische Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten vorgenommen wird, geht es darum, dass die betreffende Person selbständig und auf eigene Rechnung tätig ist. Die aus analogen Tätigkeitsbereichen gewonnenen ­Erkenntnisse, etwa bezüglich Physiotherapie oder Ernährungsberatung, können auch für die Durchführung der psychologischen Psychotherapie angewendet werden; sie muss nämlich dieselben prinzipiellen ­Voraussetzungen erfüllen.
Die psychologischen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, die ihren Beruf selbständig und auf eigene Rechnung ausüben möchten, müssen bei der Gesundheitsdirektion des zuständigen Kantons eine Berufsausübungsbewilligung sowie eine Zulassung zur Abrechnung zulasten der OKP beantragen. Mit ­dieser Bewilligung sind sie berechtigt, bei der SASIS AG eine ZSR-Nummer zu lösen. Die persönliche ZSR-Nummer berechtigt den Inhaber, mit den öffentlichen Kos­tenträgern abzurechnen. Eine Selbständigkeit für die Ausübung des Berufs benötigt auch eine Bestätigung seitens der AHV-Ausgleichskasse des betreffenden Kantons. Da die Bestätigung seitens AHV erst nach ­Erwerb der ZSR-Nummer erteilt wird, wird für den Erhalt der ZSR-Nummer auch eine Kopie des ausgefüllten AHV-Antragsformulars akzeptiert.
Bereits aus dem Text der KVV, der eine selbständige, auf eigene Rechnung erfolgende Tätigkeit vorschreibt, ergibt sich, dass die psychologischen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten ihre Rechnung in eigenem Namen zu stellen haben (vergleiche dazu weiter unten). Nicht möglich ist, dass die Abrechnung durch die anordnende Ärztin oder den anordnenden Arzt ­erfolgt. Verlangt ist auch ein Auftritt nach aussen im eigenen Namen (zum Beispiel eigene Visitenkarte). ­Typischerweise übernimmt schliesslich die therapeutisch tätige Person Anordnungen von verschiedenen Ärztinnen und Ärzten.

Nachweis der Qualitätsanforderungen

Sie müssen über das erforderliche qualifizierte Per­sonal verfügen. Ein eigenes Qualitätsmanagement­system muss vorhanden sein. Sie müssen ebenso über ein geeignetes internes Berichts- und Lernsystem ­verfügen und haben sich, sofern ein solches besteht, einem ­gesamtschweizerischen einheitlichen Netzwerk zur Meldung von unerwünschten Ereignissen angeschlossen. Des Weiteren müssen sie gemäss Art. 58g KVV über eine Ausstattung verfügen, die erforderlich ist, um an nationalen Qualitätsmessungen teilzunehmen.

Zulassung für ­Organisationen

In Art. 52d KVV hat der Bundesrat die Zulassungskriterien für Organisationen der psychologischen Psychotherapie geregelt. Gemäss Art. 35 Abs. 2 lit. e KVG sind als Leistungserbringer nicht nur Personen, die auf ­Anordnung oder im Auftrag eines Arztes oder einer Ärztin Leistungen erbringen, zugelassen, sondern auch Organisationen, die solche Personen beschäftigen. Diese Organisationen der psychologischen Psycho­therapie erbringen ihre Leistungen durch Personen, welche die vorgenannten Voraussetzungen gemäss Art. 50c Buchstabe a und b KVV erfüllen.

Tarifierung

Die Verhandlungen für einen eigenen Tarif der psychologischen Psychotherapie finden zwischen den Tarifpartnern der Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP) – welche die Interessen der Assoziation Schweizer Psychotherapeutinnen und ­Psychotherapeuten (ASP) und des Schweizerischen ­Berufsverbands für Angewandte Psychologie (SBAP) vertreten –, Curafutura, H+ und santésuisse statt. Die Tarifpartner konnten sich in der gegebenen Zeit nicht auf eine definitive Tarifstruktur einigen und haben ­einen auf nationaler Ebene vorgesehenen Übergangstarif verhandelt. Die Einreichung dieses Übergangs­tarifs inklusive verhandeltem Taxpunktwert erfolgte am 14. Juni 2022 beim Bundesrat. Die Einkaufsgemeinschaften tarifsuisse ag und CSS Krankenversicherungen AG gehen einen anderen Weg und wollen einen für die freie Praxis geltenden provisorischen Arbeitstarif durch die Kantone festsetzen lassen. Dazu wurden bei allen Kantonen Eingaben gemacht. Die Bewertung ­dieses provisorischen Tarifs basiert auf dem bestehenden TARMED mit den entsprechenden geltenden Taxpunktwerten.
Unabhängig davon, ob per 1. Juli 2022 ein gemeinsamer Tarif vorliegt, gilt die in der Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV) festgehaltene Übergangsregelung von sechs Monaten bis maximal 31. Dezember 2022. Bis zu diesem Zeitpunkt kann weiter über das Delegationsmodell mit den bisherigen TARMED-Positionen abgerechnet werden. Ab dem 1. Januar 2023 müssen alle Leistungserbringer mit dem Anordnungsmodell und den dann vereinbarten Übergangstarifen oder mit den dann verfügten provisorischen Tarifen abrechnen.

Übergangsbestimmung

Gemäss der Übergangsregelung in der Krankenpflege-Leistungsverordnung übernimmt die Krankenver­sicherung die Kosten für Leistungen der delegierten Psychotherapie noch bis maximal sechs Monate nach Inkrafttreten der Neuregelung, das heisst bis zum 31. Dezember 2022 (Datum der Leistungserbringung).

Auswirkungen auf die ärztliche Tätigkeit

Ausgangspunkt: Selbständige Tätigkeit

Die voranstehenden Ausführungen bedeuten aus Sicht der anordnenden Ärztin / des anordnenden Arztes ­einerseits und der psychologischen Psychothera­peutin / des psychologischen Psychotherapeuten anderseits im Wesentlichen, dass die gegenseitigen Beziehungen beschränkt und in bestimmter Weise ausgestaltet sein müssen.
Eine selbständige und auf eigene Rechnung erfolgte therapeutische Tätigkeit liegt typischerweise vor, wenn:
– ein Auftritt von Psychotherapeutin und Psychotherapeut nach aussen im eigenen Namen erfolgt, was beispielsweise eine umfassende Einbindung in die Arztpraxis ausschliesst.
– das Inkassorisiko vollständig beim Psychothe­rapeuten / bei der Psychotherapeutin liegt, was ­ausschliesst, das entsprechende Risiko ärztlich zu tragen.
– für die ärztliche Anordnung einer Behandlung ­keinerlei finanzielle oder immaterielle Entschädigung verlangt oder geleistet wird.
– Dienstleistungen mit direktem Bezug zur Durchführung der Therapie nicht über die Arztpraxis erbracht werden, was beispielsweise für die Psychotherapeutin und den Psychotherapeuten nahelegt, eine eigene Berufshaftpflichtversicherung abzuschliessen, im eigenen Namen Rechnung zu stellen und die Buchhaltung separat zu führen.
Wenn die Beziehungen zwischen Arztperson und therapeutisch tätiger Person so ausgestaltet sind, dass für die Durchführung der Therapie aus Sicht von Psychotherapeutin oder Psychotherapeut nicht von Belang ist, wer ärztlich die Anordnung der Psychotherapie vorgenommen hat, wird typischerweise eine selbständige Tätigkeit vorliegen.

Tätigkeit in derselben Praxis

Nachfolgend ist zu prüfen, ob die ärztliche und die therapeutische Tätigkeit – wie es bei der früheren ­delegierten Therapie zwingend war – in denselben, gemein­samen Praxisräumen vorgenommen werden können.
Die Benutzung einer gemeinsamen Praxis ist nicht prinzipiell ausgeschlossen. Allerdings muss
1. ​die selbständige Tätigkeit der psychologischen Therapeutin und des psychologischen Therapeuten gewährleistet sein, und es muss
2. das krankenversicherungsrechtliche Wirtschaftlichkeitsgebot eingehalten werden.
Das Wirtschaftlichkeitsgebot schliesst insbesondere aus, dass ärztlich oder therapeutisch die Zusammen­arbeit von finanziellen Interessen gesteuert wird. Dies bringt mit sich, dass für Dienstleistungen – etwa für die Möglichkeit einer Raumbenutzung – seitens des Arztes und der Ärztin eine von Marktwerten abweichende (höhere) Entschädigung nicht verlangt werden darf.
Wenn eine Therapeutin oder ein Therapeut sich in ­einer Arztpraxis einmietet, kann dafür zwar eine (marktkonforme) Miete vereinbart werden, wobei diese aber nicht unterschiedlich danach ausfallen kann, wer ärztlich die Anordnung vorgenommen hat. Es liegt ferner nahe, die Entschädigung nicht unmittelbar an die Zahl der angeordneten Therapien zu knüpfen, sondern sie in gewisser Weise zu pauschalieren (zum Beispiel Entschädigung pro Halbtag oder pro Tag).

Ergebnisse

Diese Überlegungen zeigen, dass die äussere Ge­staltung der bisherigen Delegationsverhältnisse bei einer Überführung in das Anordnungsmodell in wesent­lichen Punkten verändert werden muss. Die thera­peutisch tätige Person muss im Anordnungsmodell selbständig und auf eigene Rechnung tätig sein.
Wird die therapeutische Tätigkeit (weiterhin) in der Arztpraxis ausgeübt, ist vorausgesetzt, dass ein Marktmietzins für die Raumbenutzung vereinbart wird. Darüber hinaus gehende Entschädigungen sind an sich nicht möglich, ausser wenn die Entschädigung für eine nicht direkt mit der Therapie verknüpfte Leistung (zum Beispiel Reinigung der Praxisräume) erfolgt und dabei marktkonform festgesetzt wird.
Gabriela.Lang[at]fmh.ch