Weiterentwicklung der Invalidenversicherung

Worauf es bei Tonaufnahmen ankommt

FMH
Ausgabe
2022/2930
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20908
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(2930):926-928

Affiliations
a Dr. iur., Rechtsdienst der FMH; b Dr. iur., Datenschutzberater der FMH; c Dr. rer. biol. hum., Abteilungsleiter Digitalisierung/eHealth FMH;

Publiziert am 20.07.2022

Seit Anfang des Jahres regelt eine neue Verordnung die sozialversicherungsrecht­lichen Gutachten der Invalidenversicherung (IV). Neu müssen Gutachter ihre Interviews mit versicherten Personen als Tonaufnahmen aufzeichnen. Dabei gilt es ­einiges zu beachten: Wir zeigen auf, worauf es ankommt.
Anknüpfend an den SAEZ-Artikel vom 22.12.2021 zur Weiterentwicklung der Invalidenversicherung (WEIV) «Was neu für sozialversicherungsrechtliche Gutachten gilt» [1], beleuchten die Autoren in diesem Beitrag praxisrelevante Fragen. Fast ein halbes Jahr nach Inkrafttreten der Verordnung über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSV) ist ersichtlich, dass aufgrund der hohen Komplexität der Materie an der Schnittstelle von Versicherungsmedizin, Technik und dem Datenschutz nach wie vor nicht alle Fragen abschlies­send beantwortet werden können. Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich spezifisch auf die Invalidenversicherung.
Der Gesetzgeber geht grundsätzlich davon aus, dass die Interviews in Form von Tonaufnahmen zwischen der versicherten Person und dem Sachverständigen ­erstellt und in die Akten aufgenommen werden müssen (Art. 44 Abs. 6 ATSG). Unabhängig vom Zeitpunkt der Auftragserteilung sind ab dem 1. Januar 2022 sämtliche Interviews im Rahmen von Begutachtungen mittels Tonaufnahme aufzuzeichnen. Die Vorgaben gelten für Gutachten in der Sozialversicherung, d. h. Invalidenversicherung, Unfallversicherung, Militärversicherung und für medizinische Gutachten im Rahmen der Krankentaggeldversicherung nach KVG. Sie gelten nicht für Taggeld nach VVG und Gutachten bei privaten Versicherungen. Ausgehend von den gesetzlichen Regelungen für die Tonaufnahme des Interviews zwischen der versicherten Person und dem Sachverstän­digen, insbesondere gemäss Artikel 7k Absatz 5 ATSV, der vorsieht, dass die Tonaufnahme von dem Sach­verständigen nach einfachen technischen Vorgaben zu erstellen ist, besteht aber weder ein Rechtsschutz­interesse noch ein Anspruch der versicherten Person auf Aufnahme des Interviews mit einem privaten ­Tonträger.
Gordon Johnson / Pixabay

Was umfasst das Interview?

Das Interview umfasst grundsätzlich das Untersuchungsgespräch, insbesondere die Anamneseerhebung und die Beschwerdeschilderung durch die versicherte Person. Gemäss der Empfehlung der Swiss Insurance Medicine für psychiatrische Gutachterinnen und ­Gutachter ist folgender Ablauf der Audioaufnahmen konform mit Leitlinien [2] und IV-Gutachtenstruktur: «Die Befragung (Anamnese) wird aufgenommen. Es folgt die Befunderhebung ohne Audioaufnahme, ebenso wie bei der Durchführung der Psychodiagnostik (Tests). Sind am Ende der Befunderhebung noch Fragen zur Erhebung weiterer anamnestischer An­gaben erforderlich, so ist von diesem Teil wieder eine Audioaufnahme vorzunehmen.
Wird die Befragung nicht seriell gemacht, sondern zirkulär, ­indem zwischen Anamnese- und Befunderhebung öfters hin und her gewechselt wird, ist eine vollständige Audioaufnahme des Gespräches unumgänglich, wegen des Testschutzes mit Ausnahme der ­psychodiagnostischen Befundung» [3]. Das gilt selbstverständlich auch für die Psychia­trie, in welcher ­gemäss Leitlinien und der von der IV vorgegebenen Gutachtenstruktur zwischen Befragung und Unter­suchungsbefunden klar unterschieden wird.

Technische Anfertigung

Für die Erstellung von Tonaufnahmen können Gutachterinnen und Gutachter wie bis anhin ein eigenes, ­jedoch digitales Tonaufnahmegerät verwenden. Die Tonaufnahmen müssen in diesem Fall über das ­Webportal (https://iva.ivsk.ch) an die IV-Stelle übermittelt und eingereicht werden. Weiterhin können Tonaufnahmen mit dem Smartphone mithilfe der Mobile-App «IV-Tonaufnahmen» erstellt und bei der IV-Stelle eingereicht werden. Andere Übermittlungskanäle (z. B. CD per Post) werden nicht akzeptiert. Nach Einreichung der Tonaufnahme an die IV-Stelle wird diese von der IV-Stelle ge­speichert und archiviert. «Nach dem Einreichen ist die Aufnahme noch für 90 Tage verfügbar» [4]. Diese Zeit dient dazu, um das Gutachten zu erstellen oder Rückfragen der IV-Stelle zu beant­worten. Nach dieser Frist von 90 Tagen kann die Tonaufnahme durch die Gutachterin oder den Gutachter weder abgehört noch heruntergeladen und lediglich im Rahmen ­eines Akteneinsichtsgesuchs in einem Einsprache­verfahren der versicherten Person zugänglich gemacht werden [5].
Die IV-Stelle akzeptiert ausschliesslich die Audio-­Dateiformate AAC, MP3 und DSS. Eine allfällige Konvertierung der Tonaufnahme in das erforderliche ­Zielformat sollte mithilfe der vom Hersteller des digitalen Aufnahmegeräts zur Verfügung gestellten Software durchgeführt werden. Die Konvertierung mithilfe von Online-Diensten ist aus Datenschutzgründen nicht zu empfehlen.
Wird die Tonaufnahme zur Erfüllung der allgemeinen Aufbewahrungspflichten archiviert, müssen technische und organisatorische Massnahmen getroffen ­werden, um die zu archivierenden Tonaufnahmen vor unbefugter oder zufälliger Vernichtung, zufälligem Verlust, technischen Fehlern, Fälschung, Diebstahl oder widerrechtlicher Verwendung sowie unbefugtem ­Ändern, Kopieren, Zugreifen oder anderen unbefugten Bearbeitungen zu schützen. Insbesondere aufgrund der Aufbewahrungsfristen von 10 oder 20 Jahren empfiehlt sich der Beizug eines externen Anbieters für die Archivierung. Bei Verwendung der von der eAHV/IV angebotenen Mobile-App wird die Tonaufnahme nach Übermittlung an die IV-Stelle vom Speicher des Smartphones gelöscht. Diese eignet sich somit nicht, wenn die Tonaufnahme in die eigenen Akten aufgenommen und archiviert werden soll.

Aufbewahrungspflichten der Gutachter

Die Tonaufnahme gehört zum schriftlichen Gut­achten. Somit gelten die gesetzlichen Bestimmungen betreffend die schriftlichen Gutachten ebenso für die Tonaufnahmen.
Es kommt darauf an, in welchem Rahmen der Gut­achter oder die Gutachterin die Aufträge erhält:
Generelle Aufbewahrungspflichten basierend auf kantonalem Recht sind gegeben. Kantonale Gesundheitsgesetze oder Patientengesetze sehen Aufbe­wahrungspflichten (10 oder 20 Jahre) vor. Sie gelten für Einzelpraxen ebenso wie für Universitätsspi­täler etc. Universitätsspitäler haben meistens noch eigene gesetzliche Regulierungen, grundsätzlich ­jedoch im ­Rahmen des Auftragsrechtes gemäss OR (20 Jahre).
Zurzeit gelten die aktuellen Empfehlungen des BSV bzw. der Invalidenversicherung oder des Unfallver­sicherers als Auftraggeber. Für die IV gilt, dass die ­Tonaufnahme auf der eigens eingerichteten web­basierten Plattform, auf die der Gutachter die Ton­aufnahme aufspielt, archiviert wird.

Verzicht der Tonaufnahme

Die Vorgabe zur Tonaufnahme gilt grundsätzlich, ­ausser die versicherte Person lehnt die Aufnahme ab. Die versicherte Person kann auf Tonaufnahmen vor dem Begutachtungstermin oder bis zu zehn Tagen nach dem Begutachtungstermin verzichten. Der Verzicht muss schriftlich erfolgen.
Gemäss Verordnung darf ein Verzicht auf Tonaufnahmen nur gegenüber der IV-Stelle erklärt werden (Art. 7k Abs. 3 Bst. a ATSV). Eine Verzichtserklärung kann nicht gegenüber dem Sachverständigen bzw. der Gutachterstelle abgegeben werden.
Das offizielle Verzichtsformular wird der versicherten Person von der IV-Stelle gleichzeitig mit dem Versand der Gutachtensankündigung zugestellt (ch. 3117 KSVI). Das Verzichtsformular wird der versicherten Person in keinem Fall vom Sachverständigen oder der Gutachterstelle übermittelt.
«Wie bereits im Informationsschreiben 5/2021 erwähnt, wenn kein Verzicht auf die Tonaufnahme vorliegt, die versicherte Person vor dem Interview jedoch verlangt, dass keine Tonaufnahme zu erfolgen hat, oder sie auf den Abbruch der laufenden Tonaufnahme besteht, so ist die versicherte Person darauf aufmerksam zu machen, dass eine Tonaufnahme zu erfolgen hat, die versicherte Person jedoch das Recht hat, die ­Löschung der Tonaufnahme bei der IV-Stelle innerhalb von 10 Tagen nach Begutachtung zu verlangen (Art. 7k Abs. 3 Bst. b ATSV). Wenn die versicherte Person sich dennoch weigert, sich der Begutachtung zu unterziehen bzw. das laufende Interview fortzusetzen, wird die Begutachtung bzw. das Interview abgebrochen. Die IV-Stelle ist sofort über diesen Vorfall zu informieren, ­damit sie mit der versicherten Person das weitere Vorgehen festlegt. Damit der Sachverständige bzw. die Gutachterstelle für die entstandenen Kosten ent­schädigt wird, kann das abgebrochene Gespräch als versäumter Termin («No-show») in Rechnung gestellt werden» [6].

Versand und Persönlichkeitsrechte

Die Sachverständigen sind für die korrekte Anfer­tigung und Übermittlung der Tonaufnahme ver­antwortlich. Die Tonaufnahme und das Gutachten sind der IV-Stelle gemäss Vorgaben des BSV einzu­reichen. Ab der Einreichung ist die IV-Stelle für die Ablage und Archivierung verantwortlich.
Die Tonaufnahmen betreffen auch die Persönlichkeitsrechte der Gutachterinnen und Gutachter. Die Verwendung der Tonaufnahmen ist deshalb zweckgebunden und darf nur im Zusammenhang mit einem Verfahren von der versicherten Person, dem Versicherungsträger oder der Entscheidbehörde abgehört werden (Art. 7l ATSV). Wenn die versicherte Person die Tonaufnahme anhören möchte, informiert der Versicherungsträger den Gutachter oder die Gutachterin hierüber [7]. Zu ­beachten ist auch das allgemeine Datenschutzrecht, das jeder Person das Recht gibt, Auskunft über ihre ­eigenen Daten zu verlangen und eine Kopie der Daten zu erhalten (Art. 8 DSG). Dies trifft auch auf die Ton­aufnahmen zu. Solange die Tonaufnahmen aufbewahrt sind, kann dieses Recht ausgeübt werden. Damit kann die versicherte Person unter Umständen auch später über eine Kopie des Gesprächs verfügen. Sie hat sich aber auch selbst an das Datenschutzgesetz zu ­halten und darf die Aufnahmen nicht widerrechtlich verwenden. Widerrechtlich wäre beispielsweise die ­Publikation der Tonaufnahmen in Sozialen Medien oder anderswo. Muss der Versicherungsträger bei ­einem Auskunftsgesuch einer versicherten Person ­annehmen, dass die Tonaufnahme zweckwidrig verwendet werden könnte, kann er die Einsicht einschränken und so die Persönlichkeitsrechte der betroffenen Gutachterinnen und Gutachter schützen. Gutachterinnen und Gutachter haben das Recht, gegebenenfalls eine Klage wegen Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte einzureichen.

Zusatzaufwand

«Anpassung des Rechnungsformulars für polydiszi­plinäre medizinische Gutachten. Für polydisziplinäre Gutachten, welche mit einer fixen Pauschale abge­golten werden, kann der zusätzliche Zeitaufwand für die ab dem 1. Januar 2022 durchgeführten Tonauf­nahmen (Tonaufnahme selbst, Erklärungen gegenüber der versicherten Person, administrative Arbeiten) mit einer Pauschale abgegolten werden» [8].

Ergänzender Artikel zum Thema Tonaufnahmen

In einer früheren Ausgabe haben wir über die Weiterentwicklung der Invalidenversicherung (WEIV) berichtet (Schweiz.Ärzteztg. 2021;102(5152):1709–12). Darin haben wir die wichtigsten Neuerungen der WEIV zu den Tonaufnahmen ­beleuchtet. Der vorliegende Text ergänzt nun den korrekten Umgang mit Tonaufnahmen und dient den Leserinnen und Lesern als praxisnahe Orientierungshilfe.

Weiterführende Links

Die «Verordnung über den Allgemeinen Teil des Sozialverischerungsrechts» (ATSV) im Wortlaut:
«Kreisschreiben über das Verfahren in der Invalidenversicherung» (KSVI):
Support- und FAQ-Seite der AHV/IV zum Thema Tonaufnahmen: www.eahv-iv.ch/de/iva/support-faq#a-2249
iris.herzog[at]fmh.ch
1 Baeriswyl B, Herzog-Zwitter I, Pfeiffer V, Sojer R, Ebner G. Was neu für sozialversicherungsrechtliche Gutachten gilt. Schweiz Ärzteztg. 2021;102(5152):1709–12.
3 SIM – Swiss Insurance Medicine www.swiss-insurance-medicine.ch/de (letzter Zugriff am 7.6.22).
4 Anleitungen | IVA | Verein eAHV-IV www.eahv-iv.ch/de/iva/anleitungen (letzter Zugriff am 30.5.22).
5 Vgl. FAQ der eAHV-IV für Gutachter www.eahv-iv.ch/de/iva/support-faq (letzter Zugriff am 30.5.22)
6 Info SuisseMED@P 1/2022 Bern, 26. Januar 2022.
7 Kreisschreiben über das Verfahren in der Invalidenversicherung (KSVI) Ziff. 3128 gültig ab 1. Januar 2022.
8 Info SuisseMED@P 1/2022 Bern, 26. Januar 2022.