Weniger Komplikationen dank perioperativem Patientenpfad

Organisationen
Ausgabe
2022/45
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20919
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(45):36-37

Affiliations
a Prof. Dr. med., Präsident der Kommission Perioperative Medizin, Schweizer Fachgesellschaft für Anästhesiologie und Perioperative Medizin (SSAPM); b Prof. Dr. med., Präsident der SSAPM

Publiziert am 09.11.2022

AnästhesiologieMit der Zunahme der älteren Wohnbevölkerung nimmt die Zahl der komorbiden und fragilen Hochrisikopatientinnen und -patienten zu. Noch zu häufig erleiden diese postoperative Komplikationen. Abhilfe schaffen kann hier die perioperative Medizin. Wie genau, beschreibt die Schweizer Fachgesellschaft für Anästhesiologie und Perioperative Medizin (SSAPM).
Das Fachgebiet Anästhesiologie hat als Grundaufgabe, allen Patientinnen und Patienten rund um chirurgische und nicht chirurgische Eingriffe eine sichere und komfortable Betreuung zu gewährleisten. Dieser Auftrag wird bei mehr als 12% der Bevölkerung jährlich auf hohem fachlichem Niveau erfüllt und die perioperative Patientensicherheit wird fortlaufend verbessert. Diese Patientensicherheit wird mittels intensiver und strukturierter Aus-, Weiter- und Fortbildung einschliesslich Simulationsprogrammen, Checklisten, ausgebauter Kommunikations- und Fehlerkultur (inklusive Critical Incident Reporting System, CIRS), standardisierten perioperativen Prozessen sowie der Erfassung von klar definierten Anästhesie Qualitätsdaten (Programm A-QUA der SSAPM) erreicht.
Die intraoperative Mortalitätsrate bedingt durch anästhesiologische Tätigkeiten ist in den letzten Jahren extrem tief (weit unter ein Promille) gesunken [1]. Die Entwicklung des Fachgebietes Anästhesiologie ist eine medizinische Erfolgsgeschichte und leistet einen nicht wegzudenkenden Beitrag zu der Entwicklung der interventionellen Fachgebiete weltweit.

Postoperative Komplikationen

Trotz der Erfolge der Anästhesiologie und der Einführung der minimalinvasiven Methoden in den meisten interventionellen Fachgebieten, hat sich die postoperative Situation der Patientinnen und Patienten nur wenig verbessert, die postoperativen Morbiditäts- und Mortalitätsraten sind deutlich weniger gesunken als die intraoperativen. Komplikationen finden oft im Rahmen von Hochrisikoeingriffen (major surgery) oder Eingriffen bei Hochrisikopatientinnen und -patienten oder deren Kombination statt.
Grössere Eingriffe induzieren eine akute Stressreaktion mit einem hyperdynamen, inflammatorischen postoperativen Status, häufig kombiniert mit pro- und antikoagulatorischen Phänomenen, die zu Blutungen oder Thrombosen führen [2]. Bei Personen mit Komorbiditäten und Fragilität, aktuell etwa 12-20% aller Patientinnen und Patienten [3], fehlt die physische Reserve, um die akute Stressreaktion kontrolliert aufzufangen, und es kommt häufig zu einem akuten, postoperativen Organversagen. Nicht elektive Eingriffe und postoperative Infektionen erhöhen diese Morbiditäts- und Mortalitätsraten weiter. Die Betroffenen haben meist eine komplexe präoperative Therapie, die während der akuten Stressreaktion individuell angepasst werden muss, um Zusatzschäden zu vermeiden.

Ziel der perioperativen Medizin

Es gibt solide Evidenz, dass eine verbesserte postoperative Betreuung die postoperative Mortalitätsrate bei Hochrisikopatientinnen und -patienten senkt. In der Tumorchirurgie konnte gezeigt werden, dass das Vorhandensein von Überwachungsstationen (geöffnet 7/24, spezialisiert auf postoperative und postinterventionelle Personen) und einer ausgebauten Radiologie inklusive CT das perioperative Risiko zu senken vermag [4]. Diese verbesserte postoperative Betreuung umfasst im speziellen die frühzeitige Identifizierung einer Verschlechterung eines oder mehrerer Organsysteme und die Verhinderung von Schock und Herzstillstand durch Blutung und Infektion.
Es gibt auch klare Hinweise, dass ein systematisches, präoperatives Risikomanagement bei Hochrisikopatientinnen und -patienten die postoperative Morbidität senken kann. Eine perioperative Risikoevaluation und Risikostratifikation erlaubt eine auf Vertrauen basierte, individualisierte Entscheidungsfindung zusammen mit der betroffenen Person vor und nach Eingriffen [5]. Auch können vorbestehende Erkrankungen häufig mit einer optimierten Therapie noch besser eingestellt werden.
Basierend auf einer strukturierten und fundierten Risikoeinschätzung kann ein «Advanced Care Planning» besprochen werden. Die Risikostratifikation erlaubt auch, einen optimalen perioperativen Patientenpfad zu erstellen. Dieser perioperative Pfad wird regelmässig überprüft und gegebenenfalls adaptiert [5]. In seltenen Fällen kann das präinterventionell identifizierte, individuelle Risiko eines Eingriffs so hoch sein, dass nach einer alternativen Lösung gesucht werden muss. Die Umsetzung der oben erwähnten sicherheitsrelevanten Massnahmen, die zu einer Verkürzung der Spitaldauer und zur Senkung der Reoperations- oder Rehospitalisationsrate von Hochrisikopatientinnen und -patienten führen sollte, ist das Ziel der perioperativen Medizin.

Stand in der Schweiz

Weltweit haben verschiedene Fachgesellschaften der Anästhesiologie Bildungsinitiativen unter dem Begriff «perioperative Medizin» ergriffen, um mit gezielten Massnahmen eine Kultur der Patientensicherheit intra-, aber auch prä- und postoperativ zu schaffen. Die meisten dieser Initiativen ergänzen die Sicherheitsbemühungen der einzelnen interventionellen Fachgesellschaften (wie zum Beispiel die Initiative «enhanced recovery after surgery»).
Auch die ehemalige Schweizerische Gesellschaft für Anästhesiologie und Reanimation hat sich in den letzten Jahren vertieft mit dem Thema «perioperative Medizin» auseinandergesetzt, und hat eine nationale Kommission für perioperative Medizin eingesetzt. Die schweizerische Fachgesellschaft für Anästhesiologie hat sich im letzten Jahr entschlossen, ihren Namen in «Schweizer Gesellschaft für Anästhesiologie und perioperative Medizin (SSAPM)» zu ändern. Dies soll zum Ausdruck bringen, dass nicht nur eine optimierte intra- sondern auch perioperative Betreuung von Hochrisikopatientinnen und -patienten wichtig ist.
Die Kommission für perioperative Medizin hat bereits, zusammen mit der Weiterbildungskommission der SSAPM, eine Anpassung des Weiterbildungscurriculums vorbereitet und bietet seit dem letzten Jahr Fortbildungsveranstaltungen wie Symposien und Workshops zum Thema «perioperative Medizin» an. Auch war das Schwerpunktthema des Jahreskongresses der SSAPM Swissanaesthesia in den vergangenen Jahren «perioperative Medizin». Die SSAPM arbeitet zudem an einem Konzept für die Implementierung eines Schwerpunkts perioperative Medizin innerhalb des Fachgebiets.
Lokal wird es entscheidend sein, diese verbesserte perioperative Strategie der Hochrisikopatientinnen und -patienten auch mit den betreuenden hausärztlichen Fachpersonen und gegebenenfalls mit der Intensivmedizin, der Geriatrie und der Rehabilitationsmedizin zu koordinieren. Im Rahmen des Entscheidungsprozesses einer allfälligen Hochrisikointervention wird die Zusammenarbeit durch eine frühe Involvierung der perioperativen medizinischen Fachperson und durch ein gemeinsames elektronisches Patientendossier aller Partner erleichtert werden.

Was es braucht

Mit der Veränderung der Demographie in der Schweiz mit mehr komorbiden Hochrisikopatientinnen und -patienten wird die perioperative Medizin immer wichtiger werden. Neben der Kompetenzerweiterung des Fachgebiets Anästhesiologie und der vertieften und wiederholten Weiter- und Fortbildung in perioperativer Medizin sind auch strukturelle Verbesserungen notwendig. Die Implementierung von spezifischen präoperativen Risiko-Assessments und die Schaffung von spezifischen, permanenten postoperativen Strukturen wurden in verschiedenen anästhesiologischen Institutionen der Schweiz getestet und etabliert.
Um die Patientensicherheit zu gewährleisten, sollten in der Zukunft Hochrisikopatientinnen und -patienten sowie Hochrisikoeingriffe in Spitälern behandelt respektive durchgeführt werden, die diese spezifischen Strukturen anbieten, nachweislich solche, die ärztliche Fachpersonen mit perioperativer Kompetenz und eine genügend hohe Fallzahl von Hochrisikopatientinnen und -patienten haben. Diese prozeduralen und strukturellen Verbesserungen sollten interhospitale Verlegungen von Personen in kritischem Zustand tief halten.

Das Wichtigste in Kürze

Die postoperativen Morbiditäts- und Mortalitätsraten bei Hochrisikopatientinnen und -patienten sowie Hochrisikoeingriffen ist in den letzten Jahren kaum gesunken.
Ein systematisches, präoperatives Risikomanagement kombiniert mit einer guten postoperativen Betreuung könnten dies ändern und einen optimalen perioperativen Patientenpfad ermöglichen.
Die Schweizer Fachgesellschaft für Anästhesiologie und Perioperative Medizin (SSAPM) setzt sich deshalb dafür ein, mit Veranstaltungen und Weiterbildungskursen die perioperative Medizin zu stärken.
In Zukunft sollten Hochrisikopatientinnen und -patienten und Hochrisikoeingriffe in Spitälern behandelt respektive durchgeführt werden, die über ärztliche Fachpersonen mit perioperativer Kompetenz und genügend Erfahrung verfügen.
Die perioperative Medizin trägt dazu bei, die Dauer der Spitalaufenthalte und die Reoperations- oder Rehospitalisationsrate zu senken.
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