Über Ekel in der Medizin

Zu guter Letzt
Ausgabe
2022/3132
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20924
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(3132):1004

Affiliations
Prof. Dr. rer. soc., Redaktor Kultur, Geschichte, Gesellschaft

Publiziert am 03.08.2022

Es ist ein alter, noch heute kursierender Medizinstudiums-Witz, der mir schon von verschiedener Seite zugetragen worden ist. Eine Variante geht in etwa so: Der Professor erläutert in der Diabetes-Vorlesung anhand der Urin-Untersuchung die zwei wichtigsten Mediziner-Tugenden, nämlich Ekel-Überwindung und scharfe Beobachtung. Und er macht es vor: Zeigefinger ins Uringlas, herausholen, Finger ablecken. Schmeckt es süss? Die Studierenden machen es angeekelt nach. ­Danach zeigt er nochmals, wie er es gemacht hat: ­Zeigefinger ins Uringlas, Herausholen, Mittelfinger ablecken. Das konnte man aber nur bei scharfer Beobachtung erkennen.
Unter einer Unzahl von Emotionen ist Ekel eines der tiefgehendsten, stärksten und komplexesten Gefühle. Ekel wird gesehen, gerochen, gefühlt, gespürt. Und dann im Kopf zusammengesetzt – oder auseinandergenommen.
Ekel ist nicht einfach da. Ekel wird gemacht. Wann wo welcher Ekel auftritt, ist auch erlernt, erfahren und entwickelt, genauso kollektiv wie individuell. Beispielsweise wird Schweissgeruch angesichts der Anzahl von Duschen und Bädern bei uns heute sensibler, nicht zuletzt auch moralischer bewertet als vor hundert oder zweihundert Jahren.
Die Krebs- und Emotionshistorikerin Bettina Hitzer vermutet, dass Ärzte geruchsintensive Tumore während des 19. Jahrhunderts desto abstossender und ekelerregender wahrnahmen, je mehr deren Geruch vom wichtigen Krankheitszeichen zur diagnostisch kaum relevanten Nebenerscheinung wurde.
Die Cholera-Epidemien desselben Jahrhunderts wurden auch deshalb so sehr gefürchtet, weil die «ekel­erregende» Krankheit den bürgerlichen Tugenden der Reinlichkeit und der Selbstkontrolle so völlig widersprach.
Gerade am Beispiel der Cholera hat die Innsbrucker Historikerin Maria Heidegger diese Emotionslandschaften kürzlich erläutert. Ekel fordert Distanz und verhindert Zuwendung. Ekel stand so dem Mitgefühl – einer selbst postulierten Emotion der Pflegeberufe – diametral entgegen. Bereits damals wurde das notwendige Verhältnis der Gefühle der Pflege diskutiert.
Es gibt viele Strategien und Didaktiken im Umgang mit Ekel. Klassisch ist die Übung in Selbstüberwindung mit dem Ziel der Gewöhnung, wie im Eingangswitz oder wie es etwa im Begriff des «Häfelipraktikums» mitschwingt. Lange Jahrzehnte wurde über das Thema Ekel im Medizinbereich kaum offen gesprochen. Die Pflegewissenschaft hat in den letzten Jahren gefordert, dass es eines sehr bewussten beruflichen Umgangs mit dem Ekel bedürfe. Reine Überwindung und Verdrängung kann letztlich zu Krankheit oder Berufsausstieg führen. Um dies zu verhindern, gilt es zu lernen, Gefühle des Ekels auszusprechen, zu verarbeiten und damit umzugehen. Der Umgang mit Gefühlen wird so – ganz zeittypisch – zum individuellen «Emotions-Management».
Die Fähigkeit zur Ekelüberwindung kann auch ein Eigenleben entwickeln. Selbst- und Affektkontrolle werden zum beruflichen «skill», ja zur selbstbewussten ­Berufs-Signatur und damit zum professionellen Selbstverständnis. Mit stolzen Erzählungen heroischer Selbstüberwindung. Man ist Teil einer funktionellen Elite. Der Beruf stellt etwas dar. Der Umgang mit Ekel prägt auch die Wahrnehmung des Berufs von aussen. «Du bist ja Ärztin, dir kann ich diese gruusige Geschichte erzählen», hört eine Bekannte von mir immer wieder. Und das ist gar nicht in ihrem Sinn.
Emotionen und auch ihr Gegenteil, die Unemotionalität, werden so zu Instrumenten von Machtausübung. Das spielt ebenfalls im Eingangswitz mit. Die Studierenden «reinzulegen» ist im Kern eine subtile emotionsdidaktische Boshaftigkeit. Sich selber nimmt der Professor dagegen geschickt aus der Ekelerfahrung heraus. Initiationsriten sind bekanntlich oft strategische Erniedrigungen. Auch hierbei hilft scharfe Beobachtung.
Einzelnachweise und Literatur beim Autor.
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