Persönliche ­Impfberatung

Reden statt lesen

Horizonte
Ausgabe
2022/35
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20930
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(35):1122-1123

Affiliations
a Medizinische Universitätsklinik und Infektiologie/Spitalhygiene, Kantonsspital Baselland, Bruderholz, Universität Basel; b Abteilung Pädiatrie, ­Klinik ­Arlesheim, Arlesheim BL

Publiziert am 30.08.2022

Die neu aufgelegte Broschüre zu Kinderimpfungen der Stiftung für Konsumentenschutz (SKS) kann Eltern als eine Grundlage für ihre Impfentscheidung dienen. Sie will Meinungen gegenüberstellen – allerdings ersetzt sie nicht die persönliche Impfberatung.
Als im Jahr 2004 eine Neuauflage der SKS Broschüre erschien, wurde sie harsch kritisiert. Die SÄZ druckte vernichtende Stellungnahmen und fachliche Richtigstellungen der eidgenössischen Kommission für Impffragen EKIF (14 Seiten!) und der Fachgesellschaften, ein 6-seitiges Interview mit der damaligen EKIF-Präsidentin sowie Kommentare des Bundesamts für Gesundheit (BAG) [1–4]. Die Broschüre sei «Propaganda», «Ideologie», sie schüre «Misstrauen gegenüber den Ärzten» und bringe die Gesundheitsbehörden «in Verruf». Das BAG erkannte in der Bevölkerung eine «vielfältig zusammengesetzte Impfgegnerschaft», deren Ziele «bis zur kritischen Haltung gegenüber einzelnen Impfungen» reiche [4].

Die Behörden und das Vertrauen

Wie haben sich die Zeiten geändert. Während der 
Covid-19 Pandemie hiess es: Druck erzeugt Gegendruck. Die Bekämpfung einer «Impfgegnerschaft» scheint heute wie damals nicht zielführend, um die Impfraten zu steigern. Spätestens während der Pandemie ist zudem klar geworden, dass einseitig positive behördliche Kommunikation (Impfungen sind «wirksam und sicher» [5]) vor allem die ohnehin impffreundlich eingestellten Personen erreicht und – ebenso wie behördliche Richtigstellungen von Impffalschaussagen – paradoxe Konsequenzen haben kann, nämlich die Förderung von Verschwörungstheorien, Impfskepsis und Misstrauen in die Behörden [6–8].
Australische Expertinnen und Experten gehen noch weiter: Wenn Behörden beharrlich den Grund für (zu) tiefe Covid-19-Impfraten in der Impfskepsis suchen, dann lenken sie ab vom eigentlichen Problem: ihren eigenen, insuffizienten Anstrengungen [9] (Stichworte: zielgruppengerechte Impfkommunikation, z. B. für ­bildungsferne Gruppen, Immigranten sowie Wählerinnen und Wähler von staatskritischen Parteien). Das in der Pandemie verlorene Vertrauen müssen die Behörden erst wieder aufbauen. Es braucht auch keine aufgeregten Diskussionen zu ­einer möglichen Impfpflicht wie in Deutschland [10–13] – erst wenn Behörden abweichende Meinungen zulassen, können sie «auf nachhaltige Legitimation rechnen» [14].

Broschüre stellt Meinungen gegenüber

Was hat das alles mit der SKS Broschüre zu tun? Ziemlich viel, denn ihr Konzept besteht ja darin, «Informationen und Meinungen verschiedener Akteure aus dem Gesundheitswesen einander gegenüber[zustellen]». Der SKS verzichtet bewusst auf Impfempfehlungen – die Eltern sollen selber die verschiedenen Meinungen «abwägen» und eine Impfentscheidung «treffen, die Sie verantworten können». Die Forschung von uns (Nationales Forschungsprogramm NFP74 zu Impfskepsis [15]) und anderen zeigt, dass impfskeptische Eltern kaum ein Informationsdefizit haben (wie die EKIF Präsidentin 2005 vermutete [3]), sondern sogar überdurchschnittlich viele Impfinformationsquellen konsultieren, also auch Bücher lesen, Zweitmeinungen bei impfkritischen Ärztinnen und Ärzten oder Medien einholen und sich darin verlieren können [16,17].
Hier könnte die Broschüre also die Informationsbedürfnisse der Eltern unterstützen. Sie präsentiert jeweils, eine Impfung nach der anderen, die offizielle BAG/EKIF Impfempfehlung. Danach folgen die Empfehlungen der WHO, der deutschen und US-Behörden sowie die Ansichten von zwei impfkritisch eingestellten Websites und des prominenten Münchner Kinderarztes und Buchautors Dr. Martin Hirte. Ob das Konzept, die verschiedenen Sichtweisen einander gegenüberzustellen, die impfbesorgten Eltern überzeugt oder sie im Gegenteil zusätzlich verwirrt, müsste man sie selbst fragen. Unsere NFP74 Forschungsgruppe bevorzugt eine andere Strategie: Die Schul- und Komplementärmedizin an einen Tisch zu bringen und eine neue Sprache zu finden, in der Form von gemeinsam geschriebenen Fortbildungsartikeln, mit dem Ziel der Synthese und Gewichtung der verschiedenen Meinungen [18–23]. Das funktioniert erstaunlich produktiv und soll die Schweizer Ärzteschaft bei der Impfberatung unterstützen.
Pexels / CDC

Broschüre ist nicht immer aktuell

Die SKS Broschüre hat sich über die Jahre verändert, und im positiven Sinn: Längst widerlegte Themen wurden fallengelassen, z. B. dass die MMR Impfung Autismus verursachen kann oder dass Kombinationsimpfungen weniger wirksam als Einzelimpfungen sind oder schlechter vertragen werden. Bei hartnäckigen behördlichen Dogmen (z. B. hohe Wirksamkeit der Grippeimpfung [24]) ist der Hinweis auf die schwache Datenlage willkommen. Leider ist die Broschüre nicht immer auf dem aktuellen Stand. So gibt es z. B. seit Herbst 2020 solide Daten, dass die HPV Impfung nicht nur Dysplasien, sondern auch Zervixkarzinome zuverlässig verhindert [25]. Solch wichtige Evidenz darf in der SKS Broschüre nicht fehlen.

Impfberatung ergebnisoffen gestalten

Unsere Forschung zeigt: Viele Eltern wünschen sich einen offeneren Diskurs mit ihrem Arzt und breitere Informationen [26, 27]. Somit ist das Ziel der Broschüre begrüssenswert. Statt dass Eltern nur passiv ärztliche Anordnungen entgegennehmen, gilt heute die gemeinsame Entscheidungsfindung als zentral [28, 29] –auch beim Impfentscheid [30–32]. Der SKS betont zu Recht: Eltern sollen sich Fragen zu Impfungen stellen können, «ohne dabei generell als unsolidarisch oder impfkritisch abgestempelt zu werden». Die Nationale Ethikkommission fordert, dass wir die Autonomie der Patientinnen und Patienten respektieren, selbst wenn uns ihre Entscheide falsch scheinen [33]. Interessant ist, wie die EKIF Präsidentin diese medizin-kulturellen Veränderungen (und den Vertrauensmangel in die Behörden) schon 2005 klar erkannte [3].
Auf ein detailliertes Quellen- und Literaturverzeichnis verzichtet die Broschüre leider – die Leserinnen und Leser werden auf die Homepage des SKS verwiesen. Insbesondere die impfkritischen Aussagen von Martin Hirte erscheinen so oft als plakativ, weil die Literaturangaben fehlen. Wer sich kritisch mit Hirtes Aussagen auseinandersetzen will, müsste seine Bücher kaufen.
Kurz, Eltern stehen nach dem Lesen der SKS Broschüre für ihre persönliche Impfentscheidungsfindung vor dem Problem der Wertigkeit der sich teils widersprechenden Angaben. Gerade in diesem sensiblen Bereich lässt die Broschüre die Eltern allein und kann eine persönliche Impfberatung nicht ersetzen. Am besten ­geschieht diese durch die immer wieder durch Eltern als vertrauenswürdigste Quelle: Die Hausärztinnen oder Kinderärzte. Diese gestalten im Jahr 2022 die Impfberatung nicht direktiv, ­sondern am besten ergebnisoffen. Und dies gilt für Schul- wie Komplementärmedizinerinnen und Komplementärmediziner.
Abbildung 1: Kinder-­Impfun­gen – eine Entscheidungshilfe, Konsumenten­schutz, Bern: Stiftung Konsumentenschutz 2022, ­4. überarbeitete ­Auflage, 112 Seiten
philip.tarr[at]unibas.ch