TARDOC: ein unverzichtbarer Beitrag für eine nachhaltige Kostendämpfung

«Vom TARDOC profitieren Patienten und Prämienzahlende»

FMH
Ausgabe
2022/3132
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20943
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(3132):969-972

Affiliations
a Leiterin Abteilung Kommunikation der FMH

Publiziert am 03.08.2022

Als der Bundesrat den TARDOC Anfang Juni nicht genehmigte, schickte er einen wichtigen Beitrag der Ärzteschaft zur Kostendämpfung auf die lange Bank. Doch obwohl die Einführung eines sachgerechten und betriebswirtschaftlichen Tarifs damit vor 2025 kaum mehr möglich ist, setzt sich die FMH weiterhin für den T­ARDOC ein. Warum es den TARDOC für eine nachhaltige Kostendämpfung im ­Gesundheitswesen braucht, erklärt Yvonne Gilli im Interview.
Am 3. Juni hat der Bundesrat entschieden, den neuen ambulanten Arzttarif TARDOC noch nicht zu genehmigen – diese Entscheidung wurde von der FMH stark kritisiert. Warum hätte der Bundesrat den TARDOC denn genehmigen sollen?
Mit TARDOC haben die Tarifpartner einen sachgerechten, aktuellen und pflegbaren ambulanten Arzttarif vorgelegt – mit unmittelbaren Auswirkungen auf die Patientenversorgung. Mit dem TARDOC wäre zum ­Beispiel die Grundversorgung massiv gestärkt worden – ein Anliegen, das breit geteilt und politisch ja auch immer wieder gefordert wird. Der TARDOC enthält ein eigenes Hausarztkapitel und bildet endlich zentrale Leistungen wie Palliative Care und Chronic Care ­Management ab. Auf diese Leistungen sind heute viele Patienten und Patientinnen angewiesen. In unserem hoffnungslos veralteten Tarif TARMED sind sie aber nicht vorgesehen, genauso wenig wie die Digitalisierung. Auch die interprofessionelle Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe wäre gestärkt worden – ein wichtiger ­Ansatz, um Gesundheitsfachpersonen im Beruf zu ­halten und Folgen des Ärztemangels zu lindern.
Die FMH hat nicht nur die Hoffnung, dass der TARDOC kommen wird, sondern auch eine klare Erwartungshaltung gegenüber dem Bundesrat. © Jon Tyson / Unsplash
Der Bundesrat argumentiert aber, der Tarif erfülle das Kriterium der Kostenneutralität nicht. Er würde hohe Mehrkosten generieren.
Wir Tarifpartner haben von Anfang an eine kostenneutrale Einführung des TARDOC garantiert. Dafür haben wir ein Kostenneutralitätskonzept und ein Tarifmonitoring mit Korrekturmassnahmen vorgelegt. Die Kostenneutralität ist eine klare gesetzliche Forderung. Wenn wir diese nicht erfüllen würden, hätten wir den TARDOC gar nicht erst eingereicht. Wir haben nach der Einreichung zudem auf Aufforderung des EDI die Kostenneutralitätsphase von einem Jahr auf drei Jahre verlängert. Nun stellt der Bundesrat neue Anforderungen zur Kostenneutralität. Diese wurden uns vorgängig zum Bundesratsentscheid nie kommuniziert und wir haben von ihnen gleichzeitig mit den Medien erfahren. Wir werden die sich daraus ergebenden Konsequenzen jetzt prüfen.
Die Kostenneutralität wird durch die Tarifpartnerschaft sichergestellt. Die Mehrheit der Versicherer hat am TARDOC mitgewirkt. Sie würden niemals einen Tarif unterstützen, der Mehrkosten verursacht. Kein Versicherer würde Prämienerhöhungen durch höhere Kosten im ambulanten Arzttarif riskieren. Notabene hat auch ein grosser Versicherer der santé-
suisse-Gruppe am TARDOC mitgewirkt und unterstützt die Genehmigung nachdrücklich. Der Curafutura-­Direktor hat sogar vorgerechnet, dass man mit dem TARDOC-Kostenneutralitätskonzept im Jahr 2021 das Kostenwachstum hätte verringern können. Die Verzögerung des TARDOC schützt die Prämienzahlenden also nicht – sie belastet sie sogar zusätzlich. Und auch darüber hinaus gilt: Wer Kostendämpfung möchte, ist zwingend auf einen sachgerechten ambulanten Tarif angewiesen.
Yvonne Gilli ist Präsidentin der FMH und setzt sich weiterhin für den TARDOC ein.
Wieso trägt der TARDOC denn zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen bei?
Der TARDOC ist aus mehreren Gründen ein unverzichtbarer Beitrag für eine nachhaltige Kostendämpfung im Gesundheitswesen. Zum einen stärkt er die kosteneffiziente ärztliche Grundversorgung. Aber auch über die ärztlichen Leistungen hinaus fördert er durch die Vergütung interprofessioneller Leistungen kosteneffiziente integrierte Versorgungskonzepte. Auf den TARDOC entfallen ein Drittel der Prämiengelder – da darf ein solcher Fortschritt nicht ausgebremst werden.
Wir alle wissen, dass die Zukunft einer kostengünstigen Versorgung im ambulanten Bereich liegt, darum wird ja auch so nachdrücklich «ambulant vor stationär» gefordert. Nicht nur für die Patienten und Patientinnen ist es angenehmer, nicht ins Spital zu müssen – ambulante Behandlungen sind auch deutlich günstiger. Insofern ist eine Zunahme ambulanter Leistungen auch politisch explizit gewünscht. Eine zukunftsfähige ambulante Versorgung wird aber mit einem Tarif von 2004 nicht möglich sein. Für eine qualitativ hochstehende und umfassende Versorgung der Bevölkerung brauchen wir einen modernen Tarif, der die aktuelle Patientenversorgung abbildet. Wenn eine Leistung wegen eines schlechten ambulanten Tarifs teurer im Spital erbracht wird, ist niemandem geholfen. Der TARDOC reduziert Fehlanreize und Verschwendung durch schlechte Ressourcenallokation. Von einer Genehmigung profitieren in erster ­Linie ­Patientinnen, Patienten und Prämienzahlende.
Der Bundesrat hat auch kritisiert, dass nicht alle Akteure hinter dem Tarif stehen. Müsste der TARDOC nicht breiter abgestützt sein?
Der TARDOC ist breit abgestützt: Sämtliche Leistungserbringer und eine Mehrheit der Krankenversicherer stehen hinter diesem Tarif. Auch H+ hat sich ja vor der Entscheidung des Bundesrats über den TARDOC explizit und schriftlich für eine Genehmigung ausgesprochen. Damit erfüllt der TARDOC die gesetzlichen Forderungen. In unserem Boot fehlt aber leider eine Minderheit von Versicherern, die bei santésuisse organisiert sind. Natürlich sind auch diese Versicherer weiterhin eingeladen, sich am TARDOC zu beteiligen. Dafür arbeiten wir auch bei der Gründung der nationalen Tariforganisation.
Die TARDOC-Genehmigung darf aber nicht vom Verhalten einer Minderheit abhängig sein, sonst hätte jede Minderheit faktisch ein Vetorecht. Genau dieses Einstimmigkeits-Prinzip hat erst dazu geführt, dass der TARMED so lange nicht revidiert werden konnte. Den TARDOC gibt es nur, weil die Tarifpartner heute auf Mehrheiten setzen und nicht mehr auf Einstimmigkeit. Man würde auch vom Parlament nie verlangen, dass es nur einstimmig Gesetze erlassen darf – das würde offensichtlich zu einer Dauerblockade führen. Genauso ist es mit der Tarifpartnerschaft.
Die Spitäler haben zwar für eine Genehmigung plädiert – aber den TARDOC nicht gemeinsam mit den anderen Tarifpartnern eingereicht. Warum?
Für H+ stellt sich die Situation anders dar. TARDOC löst viele Probleme für die Spitäler nicht. Spitäler haben eine völlig andere und äusserst komplexe Leistungsstruktur. Allein schon die Aufgabe, stationäre von ambulanten ärztlichen Leistungen abzugrenzen, ist eine grosse Herausforderung. Die Spitäler erleben aktuell einen Strukturwandel. Die teuren stationären Bereiche, die viel Infrastruktur erfordern, werden konzentriert und reduziert. Dies entspricht dem allgemeinen Konsens, dass wir «ambulant vor stationär» behandeln müssen, führt aber für die Spitäler zu Problemen. Viele ambulante Behandlungen, die heute über den TARMED abgerechnet werden müssen, sind für Spitäler defizitär, was zu einem grossen Kostendruck führt. Der Austausch mit H+ ist uns sehr wichtig, sie sind ein zentraler Partner für die Tarifentwicklung.
Sehen Sie eine Alternative zu TARDOC?
Es gibt aktuell keinen anderen Einzelleistungstarif, der eine Alternative bieten könnte. Und wenn man bedenkt, wie viel Zeit und Ressourcen die Entwicklung des TARDOC erfordert hat und dass dieser die Anforderungen der Genehmigungsbehörde trotzdem noch nicht erfüllt – dann wird deutlich, dass es in absehbarer Zeit auch keine Alternative geben kann. Der Bundesrat hat mit seiner Entscheidung die Latte für eine Tarifgenehmigung so hoch gesetzt wie noch nie – das wird auch für alle anderen Tarife einen hohen Aufwand generieren.
Eine Alternative zum TARDOC von heute ist aber immer der TARDOC von morgen: Das ist der entscheidende Vorteil an diesem Tarif, er ist ab der Genehmigung pflegbar. Mit dem TARDOC würden wir nie wieder in die Situation geraten, in der wir heute sind: Wir könnten erstmals einen betriebswirtschaftlich korrekt berechneten Tarif fortwährend pflegen und verbessern. Er könnte sich gemeinsam mit der Gesundheitsversorgung weiterentwickeln – ein ­Revisionsstau wie heute wäre nicht mehr möglich.
Vielfach werden aber Pauschalen als Alternative zum TARDOC genannt.
Der TARDOC und die Entwicklung von Pauschalen schliessen sich nicht aus – im Gegenteil, sie ergänzen sich. Wir werden nie alle Einzelleistungen durch Pauschalen ersetzen können, das ist unbestritten, aber wir werden für hoch standardisierte ambulante Tätigkeiten die heutigen Einzelpositionen in Pauschalen überführen können. Mit jeder Genehmigung einer Pauschale wird diese entsprechende TARDOC-Positionen ersetzen. Darum ist uns auch die gemeinsame Arbeit in der nationalen Tariforganisation wichtig: Genehmigungsfähige Pauschalen müssen abgestimmt auf die Einzelleis-
tungstarifstruktur funktionieren – und darum kohärent entwickelt werden.
Sie haben sich nach der Entscheidung des Bundesrats über den TARDOC sehr pointiert dazu geäussert. Das hat auch für Irritationen gesorgt. Würden Sie Ihre Aussagen von damals heute so wiederholen?
Es ist natürlich sehr enttäuschend, wenn Sie über Jahre hinweg mit vielen hoch qualifizierten Experten und Expertinnen und in harten Verhandlungen unter den Tarifpartnern einen Tarif erarbeiten, wie er in dieser Qualität in der Schweiz noch nie vorgelegt wurde – und dann wird Ihnen mitgeteilt, dass man lieber mit dem 20-jährigen TARMED weiterfährt. Nicht nur die FMH, alle beteiligten Tarifpartner haben hier enorm viel Zeit und Ressourcen investiert. Wir haben miteinander gerungen und Lösungen gefunden – dann trifft einen eine solche Antwort natürlich. Es ist auch schwer für die Ärzteschaft zu akzeptieren, weiterhin mit dem veralteten TARMED abrechnen zu müssen – obwohl es den aktuellen TARDOC gibt. Und ja, wenn der Tarifpartnerschaft so viele Hürden in den Weg gelegt werden, während gleichzeitig staatliche Tarifkompetenzen im Parlament stark vorangetrieben werden, muss auch der politische Kontext dieses Genehmigungsprozesses benannt werden dürfen.
Jetzt schauen wir in die Zukunft und würdigen, dass der Bundesrat den TARDOC ja im Grundsatz nicht infrage stellt und als zukünftigen ambulanten Einzelleistungstarif bestätigt hat.
Für den TARDOC gibt es also noch Hoffnung?
Wir haben nicht nur Hoffnung – wir haben eine sehr klare Erwartungshaltung. Der Bundesrat hat am 3. Juni 2022 erstmals ganz konkret formuliert, was er für eine Genehmigung einfordert. Das gibt uns eine klare Grundlage für die nächsten Schritte. Wir haben seit der ersten Einreichung 2019 zwar bereits drei Mal die ­wesentlichen Nachforderungen des Departements des Inneren mit unseren Nachreichungen erfüllt. Zur ­letzten im Dezember 2021 eingereichten Version V1.3 haben wir dann trotz Nachfrage nie eine Rückmeldung erhalten – und hatten somit auch keine Gelegenheit, die jetzt vorliegenden neuen Forderungen an die Kostenneutralität vorgängig zu prüfen und so die Genehmigungsfähigkeit im Gesamtbundesrat zu unterstützen. Wir schauen nun aber auf das halb volle Glas und nutzen jede Chance, die sich uns bietet, damit die ambulante Patientenversorgung endlich wieder einen sachgerechten Tarif hat.
Strebt die FMH also eine erneute Einreichung an?
Es ist unsere Pflicht, nichts unversucht zu lassen, solange die Chance auf einen TARDOC besteht, der die ärztlichen Leistungen sach- und betriebswirtschaftlich korrekt abbildet. Die FMH prüft aktuell zusammen mit curafutura, MTK und SWICA, inwieweit die neue Situation dies zulässt – und wir bleiben im Gespräch mit ­allen Tarifpartnern. Für die FMH entscheidet die Delegiertenversammlung. In unseren Gremien sehen wir, dass die Geduld der Ärzteschaft zwar strapaziert ist – aber auch ein hohes Verantwortungsbewusstsein vorhanden ist: Wir sind es nicht nur unseren Mitgliedern schuldig, dass sie mit einem sachgerechten Tarif abrechnen können – sondern vor allem unseren Patienten und Patientinnen. Und nicht zuletzt möchten wir alle als Prämienzahlende einen Tarif ohne Fehlanreize, der die kostengünstige ambulante Versorgung stärkt. Letztlich haben wir alle ein gemeinsames Interesse an einer qualitativ hochstehenden, für alle zugänglichen und nachhaltig finanzierbaren Gesundheitsversorgung – da werden wir in unserem Einsatz nicht nachlassen.
Der Weg zum TARDOC: Steinig und verschlungen, aber es geht weiter. © Fabien Bazanegue / Unsplash
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