Aussagen zur Prämienentwicklung im Faktencheck

Wie stark steigen die Krankenkassenprämien?

FMH
Ausgabe
2022/3132
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20944
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(3132):966-968

Affiliations
a Dr. phil., persönliche wissenschaftliche Mitarbeiterin der Präsidentin; b Dr. med., Präsidentin der FMH

Publiziert am 03.08.2022

Neben der Höhe der Krankenkassenprämien ist auch deren Entwicklung ein wichtiges Thema für die Schweizer Haushalte. Zum Prämienanstieg werden immer ­wieder unterschiedliche Zahlen kommuniziert, die mitunter jedoch nicht gut geeignet sind, um die Prämienentwicklung zu beschreiben. Wir gehen darum einigen Aussagen zur Prämienentwicklung nach und geben einen Überblick.
Zwei Kostendämpfungspakete des Bundesrats, die ­Kostenbremse-Initiative der Mitte-Partei, die Prämieninitiative der SP sowie die dazu angestrebten Gegenvorschläge – viele grosse politische Vorhaben rücken aktuell die Entwicklung der Krankenkassenprämien in den Fokus und versuchen ihre Anliegen mit Zahlen zu untermauern. Doch nicht immer vermitteln die präsentierten Statistiken ein aussagekräftiges Bild. Sogar in offiziellen Informationen des Bundes finden sich verzerrte Grafiken steiler Prämienanstiege, [1] während positivere Zahlen weniger auffällig kommuniziert werden [2].

Prämienanstieg unterschiedlich hoch

Die Unterschiede zwischen den Angaben zum Prämienanstieg erklären sich teilweise durch die herangezogene Masszahl. Am grössten klingt der Anstieg, wenn man das reine Prämienvolumen beziffert. So begründete zum Beispiel Bundesrat Berset in einer Medienkonferenz 2020 die Notwendigkeit seines zweiten Kostendämpfungspakets mit der Aussage: «1996 kosteten die Leistungen in der obligatorischen Grundversicherung, 11 Milliarden Franken – 11 Milliarden Franken – heute sind es 33 Milliarden und in zehn Jahren, wenn das Wachstum so weiter geht, werden es 50 Milliarden Franken sein» [3].
Diese Aussage ist aus mehreren Gründen irreführend. Sie unterschlägt nicht nur, dass zwischen 1996 und 2020 auch die Zahl der Versicherten um 1,5 Millionen gewachsen ist. Sie blendet auch aus, dass die OKP im Jahr 1996 nur 29,9 % der Gesamtgesundheitskosten finanzierte – im Jahr 2020 jedoch 37,9 % [4]. Entsprechend wäre Bersets Prognose auch nur dann plausibel, wenn sich das Bevölkerungswachstum und die Um­verteilung zulasten der Prämienzahlenden gleichermassen fortsetzen würden. Zudem berücksichtigt ­Bersets Prognose nicht, dass der Anstieg des Prämienvolumens in den letzten zehn Jahren deutlich geringer ausfiel [5].
Obwohl diese Aussage einer Verdreifachung der OKP-Kosten also wenig aussagekräftig ist, findet sie sich in mehreren offiziellen Dokumenten. Sie leitet den erläuternden Bericht zu Kostenzielen als indirekten Gegenvorschlag zur Kostenbremse-Initiative ein [6] und findet sich auch in der Botschaft zu den Kostenzielen [7]. Entsprechend wurde sie auch im Parlament aufgenommen und floss dort in die Diskussion über die Vorlage zu den Kostenzielen ein [8].

Angaben sollten Pro-Kopf-Angaben sein

Aussagekräftige Zahlen zum Anstieg der Krankenkassenprämien sollten also sinnvollerweise immer Pro-Kopf-Angaben sein. Doch auch hier sind – je nach ­gewähltem Indikator und Zeitraum – sehr unterschiedliche Angaben möglich. So berichtet das BAG in einem «Faktenblatt» zur Zielvorgabe mit Bezug auf die Standardprämie, die Ausgaben in der OKP seien «in den letzten 20 Jahren im Schnitt rund 4,5 Prozent pro Jahr gewachsen» [9]. Ein Blick in die Statistik [10] zeigt, dass diese Angabe zum Zeitpunkt der Publikation des Faktenblatts auch so korrekt war – und trotzdem ist auch diese Zahl irreführend. Denn unerwähnt bleibt, dass nicht einmal 15 % der Bevölkerung im Standardmodell versichert sind – und die Standardprämie auch deutlich stärker gestiegen ist als die real bezahlte mittlere Prämie. Dennoch fand auch diese kaum aussagekräftige Zahl Eingang in die parlamentarische Debatte. Die Mitte-Partie verwendet sie – aufgerundet – für ihre Kostenbremse-Initiative und verbreitet, die Krankenkassenprämien würden seit Jahren «jährlich um rund 5[11] steigen.

Informativer Zeitraum nötig

In anderen Publikationen des Bundes findet sich die ­Angabe, die OKP hätte seit ihrer Einführung «jedes Jahr pro versicherte Person durchschnittlich vier Prozent mehr» ausgeben müssen [7, 12]. Auch diese Angabe ist korrekt, wäre jedoch einige Ergänzungen wert: Sie blendet nicht nur aus, dass heute immer mehr über Prämien finanziert wird (siehe oben [4]), sondern unterschlägt auch die positive Entwicklung: Während das Kostenwachstum in den ersten zehn Jahren nach Einführung der OKP bei durchschnittlich etwa 4,7 % pro Person und Jahr lag, betrug es in den zehn Jahren vor der Publikation der bundesrätlichen Botschaft nur noch 2,6 %. Diese deutliche Verbesserung bleibt in diesem Mittelwert über den langen Zeitraum jedoch unsichtbar [13].

Entwicklung der mittleren Prämie

Um etwas Klarheit in das Zahlendurcheinander der Prämiendiskussion zu bringen, zeigen wir in Abbildung 1 die Entwicklung der effektiv pro Person bezahlten mittleren Monatsprämien zwischen 1997 und 2020. Die mittlere Prämie aller Versicherten ist in diesem Zeitraum von 139 Franken in Monat auf 315 Franken im Monat ­gestiegen, was einem jahresdurchschnittlichen Anstieg von 3,7 % seit 1997 entspricht [14]. Die Entwicklung der letzten zehn Jahre verlief jedoch deutlich positiver als in den Jahren zuvor: So berichtete auch das BAG, die mittlere Prämie sei in den letzten zehn Jahren jahresdurchschnittlich nur noch um jährlich 2,4 % gestiegen [15].
Abbildung 1: Entwicklung der mittleren Prämie pro Monat und Person in Franken.

Ziel erreicht?

Mit den teilweise sehr bedrohlichen Darstellungen des Prämienanstiegs in Politik und Medien rückt stark in den Hintergrund, dass die aktuelle Prämienentwicklung bereits die Zielvorgaben des bundesrätlichen ­Expertenberichts erfüllt: Dieser schlug nämlich vor, das Wachstum der Gesundheitskosten im OKP-Bereich mithilfe der «Globalzielvorgaben» längerfristig auf 2,7 Prozent pro Jahr zu begrenzen. Dabei sollte schrittweise vorgegangen werden, weil die im Bericht vor­geschlagenen Massnahmen ihre Wirkung nicht unmittelbar entfalten würden. Entsprechend wurde angedacht z. B. für eine erste Fünfjahresperiode zunächst ein Ziel von 3,3 % und für eine weitere Fünf­jahresperiode eines von 2,7 % vorzusehen [12].
Dass die Prämienentwicklung das von den Experten gesetzte Fernziel bereits erfüllte, noch bevor das Parlament auch nur eine der Expertenmassnahmen ver­abschiedet hatte, wurde bislang kaum zur Kenntnis ­genommen. Im Gegenteil: Im Parlament wurde beklagt, die Kosten seien pro Kopf und Jahr «durchschnittlich um 2,5 Prozent in die Höhe geschnellt» [8] –, ohne zu realisieren, dass damit das Ziel der diskutierten Massnahmen bereits mehr als erreicht wurde.

Prämien wachsen stärker als Kosten

Last but not least soll hier noch das häufige und auch im Parlament verbreitete Missverständnis angesprochen werden, die Prämienentwicklung entspräche «eins zu eins» der Kostenentwicklung [8]. Auch der Bundesrat setzt immer wieder explizit Prämien mit Kosten gleich. So führte er zum Beispiel in der bereits erwähnten Medienkonferenz gleich zu Beginn aus, die Prämien würden die Kosten decken, sodass eine bessere Kontrolle der Kosten auch eine bessere Kontrolle der Prämien nach sich ziehe. Dies sei der Grund, warum man so viele Massnahmen ergreife, um den Kostendruck und folglich den Prämiendruck zu reduzieren [3].
Abbildung 2 zeigt auf Basis amtlicher Statistiken, [5] dass diese Gleichsetzung von Kosten- und Prämienentwicklung nicht der Realität entspricht. Die Prämien decken selbstverständlich nicht die gesamten Gesundheitskosten, sondern nur einen Teil davon – und dieser prämienfinanzierte Anteil ist seit Einführung der OKP deutlich gewachsen: Im Jahr 1997 betrugen die Gesundheitskosten pro Kopf und Monat 452 Franken, davon wurden 139 Franken über die mittlere Prämie gedeckt. Im Jahr 2020 betrugen gemäss provisorischen Daten die Gesundheitskosten pro Kopf und Monat 804 Franken, ­wovon 315 Franken über die mittlere Prämie finanziert wurden. Die mittlere Prämie stieg also um 176 %, obwohl die Gesamtkosten «nur» um 78 % stiegen. Auch die Linien in Ab­bildung 2 zeigen, dass der Anstieg der Gesamtkosten (rot) in der Regel klar niedriger ausfiel als der Anstieg der Prämien (blau) und im Jahr 2020 lediglich 1,5 % betrug.
Abbildung 2: Entwicklung der Gesamtausgaben (rot) sowie der Prämien (blau) pro Kopf und Monat in Franken (Säulen) sowie Prozent (Linien) [5].

Fazit: kritische Prüfung nötig

Von der bedrohlichen Verdreifachung des Prämien­volumens bis hin zu einem jahresdurchschnittlichen Anstieg von 2,4 Prozent und damit vorzeitig erfüllten Expertenzielen: In der Diskussion um die Prämienentwicklung kann jeder und jede Angaben finden, die persönliche Vorurteile zu bestätigen scheinen. Umso wichtiger ist ein seriöser Umgang mit den verfügbaren Daten und eine kritische Prüfung vermeintlich objektiver Prozentangaben zur Prämienentwicklung. An­gaben zur Prämienentwicklung sollten Pro-Kopf-An­gaben sein und auf aussagekräftigen Indikatoren beruhen, wie zum Beispiel der mittleren Prämie, die die Lebenswirklichkeit der Bevölkerung am besten abbildet. Ausserdem sollten durch die Wahl des Zeitraums für einen Durchschnittswert nicht wichtige Entwicklungen verschleiert werden.
Die divergierenden Angaben zur Prämienentwicklung führen ausserdem vor Augen, wie unterschiedlich selbst die Beschreibung eines realen und gut objektivierbaren Geschehens, nämlich der Prämien- und ­Kostenentwicklung der Vergangenheit, ausfallen kann. Angesichts der grossen Bandbreite der berichteten Zahlen, die zumindest teilweise offensichtlich politischen Interessen geschuldet ist, erstaunt das aktuelle Vertrauen vieler Parlamentarier, man könne das «korrekte» Prämien- bzw. Kostenwachstum auf die Nachkommastelle genau berechnen. Eine seriöse Fest­legung einer solchen fiktiven «gerechtfertigten» bzw. «erklärbaren» Kostenentwicklung, wie es sowohl durch den Artikel 47c KVG als auch durch die Kostenziele gefordert wird, dürfte eine unerfüllbare Aufgabe sein.
Auch die Tatsache, dass die Prämienentwicklung der letzten Jahre positiver verlaufen ist als von Expertinnen und Experten erhofft, zeigt die Fragwürdigkeit solcher Zielfestlegungen auf: Das Kosten- und Prämienwachstum hat sich in den letzten Jahren klar abgeschwächt – ohne dass es vorhergesehen worden wäre oder sich Einflussfaktoren wie der medizinische Fortschritt oder die Alterung der Bevölkerung entscheidend verändert hätten. Zudem wäre es trotz des vorzeitig und übererfüllten «Fünfjahresplans» falsch, in den Effizienzbestrebungen nachzulassen. Die möglichst effiziente Nutzung der Ressourcen eines solidarisch finanzierten Systems muss selbstverständlich sein – und funktioniert offensichtlich besser als amtliche Zahlenwerke.
nora.wille[at]fmh.ch
1 Birgit Voigt; NZZ Magazin, 16.04.2022, 15.45 Uhr; Künstliche Fieberkurve: Wie das BAG seine Prämien-Grafiken verzerrt. URL: magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/hintergrund/bag-dramatisiert-grafiken-zur-kostenexplosion-bei-den-praemien-ld.1679845
2 Fabian Schäfer; Plus 2,2 Milliarden für die Verbilligung der Krankenkassenprämien – ist das wirklich nötig? NZZ, 16.6.2022; URL: www.nzz.ch/schweiz/plus-22-milliarden-fuer-die-verbilligung-der-krankenkassenpraemien-ausbau-des-sozialstaats-spaltet-die-fdp-ld.1689114
3 Medienkonferenz des Bundesrats, 19.08.2020 zur Änderung des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (Massnahmen zur Kostendämpfung – Paket 2) - Eröffnung des Vernehmlassungsverfahrens. URL: https://www.youtube.com/watch?v=c6_2y5Ljf1Y; (Beginn und ab Minute 14:22)
4 Wille N, Gilli Y. Die Prämien steigen stärker als die Kosten. Schweiz Ärzteztg. 2022;103(2122):702-704; URL: saez.ch/article/doi/saez.2022.20811
5 Daten BFS – Kosten und Finanzierung des Gesundheitswesens; Tabelle je-d-14.05.01.01; Kosten des Gesundheitswesens seit 1960 sowie Finanzierung des Gesundheitswesens seit 1995; Datenstand: 31.3.2022; BFS 2022; URL: www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/gesundheit/kosten-finanzierung.assetdetail.22324823.html
6 EDI, BAG. Erläuternder Bericht zur Änderung des Bundesgesetzes vom 18. März 1994 über die Krankenversicherung (Massnahmen zur Kostendämpfung – Paket 2) als indirekter Gegenvorschlag zur eidgenössischen Volksinitiative «Für tiefere Prämien – Kostenbremse im Gesundheitswesen (Kosten-bremse-Initiative)»: Eröffnung des Vernehmlassungsverfahrens, Bern, 19. August 2020.
7 21.067 Botschaft zur Volksinitiative «Für tiefere Prämien – Kostenbremse im Gesundheitswesen (Kostenbremse-Initiative)» und zum indirekten Gegenvorschlag (Änderung des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung) vom 10. November 2021
8 Amtliches Bulletin, Nationalrat, Sommersession 2022, 31.05.22
9 Eidgenössisches Departement des Innern EDI, Bundesamt für Gesundheit BAG, 19. August 2020, Faktenblatt zur Zielvorgabe für Kostenentwicklung im Gesundheitswesen.
10 Statistik der obligatorischen Krankenversicherung, Tabelle 8.01 Prämientarif: Standardprämien OKP in Franken ab 1996: CH, Datenstand: 28.09.21; URL: www.bag.admin.ch/bag/de/home/zahlen-und-statistiken/statistiken-zur-krankenversicherung/statistik-der-obligatorischen-krankenversicherung.html
11 Angabe der Mitte-Partei zu ihrer Kostenbremse-Initiative, Webseite die-mitte.ch/kostenbremse-initiative/ [letzter Zugriff 4.7.2022]
12 Kostendämpfungsmassnahmen zur Entlastung der obligatorischen Krankenpflegeversicherung, Bericht der Expertengruppe, 24. August 2017
13 Statistik der obligatorischen Krankenversicherung, Tabelle 3.05 Mittlere Prämien in Franken je versicherte Person nach Versicherungsform ab 1996 und Tabelle 2.21 Nettoleistungen in Franken je versicherte Person nach Versicherungsform ab 1996; Datenstand: 16.06.21 URL: www.bag.admin.ch/bag/de/home/zahlen-und-statistiken/statistiken-zur-krankenversicherung/statistik-der-obligatorischen-krankenversicherung.html
14 Statistik der obligatorischen Krankenversicherung, T 3.05 Mittlere Prämien in Franken je versicherte Person nach Versicherungsform ab 1996; Datenstand: 16.06.21; URL: www.bag.admin.ch/bag/de/home/zahlen-und-statistiken/statistiken-zur-krankenversicherung/statistik-der-obligatorischen-krankenversicherung.html
15 Medienmitteilung des BAG, Krankenversicherung: Mittlere Prämie sinkt 2022 zum ersten Mal seit 2008 Bern, 28.09.2021 www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-85284.html#:~:text=In%20den%20letzten%20zehn%20Jahren,und%20betr%C3%A4gt%2099%2C60%20Franken.