Die Suche nach dem Röntgenbild im Datenlabyrinth

Horizonte
Ausgabe
2022/35
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20945
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(35):1124-1126

Affiliations
Prof. Dr. med. Dr. phil. Avignon, Frankreich

Publiziert am 30.08.2022

Die Betrachtung von radiologischem Bildmaterial will geübt sein. Weshalb die elektronische Speicherung der Daten die Arbeit sogar erschweren kann und wieso 
Radiologinnen und Radiologen auf die eigenständige Analyse der Aufnahmen dennoch nicht verzichten sollten.
Die flachen Plastikscheiben, auf denen seit mehr als zwei Jahrzehnten das radiologische Bildmaterial gespeichert wird, sind ein grosser Gewinn für die Dokumentation und Organisation in der bildgebenden Diagnostik. Sie beanspruchen im Gegensatz zu den Röntgentüten und -hülsen, in denen man die Filme und Papierabzüge früher verstaut hat, verschwindend wenig Platz, sie helfen, Silber und andere wertvolle Werkstoffe einzusparen und sie sind zum Wegbereiter der elektronischen Patientenakte geworden. Inzwischen werden auch die meisten Krankenblätter sowie die Unterlagen zu praktisch jedem Gutachten, gerade wenn sie viele hundert Seiten umfassen, auf Disketten gespeichert. Die Platzersparnis, die die Scheiben bieten, wird durch die Möglichkeit ergänzt, die Datensätze sowohl vorangegangener wie nachfolgender bildgebender Diagnostik in den Speicher zu integrieren und auf diese Weise für die Aufnahmen ein veritables Arsenal zu schaffen. So eine Schatzkammer kann aber nur dann wirklich von Nutzen sein, wenn man sie ­unkompliziert öffnen, das Gesuchte rasch finden und die Fundstücke ohne Zeitverzögerung in ­Augenschein nehmen kann. Gerade da aber hakt es immer noch und immer wieder.
Bei der Betrachtung von digitalen Röntgenbildern muss das medizinische Fachpersonal viel Zeit und Geduld aufbringen. Trotzdem lohn sich der Blick ins virtuelle Dossier. © Owen Beard Unsplash

Holzweg Datenträger

Es ist nicht so einfach, den Zugang zum elektronischen Speicher zu finden, wie er von den Instituten gefüllt wird. Von einem unmittelbaren Zugriff, wie man ihn bei der kunstlosen Röntgentüte hatte, ist man jedenfalls weit entfernt. Wenn die Tasche nicht gerade überquoll, was in von der Projektionsradiographie dominierten Zeiten auch nur selten der Fall war, stiess man rasch auf die gesuchten Filme, konnte man ebenso schnell die zum Vergleich geeigneten Voraufnahmen ausfindig machen, die Bilder gegen ein Fenster oder eine Lampe halten, wenn erforderlich, in wechselndem Einfallswinkel betrachten oder ganz professionell an einen jalousiebewehrten Leuchtkasten hängen. Der Griff nach den Bildern dauerte jedenfalls in der Regel weniger lange als deren Betrachtung und Beurteilung. Heute sind die Anlaufzeiten länger – manchmal sogar viel länger. Da schiebt man die CD/DVD in den Laptop, wartet unterschiedlich lange, bis sie vom DICOM-Viewer erkannt und geräuschvoll inkorporiert worden ist, bis man aufgefordert wird, sie zu öffnen, bis man an die Übersichtsdarstellung der ­gespeicherten Bilddateien gelangt und das Angebot bekommt, diese in beliebiger Reihenfolge zu öffnen. ­Jeder Schritt gelingt unkalkulierbar schnell oder langsam und zwischen jedem Schritt kann unvorhersehbar wenig oder viel Zeit vergehen.
Was der Computer und die CD/DVD an Minuten ­brauchen, um sich dem Betrachtenden zu öffnen, ist manchmal aber noch wenig im Vergleich mit der zeitlichen Investition, die man für die Identifizierung der richtigen Tasten, Pfeile und Symbole auf dem Bildschirm zu leisten hat. Diese Belastung wird besonders dann unangenehm spürbar, wenn man mit einem Programm arbeiten muss, das ein Format besitzt, mit dem man noch nicht vertraut ist. Es ist unglaublich, wie viele Software-Varianten der Benutzerin oder dem Benutzer im Lauf der Zeit begegnen können. Und es ist unfassbar, dass sich beim Design bisher nicht auf eine wenigstens basiseinheitliche Konfiguration der Programme geeinigt werden konnte; die Möglichkeit zu individueller Angebotsoptimierung und Verfeinerungen im Detail wäre ja unabhängig davon gegeben. So bleibt nach einer groben, aber wohl nicht ganz unzutreffenden Schätzung und unter Berücksichtigung eigener Erfahrungen mindestens jede zweite CD/DVD, die radiologische Daten trägt, ungeöffnet und damit unbeachtet in den Akten liegen. Was für ein Defizit auf dem Weg zur Fachinformation! Was für ein Verzicht auf eigenständige Beurteilung des Bildmaterials! Was für ein intellektueller Verlust!
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Ungeöffnete Schatzkammern

Da böte sich also die Chance, die Dokumente einzeln oder in Gruppen frei wählbarer Grösse und Anordnung auf dem Bildschirm zu betrachten, da könnte man nicht nur die Orientierungen und Kontraste abwandeln, sondern auch Distanzen, Winkel, Flächen und Volumina messen, Dichte und Signalstärke punktuell und im Verlauf quantifizieren, aus dem Datensatz ­nahezu beliebige Rekonstruktionen erstellen und zur Erleichterung und Verbesserung der Verlaufskontrolle Bilddatensätze von Untersuchungen an verschiedenen Terminen nebeneinander projizieren. All dies will erst einmal erlernt sein, bevor man es zeitsparend praktizieren kann. Freilich verliert die computerassistierte Bildanalyse auch für diejenigen, die nicht regelmässig, sondern nur ab und zu damit arbeiten, mit der Zeit ­ihren Schrecken, zumal vergleichbare Programme in anderen Bereichen der Datenverarbeitung eingesetzt werden. Die der Vorbereitung auf Operationen und ­andere Interventionen dienende selbständige Betrachtung und Analyse der bildgebenden Diagnostik gehört inzwischen in vielen Disziplinen zur Alltagsarbeit.
Entsprechend gewandt gehen viele Fachpersonen bei der Sichtung und Auswertung des Bildmaterials vor und überprüfen unter anderem die im Befundbericht dokumentierten Messwerte. Aber die Quantifizierung ist nur ein und nicht der wichtigste Aspekt der Evaluation. Entscheidend sind die Beurteilung der erkrankten Organe und der krankhaften Befunde, der Beziehung der Läsionen zum benachbarten intakten Gewebe und die Identifizierung von Neben- und Zufallsbefunden. Man kann sich als zweitbetrachtende Person vom ­Befundbericht leiten lassen oder zunächst selbst auf die Suche gehen und die eigenen Beobachtungen ­abschliessend mit den vom radiologisch-ärztlichen Fachpersonal dokumentierten Aussagen vergleichen. Die CD/DVD eröffnen den Auftraggebenden von Röntgenuntersuchungen jedenfalls die Möglichkeit, die bildgebende Diagnostik in ihrer ganzen Breite und Tiefe nachzuvollziehen und, wenn man auch die ­Anhänge öffnet, so wichtige wie häufig in den Berichten vernachlässigte Zusatzinformationen wie die über die Strahlendosis und Dauer der Untersuchung zu erhalten.

Diagnose bleibt Interpretationssache

Die Möglichkeit der Sichtung und Kontrolle des Datenmaterials am Bildschirm ist ein Alleinstellungsmerkmal der bildgebenden Diagnostik; andere Disziplinen wie die Pathologie haben nichts damit Vergleichbares zu bieten. Die Prüfung der auf CD/DVD gespeicherten Bilder gibt dem Heilkundigen auch die Möglichkeit, die Probleme der radiologischen Diagnose und Differenzialdiagnostik nachzuvollziehen und die besonderen Herausforderungen, die von den sogenannten Grenzfällen ausgehen, besser zu verstehen. Ausnahmsweise ergibt sich vielleicht sogar die Situation, dass man im Anschluss an die Bildbetrachtung den Kollegen oder die Kollegin der Radiologie kontaktieren möchte, um sich über einen mehrdeutigen Befund oder eine schwierige Differenzialdiagnose auszutauschen. Solange die Ärztinnen und Ärzte, die den radiologischen Befundbericht unterzeichnet haben, noch alleine und ohne computerisierte Assistenz nach der diagnostischen Wahrheit suchen, kann man dann mit einem für das eigene Verständnis und das Schicksal der Patientin oder des Patienten fruchtbaren Dialog rechnen. Wenn allerdings eines Tages die Befunde ­regelhaft unter der Ägide der Künstlichen Intelligenz erstellt werden, wird es keinen Draht mehr geben, an dessen anderem Ende man sowohl Antworten auf ­Einzelfragen als auch aus erster Hand Auskunft über den langen Weg hin zur verantwortlichen Interpretation der bildgebenden Diagnostik erwarten kann.
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