FMH-Tarifmonitoring – Auswirkungen sichtbar machen

Die ambulante psychiatrische Versorgung während der Pandemie

FMH
Ausgabe
2022/35
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20965
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(35):1078-1080

Affiliations
a Präsidentin der Ständigen Tarifkommission FMPP und Vorstand SGPP (Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie), b Expertin, Abteilung Ambulante Versorgung und Tarife, FMH, c Expertin, Abteilung Ambulante Versorgung und Tarife, FMH

Publiziert am 30.08.2022

Der Bedarf nach psychiatrischen Leistungen nimmt seit Beginn der Covid-19-Pandemie weiter zu. Dabei verstärkt die Pandemie einerseits viele Krankheitsbilder, wodurch betroffene Patientinnen und Patienten mehr ärztliche Unterstützung benötigen. Andererseits nimmt die Zahl der Personen, die psychiatrisch-psychotherapeutische Leistungen in Anspruch nehmen, generell zu. Im Weiteren spielt die Verlagerung von stationärer zu ambulanter Behandlung bei psychischen Erkrankungen in den letzten Jahren eine immer wichtigere Rolle.
Im Gegensatz zu anderen Facharztdisziplinen, die in den ersten Monaten der Covid-19-Pandemie viele ­Behandlungen nicht durchführen konnten, hat die Gesamtzahl der Patientinnen und Patienten in der Psychiatrie und Psychotherapie 2020 nicht ab-, sondern ganz leicht zugenommen. Von grosser Bedeutung ist dabei, dass überdurchschnittlich viele neue Patienten psychiatrische Praxen aufsuchten, gleichzeitig aber bestehende Patienten ihre Behandlung während der Pandemie 2020 teilweise unterbrochen haben. Diese Tatsache ist in Bezug auf die Kosten jedoch relevant: Neue Patienten benötigen gerade zu Beginn einer Behandlung häufig eine intensivere Betreuung. In Kombination mit einem pandemiebedingt erhöhten Behandlungsbedarf von bestehenden Patientinnen und Patienten führte dies zu einer Zunahme der Kosten pro Patient.

FMH-Tarifmonitoring – Auswirkungen sichtbar machen

Mit dem FMH-eigenen ambulanten Tarifmonitoring kann die FMH Entwicklungen bei den Patientenbedürfnissen, beziehungsweise den nachgefragten und geleisteten medizinischen Behandlungen erkennen und sichtbar machen. Im Rahmen einer Schwerpunktserie stellt die FMH gemeinsam mit verschiedenen Fachgesellschaften die jeweiligen Entwicklungen im medizinischen Alltag des betroffenen Fachgebiets dar und erläutert die Hintergründe dieser Entwicklungen.
Die Zahl jüngerer Patientinnen und Patienten, die sich in eine psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung begeben, nimmt ebenfalls stetig zu. Diese Personen sind zwar oft kürzer in Behandlung, benötigen ­jedoch gerade in der Anfangsphase der Behandlung eine intensive Betreuung, da sie sich häufig in einer Krise befinden, wenn sie die Behandlung aufnehmen.
Die Abbildung verdeutlicht den beschriebenen Effekt im Jahr 2020: Ein Teil der Patientinnen und Patienten nimmt weniger Leistungen in Anspruch als vor der Pandemie, andere Patientengruppen hingegen mehr.
Abbildung 1: Entwicklung des TARMED-Volumens pro Patient, ärzteeigene Datensammlung, nicht hochgerechnet, Psychiatrie und Psychotherapie, Gesetz KVG, Tarif TARMED.

Videotelefonie: nicht für alle ein Segen

Während der Pandemie haben viele Fachärztinnen und Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie die Möglichkeit der Videotelefonie vermehrt genutzt, um die Behandlung und Versorgung ihrer Patienten zu gewährleisten [1]. Die jüngeren, digital affinen Patienten waren in der Pandemie eher bereit, die Behandlung auch via Videotelefonie zu führen. Gleichzeitig gab es aber auch Patientinnen und Patienten, die keine Gespräche per ­Videotelefonie führen wollten oder konnten.

Psychische Erkrankungen während der Pandemie

Jede zweite Person leidet im Verlauf ihres Lebens an einer psychischen Erkrankung. Psychiatrische Erkrankungen gehören zu den häufigsten Erkrankungen überhaupt [4,5,6,7,8]. Eine Pandemie führt ausserdem zu verstärkter Isolation, verminderter Inanspruchnahme von kontinuierlicher psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung, zu verstärkten Sorgen bezüglich Arbeit, Familie, Finanzen, Bedrohung durch schwere Erkrankungsverläufe und durch Verluste von Familienangehörigen. In einer Pandemie ist bei vorbestehender psychischer Vulnerabilität die Wahrscheinlichkeit einer Verlaufsverschlechterung bei einer psychischen Erkrankung gross. Auch stressassoziierte psychische Ersterkrankungen sind in Extremsituationen häufiger sowie vermehrt auch Patienten mit Long Covid und Chronigue fatigue, Schlafstörungen sowie Depressionen und Angststörungen in Folge von Long-Covid.

Hohe Behandlungsintensität

Zwei weitere Faktoren spielen bei der Analyse der psychiatrischen Leistungen eine Rolle: Erstens verstärkt die Pandemie bestimmte Krankheitsbilder. Das bedeutet, dass beispielsweise Patienten, die bereits vor der Pandemie in Behandlung waren, plötzlich eine höhere Behandlungsintensität benötigen, was einen Einfluss auf die Kosten pro Patient hat. Dies gilt auch für jene Patienten, die aufgrund eines Behandlungsunterbruchs eine Zustandsverschlechterung zeigten und deren Behandlung dadurch intensiver und aufwendiger wurde.
Die Pandemie hat das Leben vieler Menschen sprichwörtlich auf den Kopf gestellt. Die Belastungen sind gewachsen, die Auswirkungen sind spürbar für Psychiaterinnen und Psychiater.
Andrey Popov | Dreamstime.com
Eine zweite, nicht zu vernachlässigende Tendenz ist die Verlagerung von stationärer zu ambulanter Behandlung, welche ebenfalls durch die Pandemie akzentuiert wurde. Generell verkürzen sich stationäre Aufenthalte, und wo möglich, wird einer ambulanten Therapie ­gegenüber einer stationären der Vorrang gegeben. Die niederschwelligere und frühzeitigere Inanspruchnahme ambulant-psychiatrischer Behandlungen ist volkswirtschaftlich kostengünstiger und verringert die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine psychische Krankheit chronifiziert und zu Arbeitsausfällen oder Invalidisierung führt. Neben diesen indirekten Kosten werden auch direkte Kosten verhindert, indem einer Verlaufsverschlechterung der psychischen Erkrankung frühzeitig entgegengewirkt wird. Gleichzeitig sind die ambulanten Behandlungen zu 100 Prozent prämienfinanziert, wogegen stationäre Behandlungen zu 55 Prozent steuerfinanziert sind. Ambulante OKP-pflichtige Grundleistungen, auf welche die prämienzahlende Schweizer Bevölkerung Anspruch hat, erhöhen somit den Kostendruck auf die Versicherer. Eine einheitliche Finanzierung von sta­tionären und ambulanten Leistungen würde diese ­Problematik lösen.

Anordnungsmodell seit Juli 2022

Der Wechsel vom Delegations- zum Anordnungs-
modell seit Juli 2022 wird auch eine Veränderung der Kosten in der Psychiatrie mit sich bringen, die nicht durch die Ärzteschaft beeinflussbar ist: Bisher musste vor Ablauf der vierzigsten psychologisch-psychotherapeutischen Sitzung eine Kostengutsprache der behandelnden oder delegierenden Psychiaterin zuhanden der Krankenkasse erstellt werden. Mit dem Anordnungsmodell wird neu eine Fallbeurteilung der psychologischen Psychotherapie bereitsvor der dreissigsten Sitzung notwendig. Diese Fallbeurteilung war bisher im Delegationsmodell nicht explizit gefordert. Sie dient zur Diagnostik und Indikation, um die psychologische Psychotherapie weiterzuführen, und sie ist eine fachärztliche Leistung im Anordnungsmodell. Die nötigen ärztlichen Koordinationsleistungen, um bei psychologischen Psychotherapien die psychiatrische Diagnostik und ärztliche Behandlung zu gewährleisten, werden also im Anordnungsmodell steigen, da die direkte Zusammenarbeit des Delegationssystems entfällt. Im Delegationssystem wurden von den delegierenden Psychiatern aufgrund der engen Zusammenarbeit auch Leistungen erbracht, die mit dem aktuellen Tarifsystem und nach dem Tarifeingriff nicht abgerechnet und entgolten werden konnten, aber aufgrund der engen Zusammenarbeit von Psychiatern und Psy­chologen unentgeltlich geleistet wurden. Im Anordnungsmodell ist deshalb eine Mengenausweitung zu erwarten, die nicht durch die Ärzteschaft beeinflussbar ist.
Die Pandemie hat gezeigt, dass die stationäre und die ambulante Psychiatrie an ihre Auslastungsgrenze gestossen sind. Um die Versorgung zu verbessern, sollten aber nicht nur das ambulante und das stationäre System gestärkt werden. Es braucht auch den Fokus auf intermediäre Strukturen wie Tageskliniken, Home Treatment und die gemeindenahe Versorgung. Auch die Schnittstellen zwischen stationärer und ambulanter Behandlung benötigen dringend eine Verbesserung in Form beispielsweise von Überbrückungskonferenzen. Überdies zeigt sich in der Psychiatrie, parallel zur Hausarztmedizin, eine grosse Nachwuchsproblematik. In fünf Jahren werden gemäss einer Studie schon 1000 Psychiaterinnen und Psychiater fehlen [2]. Die im TARMED nach wie vor bestehenden unerfreulichen Einkommensunterschiede zu anderen Ärztegruppen sind nicht förderlich, um der Nachwuchsproblematik entgegenzuwirken. Der TARDOC würde für die Psychiaterinnen und Psychiater eine verbesserte Entlöhnung gewährleisten, doch ist er vom Bundesrat nach wie vor nicht genehmigt.

Psychiaterinnen und Psychiater sind erste Ansprechpersonen

Für 42 Prozent der Schweizer Bevölkerung sind Psychiaterinnen und Psychiater bei psychischen Erkrankungen die ersten Ansprechpersonen [9]. Sie nehmen also direkt bei einer Psychiaterin oder einem Psychiater eine Behandlung in Anspruch. Vor allem die jüngere Generation, aber auch die digital affinere Generation mittleren Alters sucht online nach Behandlungsplätzen und kontaktiert die Psychiaterinnen direkt. Die Wartezeiten für eine ambulante psychiatrische Behandlung sind in der Schweiz mit direktem Zugang zu einem Psychiater als Grundversorger der Psyche deutlich kürzer als in anderen europäischen Ländern mit Gatekeeping-System durch nichtärztliche Fachkräfte. Auch sind die Kosten unserer ambulant-psychiatrischen Versorgung mit einem Anteil an den Gesundheitskosten von 9,2 Prozent nur halb so hoch wie zum Beispiel in den Niederlanden mit Gatekeeping-System und einem Kostenanteil von 20,9 Prozent [9]. Die im europäischen Vergleich tieferen Kosten der Schweiz im ambulant-psychiatrischen Bereich belegen, dass die frühzeitige Inanspruchnahme einer direkten fachärztlichen Behandlung aus einer Hand direkte und indirekte Kosten verhindert. Eine in der Fachzeitschrift «The Lancet» veröffentlichte Return-on-Investment-Studie [10] zeigt, dass jeder Dollar, der in die Behandlung von Depressionen und Angststörungen investiert wird, vier Dollar Gewinn in Form von besserer Gesundheit und höherer Arbeitsproduktivität ergibt.
tarife.ambulant[at]fmh.ch
 1 SGPP Mitgliederumfrage zu COVID-19: Pandemiebedingte Veränderungen der ambulanten psychiatrischpsychotherapeutschen Versorgung 2022.
 4 Wittchen HU, Jacobi F, Rehm J, Gustavsson A, Svensson M, Jönsson B, et al. (2011). The size and burden of mental disorders and other disorders of the brain in Europe 2010. European Neuropsychopharmacology, 21: 655–79.
 5 Wittchen HU, Jacobi F. (2005). Size and burden of mental disorders in Europe – a critical review and appraisal of 27 studies. European Neuropsychopharmacology, 15(4): 357–76.
 6 Jacobi F, Höfler M, Strehle J, Mack S, Gerschler A, Scholl L, et al. (2014). Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung. Der Nervenarzt, 85(1): 77–87.
 7 WHO. Fact sheet on depression, updated February 2017. Depression is the leading cause of disability worldwide, and is a major contributor to the overall global burden of disease.
 8 Kessler RC, Demler O, Frank RG, Olfson M, Pincus HA, Walters EE. (2005b). Prevalence and treatment of mental disorders, 1990 to 2003. The New England Journal of Medicine, 352(24): 2515–23.
 9 Jäggi J, Künzi K, deWijn N, Stocker D. BASS, Schlussbericht: Vergleich der Tätigkeiten von Psychiaterinnen und Psychiatern in der Schweiz und im Ausland. 9. März 2017.
10 Chisholm D, Sweeny K, Sheehan P, Rasmussen B, Smit F, Cuijpers P, et al. (2016). Scaling-up treatment of depression and anxiety: a global return on investment analysis. The Lancet Psychiatry, 3(5): 415–24.