Fairer Zugang zu Arzneimitteln

Weitere Organisationen und Institutionen
Ausgabe
2022/42
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20968
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(42):40-42

Affiliations
Dr. med., Präsidentin swissethics, Haus der Akademien, Bern

Publiziert am 18.10.2022

KostengutspracheDie Übernahme von Medikamentenkosten ist aktuell abhängig vom Krankenversicherer und beruht nicht auf transparenten Kriterien. Die zur Vernehmlassung stehende Revision des Art. 71 KVV könnte das ändern. Neu sollen ethische Prinzipien eine zentrale Rolle spielen.
Kosten für neue Therapien werden durch Krankenversicherer übernommen, wenn das Arzneimittel in die Spezialitätenliste aufgenommen ist, was eine positive Beurteilung der Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit durch das Bundesamt für Gesundheit (BAG) erfordert. Die gesetzliche Vorgabe zu dieser Prüfung von 60 Tagen wird aktuell kaum eingehalten [1]. Innovative Therapien können dennoch in Einzelfällen von der obligatorischen Krankenversicherung nach Art. 71a-d der Verordnung über die Krankenversicherung KVV und separater Antragstellung, dem sogenannten Kostengutsprachegesuch, vergütet werden [2]. Voraussetzung dafür ist, dass ein grosser therapeutischer Nutzen bei einer Krankheit erwartet wird, die tödlich verläuft oder schwere und chronische gesundheitliche Beeinträchtigungen nach sich ziehen kann und keine wirksame, zugelassene therapeutische Alternative verfügbar ist. Dies entscheiden Krankenversicherer auf Empfehlung ihrer Vertrauensärztinnen und -ärzte. Zur Nutzenbewertung wird das OLU-Tool verwendet, welches zwischen Onkologie und Nicht-Onkologie unterscheidet [3] und Parameter wie Ansprechen, Überleben und Lebensqualität berücksichtigt [2]. In der Onkologie werden aktuell bis zu 50% der medizinisch notwendigen Therapien ausserhalb der Swissmedic-Fachinformation («off label») oder ausserhalb der Spezialitätenliste («off-limitatio») gegeben.
Kostengutsprachen nehmen zu, aktuell sind es jährlich zirka 40 000 Anträge. Der Prozess ist aufwändig und administrativ überladen. Entscheide darüber, eine Therapie zu geben, die möglicherweise lebensrettend oder lebensverlängernd sein kann, werden auf die Krankenversicherer übertragen. Entscheide fallen dabei von Krankenversicherer zu Krankenversicherer – und auch innerhalb einer Krankenkasse – unterschiedlich aus. Die Spannbreite einer Bewilligung kann von 45 bis 95% schwanken, so dass die Gleichbehandlung aller durch das Bundesgesetz über die Krankenversicherung KVG Versicherten nicht gewährleistet ist [4]. Diese unbefriedigende Ausgangssituation lässt an der Zukunftsfähigkeit von Art. 71 zweifeln. Das BAG hat am 3.6.2022 eine Revision der KVV in die Vernehmlassung geschickt [5]. Dabei soll der Begriff «grosser therapeutischer Nutzen» rechtsverbindlich kodifiziert werden. Die Vertrauensärztinnen und -ärzte haben die Therapie nach dem OLU-Tool in eine von vier Nutzenkategorien einzuteilen, wobei für eine Erstattung ein Mehrnutzen von mindesten 35% anhand von vergleichenden klinischen Studien belegt sein muss.
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Fehlende Vergleichsstudien

In vielen Fällen gibt es zwar wissenschaftliche und klinische Belege für Nutzen und Wirksamkeit einer Therapie, aber Vergleichsstudien fehlen. Dies gilt insbesondere für seltene Erkrankungen und in der Pädiatrie. In der onkologisch-personalisierten Medizin mit gezielter Therapie aufgrund molekularer Marker liegen Vergleichsstudien meist nicht vor oder die molekular definierten Subgruppen sind zu klein für statistisch signifikante Aussagen. Bundesgerichtlich wurde bereits entschieden, dass aufgrund einer (niedrigen) Prävalenz einer Erkrankung und somit einer geringen Anzahl an Studienteilnehmenden der Nachweis eines (hohen) therapeutischen Nutzens nicht pauschal in Frage gestellt werden dürfe [6]. Somit ist die reine Fokussierung auf den Nutzen in Vergleichsstudien nicht wirklich zukunftsfähig. Würden, wie im Entwurf zur Vernehmlassung vorgeschlagen, alle Einzelfallvergütungen über das OLU-Tool abgewickelt, würden viele der heute vergüteten und medizinisch notwendigen Therapien künftig nicht vergütet. Hinzu kommt, dass die vertrauensärztliche Empfehlung vom Krankenversicherer sogar noch «heruntergestuft» werden kann. Ein fairer Zugang wird daher mit dieser Revision nicht erreicht. Die vom BAG vorgelegten Anpassungen adressieren das eigentliche Kernproblem, die Ungleichbehandlung, nicht ausreichend. Der Revisionsvorschlag führt vielmehr zu einem stärker eingeschränkten Zugang bei Behandlungen gegen Krankheiten, die selten sind, tödlich verlaufen oder schwere und chronische gesundheitliche Beeinträchtigungen nach sich ziehen können, und für die keine wirksamen therapeutischen Alternativen verfügbar sind.

Ethische Perspektive einbeziehen

Um Fairness und Gerechtigkeit herzustellen, muss Expertise aus dem Bereich Ethik in die Entscheidung zur Vergütung einbezogen werden. Gleichbehandlung kann nur durch eine ethisch abgestützte Abwägung anhand ausgewogener Kriterien und einen fairen Entscheidungsprozess erreicht bzw. verbessert werden (Abbildung 1). Die Grundlage dazu bilden die vier bioethischen Prinzipien Gerechtigkeit, Fürsorge, Nicht-Schaden und Autonomie [7]. Sie sollen in einem ausgewogenen Verhältnis stehen, und es soll ein Überlegungsgleichgewicht zwischen ihnen geben. Bezogen auf Art. 71 KVV bedeutet dies die Etablierung einer Praxis, die sich an diesen Prinzipien orientiert und zwischen den genannten Dimensionen abwägt. Im Zentrum stehen dabei das Fürsorge- (Gutes tun) und Gerechtigkeitsprinzip. Dazu ist ein unabhängiges, fachkompetentes Gremium notwendig, welches die medizinisch-wissenschaftlichen Entscheide aus ethischer Perspektive reflektiert, abstützt oder korrigiert. Dieses Gremium könnte in enger Kooperation mit Krankenversicherern und den Vertrauensärztinnen und -ärzten arbeiten und mit diesen die Verantwortung teilen. Ein solcher Lösungsvorschlag berücksichtigt die Rechtsgrundlagen, schliesst Umsetzungslücken und kann im bestehenden System (KVG und KVV) verankert werden.
Abbildung 1: Anforderungen an eine Lösung.

Eine strukturierte Entscheidung

Für ethisch fundierte Entscheide im Bereich Public Health wurden bereits Rahmenbedingungen definiert [8]. Diese stützen sich auf normative Kriterien, die Fragen zu Nutzen und Schaden sowie zu den Auswirkungen auf Kosten, Autonomie und Gerechtigkeit reflektieren und sich dabei von den bioethischen Prinzipien ableiten. Diese Rahmenbedingungen sehen als konkrete Voraussetzungen für einen fairen Prozess ein legitimiertes Gremium vor. Kernelemente sind dabei Transparenz, Begründung, Möglichkeit zur Weiterentwicklung bei Änderung der Sachlage sowie Vermeidung von Interessenkonflikten. Daneben sollen Entscheide monitoriert und ihre Auswirkungen evaluiert werden. Diese Rahmenbedingungen sind auch für die Beurteilung der Einzelfälle nach Art. 71 KVV passend, angemessen, umfassend und praktisch umsetzbar. Abbildung 2 stellt den Vorschlag einer Adaptation der Kriterien für die konkrete Anwendung dar. Dies soll als Grundlage dienen, um die ethische Dimension strukturiert in Einzellfall-Entscheide einzubeziehen. Dabei ist die Tabelle nicht als Checkliste mit Punkte-Score zu verstehen, sondern als Leitfaden für ethisch begründete und belastbare Entscheide. Sie kann benutzt werden von Krankenversicherern, Vertrauensärztinnen und -ärzten sowie von einem neu zu schaffenden Gremium, das im Folgenden skizziert wird.
Abbildung 2: Leitfaden für eine strukturierte Entscheidung.

Unabhängiges «Expert Board»

Es wird ein Gremium vorgeschlagen mit folgenden Funktionen:
Das unabhängige Gremium, im Folgenden als «Expert Board» bezeichnet, wird in die bestehenden Prozesse eingebunden (Abbildung 3). Die Vertrauensärztinnen und -ärzte sowie die Krankenversicherer, aber auch beantragende Ärztinnen und Ärzte können es in zweifelhaften Fällen für eine unabhängige und bindende Empfehlung anfragen. Zur Sicherstellung der Verbindlichkeit ist die Rolle dieses Expert Boards im KVG zu verankern und in der KVV auszuführen. Die laufende Revision der KVV könnte dafür genutzt werden.
Abbildung 3: Expert Board und Organisation.
Interdisziplinäre Kommissionen wie die Forschungsethikkommissionen oder die Eidgenössische Arzneimittelkommission erstellen fundierte und rechtsverbindliche Entscheide beziehungsweise Empfehlungen zu Handen der Behörde. Beide Kommissionen eignen sich nicht für eine Unterstützung bei Art. 71-Entscheiden aufgrund des Zeitdrucks, der erforderlichen Fachexpertise und Komplexität. In der Vergangenheit haben Rechtsstreitigkeiten zu Verzögerungen in der Therapie der Erkrankten geführt [9]. Das neu zu schaffende Expert Board sollte von einer Klinikerin/einem Kliniker mit praktischer Erfahrung in Bioethik geleitet werden. Es braucht zusätzlich ärztliche Vertretungen (unabhängige Kader des betreffenden Fachs aus einem Universitätsspital oder öffentlichem Zentrumsspital) sowie Personen aus Ethik, Recht und Gesundheitsökonomie. Fallweise können klinische und pharmakologische Expertisen hinzugezogen werden. Dazu könnten Personen aus Expertenpools der Fachgesellschaften für die jeweilige Problematik sowie Patientenvertreterinnen oder -vertreter zu Rate gezogen werden.
Das Expert Board sollte durch ein Sekretariat unterstützt werden, welches sicherstellt, dass bereits gefällte Entscheide und deren Begründungen unter Beachtung des Datenschutzes elektronisch publiziert werden. Eine solche Plattform schafft Transparenz. Auch die Leit-Entscheide der Versicherer könnten darüber transparent gemacht werden. Kommission und Sekretariat sollten in einer bestehenden, anerkannten Institution des Gesundheitswesens organisatorisch verankert werden. Finanziert werden könnte das Board zum grössten Teil über Pharmafirmen und Krankenversicherer sowie einen Sockelbeitrag des Bundes. Zusammengefasst bildet der Leitfaden in Abbildung 2 zusammen mit der Einbettung des unabhängigen Expert Boards in Abbildung 3 einen fairen, transparenten und verbindlichen Prozess ab, in welchem ein Entscheid anhand ethisch abgestützter Kriterien gefällt wird. Eine prozedurale Gleichbehandlung bzw. Nicht-Diskriminierung bei Entscheiden zur Art. 71-Vergütung wäre somit weit besser als aktuell gewährleistet.

Das Wichtigste in Kürze

Die bestehenden Strukturen zur Vergütung nach Art. 71 KVV sind nicht gerecht, intransparent und administrativ kaum bewältigbar.
Die zur Vernehmlassung vom BAG vorgelegte Revision der KVV adressiert diese Probleme unzureichend.
Daher wird ein neu zu schaffendes, unabhängiges Gremium für ethisch abgestützte Entscheide vorgeschlagen. Es arbeitet zügig auf der Basis systematischer ethischer Kriterien, ist interdisziplinär mit hoher Fachexpertise zusammengesetzt und kommuniziert transparent.
Die Vernehmlassung bietet Gelegenheit, ein solches «Expert Board» bereits jetzt auszugestalten und später auf Gesetzesstufe einzuführen. Diese Struktur ermöglicht nachvollziehbare, faire, ethisch abgestützte Entscheide und trägt dazu bei, dass medizinische Innovation allen Menschen gleichsinnig zukommt, der Nutzen optimiert und die Wirtschaftlichkeit gewahrt bleibt.
1 Alich, H. Die Erstattung teurer Therapien soll fairer werden, Tagesanzeiger, 07.06.2022, https://www.tagesanzeiger.ch/die-erstattung-teurer-therapien-soll-fairer-werden-282219191197.
2 Verordnung 832.102 über die Krankenversicherung.
3 Fries R, Hummel Y, Kipfer B, Schafroth U, Seiler B, Zollikofer J. OLUtool als neues Einheitsmodell der Vertrauensärzte. SAEZ 2018;99(45):1571–1572. Sh. auch: Nutzenbewertung zur Vergütung von Arzneimitteln im Einzelfall (Art. 71a – 71d KVV, Schweizerische Gesellschaft der Vertrauens- und Versicherungsärzte (SGV), www.vertrauensaerzte.ch/expertcom/71kvv/updmay18/.
4 Kägi W, Frey M, Möhr T, Bollag Y, Brugger C. Evaluation der Vergütung von Arzneimitteln im Einzelfall nach den Artikeln 71a–71d KVV, B.S.S. Volkswirtschaftliche Beratung, im Auftrag des BAG, 2020. www.bag.admin.ch/dam/bag/de/dokumente/e-f/evalber-kuv/2020-evaluation-art-71a-71d-kvv-schlussbericht.pdf.download.pdf/2020-schlussbericht-evaluation-art-71a-71d-kvv-d.pdf.
5 Vernehmlassung 2021/74, Änderungen der KVV und KLV: Arzneimittelmassnahmen. fedlex.data.admin.ch/eli/dl/proj/2021/74/cons_1.
6 BGer 9C_131/2021, Urteil vom 24. November 2021.
7 Beauchamp T L, Childress J F. Principles of Biomedical Ethics, 5th ed. Oxford University Press, 2001, ISBN 0-19-514332-9.
8 Marckmann G, Schmidt H, Sofaer N, Strech D. Putting public health ethics into practice: a systematic framework. Front. Public Health. 2015; 3:23.
9 BGer 9C_170/2021, Urteil vom 14. April 2021.