Stirbt der Arztberuf aus?

Forum
Ausgabe
2022/36
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20974
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(36):19

Publiziert am 06.09.2022

SelbstkritikDas Misstrauen gegenüber der Ärzteschaft wächst. Die Kinderärztin Saholy Razafinarivo-Schoreisz aus Courroux (JU) hat sich mit den Ursachen dieses Phänomens auseinandergesetzt.
Im Bett, mit COVID-19 und benebeltem Hirn, habe ich Zeit, mir einige – mehr oder weniger – existenzielle Fragen zu stellen: «Wer bin ich?», «Wo will ich hin?», «Was werde ich nachher essen?».
Es erstaunt mich, wie viele Artikel sich mit Angriffen auf Ärztinnen und Ärzte befassen. Das Phänomen ist global und schockiert mich: «Verunsicherung bei Ärzten: Angriffe nehmen im Jahr 2021 zu, verbale Gewalt auf dem höchsten Stand seit zehn Jahren» (Frankreich, Juli 2022) [1], «Angriff auf einen Arzt im Wolfson-Spital – dritter Angriff dieser Art in dieser Woche» (Israel, Mai 2022) [2], «Gewalt gegen Ärzte: Mehr als 330 Berichte über Aggressionen in 6 Jahren!» (Belgien, April 2022) [3].
Woher kommt dieser ganze Hass? Wir stehen im Dienst der guten Sache, heilen Krankheiten, die einst unheilbar waren, und verhelfen den Menschen zu einem langen und guten Leben. Wir retten Leben! Und nicht selten tun wir dies auf Kosten unseres persönlichen Wohlergehens, unserer Gesundheit, unserer Familie. Wir sind doch Heldinnen und Helden, oder?
Hippokrates-Statue im alten Gebäude der medizinischen Schule von Bahia, Brasilien.
© Helissa Gründemann / Dreamstime
Dennoch nimmt uns die Gesellschaft nicht mehr als solche wahr. Den Lippenbekenntnissen zu unserer sinnvollen und wichtigen Aufgabe lässt sie keine entsprechenden Taten folgen. Die Löhne des Gesundheitspersonals sind nicht gestiegen – im Gegenteil. Dadurch verliert der Beruf an Attraktivität, was wiederum zu einer Verschlechterung der Versorgungsqualität und der Arbeitsbedingungen führt. In der Folge nimmt bei den Empfängerinnen und Empfängern von Gesundheitsleistungen die Unzufriedenheit zu und entlädt sich in Ausbrüchen von Wut und Gewalt gegen die kleine Anzahl derjenigen, die noch verblieben sind, um die notwendige Arbeit zu leisten.
Der Argwohn richtet sich gegen alles, was mit den medizinischen Wissenschaften zu tun hat. Die im Rahmen wissenschaftlicher Forschung entwickelten und von den Pharmaunternehmen verkauften Medikamente stossen in der breiten Öffentlichkeit auf Ablehnung. Beispielhaft dafür sind die Impfstoffe, die doch nach wie vor viele Menschenleben retten.
Aber vielleicht liegt ja gerade darin das Problem: Dass nämlich unser Bemühen, möglichst vielen Menschen zum Leben, einem guten Leben, zu verhelfen, dem Interesse des Planeten zuwiderläuft. Die Menschen lehnen diese Art von Medizin zunehmend ab. Wir sind mit diesen Zielen genauso schädlich für den Planeten wie die umweltschädigenden Industrien. Wir ermöglichen es der menschlichen Spezies, sich weiterhin in grossem Massstab zu vermehren, und dies auf Kosten anderer Lebewesen.
Hier ein paar Zitate zu diesem Thema: «Das Gesundheitswesen trägt in wesentlichem Masse zur Klimakrise bei» [4], «Die Gesundheitssysteme, die eigentlich der Gesundheitsförderung der Allgemeinheit dienen sollen, haben unter dem Wettbewerb mit der technologisch intensiven Gesundheitsversorgung für Einzelne gelitten» [5] und schliesslich «Die Gesundheit des Ökosystems Erde ist die Voraussetzung der Gesundheit an sich» [6]. Die diversen zitierten Websites und Artikel deuten auf mögliche Veränderungen sowohl auf staatlicher als auch auf individueller Ebene hin.
Vielleicht hat die Natur beschlossen, dass es jetzt reicht mit der modernen Medizin, die in ihrem ständigen Kampf gegen Krankheit, Alter und Tod zu effektiv ist, um ein Gleichgewicht zwischen allen lebenden Arten zu bewahren.
Wenn wir die Art unserer Berufsausübung nicht ändern und nicht bereit sind, unsere Versorgungsphilosophie zu überdenken, sind wir, fürchte ich, tatsächlich dazu verdammt, zum Wohle des Planeten zu verschwinden. Denn wir sind nicht mehr die Guten.
Zumindest kann ich eine Frage beantworten: Ich werde zum Abendessen ein Ei mit Reis und Gemüse verzehren. Anschliessend werde ich über mein zukünftiges Verhalten als Ärztin nachdenken.
Saholy Razafinarivo-Schoreisz, Kinderärztin, Courroux (JU)

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