«Demenzbehandlung ist Teamwork»

Interview
Ausgabe
2022/38
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.20998
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(38):18-21

Publiziert am 20.09.2022

Welt-Alzheimer-TagEine wirksame Demenz-Therapie wäre ein medizinischer Gamechanger. Solange diese aber nicht gefunden ist, setzen Experten auf alternative Behandlungsformen. Im Interview erklärt Ansgar Felbecker, Präsident der Swiss Memory Clinics, warum Demenztherapie vor allem auch Sozialmedizin ist.
Ansgar Felbecker, am 21. September ist Welt-Alzheimer-Tag. Sie beschäftigen sich natürlich viel öfter mit der Erkrankung. Was ist der aktuelle Stand der Forschung zur Alzheimer-Krankheit?
Von all den Ideen, die in den Pipelines der Pharmaindustrie oder den Laboren der Universitäten sind, hat es in den letzten 20 Jahren nichts in die klinische Anwendung geschafft. Letztes Jahr gab es einen grossen Hype um das neue Medikament Aducanumab. Die klinische Wirkung dieses Medikamentes konnte aber nicht überzeugend nachgewiesen werden, so dass das Zulassungsgesuch in der Schweiz zurückgezogen wurde [1]. Wir haben also nach wie vor keine krankheitsmodifizierenden Therapien. Das ist im Moment ein bisschen ernüchternd.
Woran liegt das?
Einerseits hat man wohl mit den Investitionen in die Therapien gegen die alzheimerspezifischen Eiweiss-Ablagerungen Beta-Amyloid auf das falsche Pferd gesetzt. Jetzt versucht man langsam neue Wege zu gehen, aber unser Gehirn ist das komplexeste Organ und es gibt kaum funktionierende Modelle wie bei der Erforschung anderer Erkrankungen. Man kann zwar Neuronen nachbilden oder deren Funktionen nachahmen, aber was unser menschliches Gehirn ausmacht, haben wir letztlich noch nicht komplett verstanden.
Gibt es wenigstens Veränderungen in den Therapiemöglichkeiten und beim Umgang mit den Erkrankten?
Da sehen wir eine grosse Veränderung. Die Krankheit ist in den letzten Jahren zunehmend entstigmatisiert worden. Weltweit gibt es immer mehr Vorbilder, die mit ihrer Demenzerkrankung an die Öffentlichkeit gegangen sind: Schauspieler, Politiker, Sportler. Das hat dazu geführt, dass sich die Leute mit ihrer Krankheit nicht mehr so verstecken. Der Umgang mit der Krankheit ist natürlicher geworden, und das tut am Ende auch den Therapien gut. Demenztherapie ist vor allem auch Sozialmedizin.
Was heisst das?
Wir versuchen, die Funktionen, die noch da sind, zu trainieren und zu fördern. Das gelingt nur, wenn die Menschen auch weiter gut in ihrem sozialen Netz integriert sind. Wenn sich ein Mensch zurückzieht oder die Angehörigen das Gefühl haben, dass sie sich mit der Demenz ihrer Angehörigen verstecken müssen, dann schreitet die Krankheit schneller voran, als wenn weiterhin sozialer Austausch stattfindet. Wir sagen beim Gehirn «use it or lose it». Das gilt bei der Demenz ganz besonders.
Worauf sollen Ärzte und Ärztinnen achten, die Kontakt zu Menschen mit Demenz haben?
Bei der Demenz ist es wichtig, dass man den Patientinnen und Patienten auf Augenhöhe begegnet. Viele Fähigkeiten sind ja noch erhalten und wir als Ärzte sollten versuchen, den Fokus auf die Kompetenzen zu legen und nicht auf die Defizite. Das ist für die Betroffenen sehr wichtig. Es ist die Aufgabe der Ärzte, dann entsprechende Therapien zu verschreiben.
Können Sie das konkretisieren?
Eine gute Ergotherapie zum Beispiel mit dem Schwerpunkt Kognitives Training setzt den Fokus auf den Erhalt von Alltagskompetenzen. Bei Demenz bringt es gar nichts, an den Schwächen zu arbeiten, weil sie tendenziell immer schlimmer werden. Aber wir können Kompetenzen, die noch da sind, fördern und versuchen, sie ein bisschen in die Zukunft zu retten. Nicht jede Demenz ist gleich: Der eine hat seine Kompetenzen noch im Bereich Planung und Organisation, bei dem anderen ist der Bereich schon schwer betroffen und danach sollten wir auch die Therapien ausrichten.
Von 2014 bis 2019 gab es die Nationale Demenzstrategie. Was ist damit erreicht worden?
Diese Strategie ist aufgrund einer Motion von der Politik in Auftrag gegeben und unter Federführung des BAG umgesetzt worden. Man kann das kritisch sehen: Da ist sehr viel Papier bedruckt worden. Andererseits hat die Strategie das Mindset verändert, da auch Initiativen auf kantonaler und kommunaler Ebene angestossen wurden. Der Erkrankung wird jetzt mehr Bedeutung beigemessen.
Welche konkreten Ergebnisse gab es darüber hinaus?
Die Swiss Memory Clinics waren federführend bei der Entwicklung von Qualitätsstandards für die Diagnostik der Demenz in der Schweiz. Die Ergebnisse sind publiziert [2] und frei verfügbar. Wenn Ärzte bei einem Erkrankten den Verdacht auf Demenz haben, dann können sie auf unsere Homepage gehen und nachschauen. Das hat einen Mehrwert, und das hätte es ohne die nationale Demenzstrategie nicht gegeben. Zudem hat die Nationale Plattform Demenz im BAG im Jahr 2020 ihre Arbeit aufgenommen, womit versucht wird, Resultate der Demenzstrategie in die Praxis zu transportieren. Aber die ganz grossen revolutionären Ergebnisse hat es nicht gegeben.
Dr. med. Ansgar Felbecker ist der Überzeugung, dass die Nationale Demenzstrategie das Mindset verändert hat.
© Marlies Thurnheer
Welche hätten das sein können?
Der Gamechanger wäre eine Therapie, die die Erkrankung wirklich heilt oder wenigstens spürbar verbessern könnte. Wenn die Leute wüssten, Demenz ist heilbar, dann würde das massive Veränderungen in der Wahrnehmung der Erkrankung bringen. Dann würden die Leute auch früher in die Abklärung gehen. Bei Früherkennung und Prävention haben wir im Moment noch viel Handlungsbedarf.
Ist der Welt-Alzheimer-Tag eine Chance, um die Menschen für das Thema zu sensibilisieren?
Es gibt viele Aktivitäten in den Kantonen und mit verschiedenen Organisationen. So sind wir von den Swiss Memory Clinics am Welt-Alzheimer-Tag gemeinsam mit der Patientenorganisation Alzheimer Schweiz und der Stiftung synapsis unterwegs, um auf aktuelle Fragen zum Thema Demenz aufmerksam zu machen. Aber uns stehen viel weniger Mittel zur Verfügung als beispielsweise der Krebsforschung. Wir haben derzeit nicht die finanzielle Möglichkeit, nationale Awareness-Programme zu starten. Dies, obwohl bis zu 40 Prozent der weltweiten Demenzfälle als verhinderbar gelten, weil sie durch beeinflussbare Risikofaktoren entstehen.
Welche Risikofaktoren sind das?
Von der Lancet-Kommission wird alle drei Jahre ein Update darüber herausgegeben, was die behandelbaren Demenz-Risikofaktoren sind [3]. Momentan sind zwölf Faktoren anerkannt, zum Beispiel der Zugang zu Bildung, die Vermeidung von sozialer Isolation und die Depressionsbehandlung. Auch ein unbehandelter Hörverlust ist ein relativ starker Demenz-Risikofaktor. Dann gibt es viele kleine Faktoren wie die fehlende körperliche Aktivität, Bluthochdruck und Diabetes. Aber auch der Faktor Luftverschmutzung macht etwa zwei Prozent der globalen Demenzprävalenz aus.
Wie sähe eine sinnvolle Demenzprävention aus?
Wenn wir sinnvolle Demenzprävention betreiben wollen, dann müsste es ein grossangelegtes Programm sein, das schon in den Schulen und Universitäten startet und dann über das ganze Leben geht. Die Effekte sind bei solchen Programmen oft erst 20 bis 30 Jahre später zu sehen, und das ist natürlich sowohl Politikern als auch einzelnen Personen schwer zu vermitteln. Das sind sehr lange Zeiträume.
Gibt es dennoch Daten zur Wirkung von Demenzprävention?
In Westeuropa gibt es Daten dafür, dass präventive Massnahmen und der Zugang zu Bildung wirken. So viele Bildungsjahre wie möglich zu sammeln ist erwiesenermassen Demenzprävention. Es gibt Studien, in denen man Kohorten in Westeuropa verglichen hat, die schon vor 20 bis 30 Jahren untersucht wurden. Man hat in diesen Kohorten errechnet, was die erwartete Demenzprävalenz 20 Jahre später sein müsste und hat festgestellt, dass die Demenzprävalenz in der Realität nicht so stark gewachsen ist, wie man es aufgrund der Alterung der Bevölkerung hatte befürchten müssen.
Welche Auswirkungen hatte eigentlich Corona auf Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen?
Corona führte durch die Massnahmen teilweise zu sozialer Isolation, es sind auch viele Therapien unterbrochen worden, und das ist bei Demenz ungünstig. Viele Patienten sind massiv zurückgeworfen worden und haben das nicht mehr aufgeholt. Auch die Belastung der Angehörigen war ungleich höher. Man darf nicht unterschätzen, was es für Angehörige bedeutet, wenn sie jeden Tag 24 Stunden lang für die Erkrankten verantwortlich sind. Es ist für sie eine Riesenentlastung, wenn zweimal pro Woche die Tagesstätte verantwortlich ist. Das war plötzlich von heute auf morgen nicht mehr gegeben.
Hat man daraus gelernt?
Die Situation damals hat uns alle überrascht, und keiner wusste so richtig, wie man damit bestmöglich umgehen sollte. Aber viele der Heime und der Tagesstätten arbeiten an Konzepten oder haben sie jetzt schon, mit denen die Einrichtungen auch während behördlichen Einschränkungen länger offengehalten werden können. Gerade für Menschen mit Demenz geht es ja nicht darum, eine maximale Lebenszeitverlängerung zu erzielen, sondern es geht um Lebensqualität, die immer das oberste Behandlungsziel ist.
Man kann dieses Motto auf verschiedene Ebenen verstehen: Verbunden bleiben ist das A und O für die Kommunikation mit den Patienten und für die Demenztherapie. Verbunden bleiben im sozialen Sinne ist entscheidend bei der Prävention und Therapie, damit die Demenz nicht so schnell fortschreitet, wie sie es sonst tun würde. Verbunden bleiben bedeutet aber für mich auch, dass die verschiedenen Disziplinen verbunden bleiben, weil Demenzbehandlung wirklich Teamwork ist.

Die Swiss Memory Clinics

Die Swiss Memory Clinics sind ein Zusammenschluss von 46 Memory Clinics aus der ganzen Schweiz, die sich gemeinsam für eine qualitativ hochstehende Diagnose- und Behandlungsqualität bei demenziellen Erkrankungen und verwandten neurokognitiven Störungen einsetzen. Eine Besonderheit des Vereins ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit: Per Statut müssen im Vorstand die vier Disziplinen Neurologie, Alterspsychiatrie, Geriatrie und Neuropsychologie vertreten sein. Präsident ist der Neurologe Dr. med. Ansgar Felbecker. www.swissmemoryclinics.ch
Dr. med. Ansgar Felbecker ist Facharzt für Neurologie und Leitender Arzt mit Spezialisierung im Bereich Demenz am Kantonsspital St. Gallen. Er ist Präsident der Swiss Memory Clinics (SMC), Mitglied der Taskforce Demenz der Schweizerischen Neurologischen Gesellschaft und Mitglied im Leitungsgremium der Nationalen Plattform Demenz des BAG.
Ärztinnen und Ärzte sollten versuchen, die Kompetenzen von Menschen mit Demenz zu fördern, empfiehlt Dr. med. Ansgar Felbecker.
© Marlies Thurnheer