«Mit geeinter Stimme ist die Ärzteschaft stark»

Coverstory
Ausgabe
2022/36
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21000
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(36):10-13

Publiziert am 06.09.2022

StandespolitikIn einem Rückblick auf die erste Hälfte ihrer Amtszeit erklärt FMH-Präsidentin Yvonne Gilli, was bisher gut gelaufen ist, wo Ziele noch nicht erreicht sind, welche gesundheitspolitischen Herausforderungen sie für zentral hält – und was sie bei ihrer täglichen Arbeit antreibt.
Yvonne Gilli, Sie sind seit 2021 FMH-Präsidentin. Wie ist es Ihnen seither ergangen?
Mir persönlich geht es gut. Der Start ins Präsidialamt war geprägt vom starken politischen Gegenwind und von der Pandemie. Wir mussten die Gesamterneuerungswahlen des Zentralvorstands erst verschieben und dann virtuell durchführen. Es war eine sehr dynamische Zeit.
Wie ist es den Ärztinnen und Ärzten ergangen?
Im Lockdown im Frühling 2020 durften nur noch dringliche Behandlungen durchgeführt werden, um Kapazitäten für Covidpatientinnen und -patienten zu schaffen. Es gab in der Ärzteschaft sehr unterschiedliche Betroffenheiten. Spezialärztliche Praxen mit hohen Fixkosten und mit einem faktischen Arbeitsverbot waren plötzlich mit hohen betrieblichen Defiziten bedroht. Viele Spitalärztinnen und -ärzte mussten bis über die Grenze ihrer Belastbarkeit arbeiten. Praxisärztinnen und -ärzte legten eine grosse Kreativität an den Tag, um Schutzmaterial zu beschaffen. Einige haben sich im Baumarkt eingedeckt oder sogar beim Dorfmetzger Schürzen gekauft. Hier hat sich ein Charakteristikum in der Sozialisierung auf dem Weg zum ärztlichen Beruf gezeigt: Sie müssen mit Situationen umgehen können, die nicht vorhersehbar waren und sich teilweise ihrer Kontrolle entziehen.
Konnte der Zentralvorstand die Mitglieder gut unterstützen?
Wir als Berufsverband haben uns dafür eingesetzt, die Anliegen und Bedürfnisse unserer Mitglieder und ihrer Patienten bei Bund und Behörden einzubringen. Weiter haben wir versucht, unsere Mitglieder möglichst rasch über die sich stetig verändernden Vorgaben informiert zu halten. In der Zeit, in der die Akutspitäler stark belastet waren durch die Pandemie und vom Bundesamt für Gesundheit im wöchentlichen Takt die Covid-Verordnung angepasst wurde, musste sich auch der Zentralvorstand darauf fokussieren, die wichtigsten Informationen praxistauglich aufzubereiten. Oft war es eine Brückenfunktion zwischen Behörden und Ärzteschaft. In einzelnen Bereichen, zum Beispiel bei der Entschädigung der Impfungen, ein Kampf um angemessene Tarife. Gefordert waren alle, die Ärzte und Ärztinnen an der Front, ihre kantonalen Organisationen, die Fachorganisationen und wir.
Yvonne Gilli (65) ist seit Februar 2021 Präsidentin des Schweizerischen Ärzteverbands FMH. Sie ist Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin und arbeitet in ihrem Wohnort Wil (SG) als Hausärztin. Von 2007 bis 2015 war sie Nationalrätin der Grünen.
Schon vor Ihrer FMH-Präsidentschaft haben Sie sich politisch engagiert. Wie hilft Ihnen diese Erfahrung?
Ich habe die sogenannte klassische Ochsentour gemacht. Das heisst, ich konnte politische Erfahrung von der kommunalen über die kantonale bis zur bundespolitischen Ebene sammeln. Um standespolitisch mitgestalten zu können, ist es wichtig, die politische Kultur aus einer Innensicht zu verstehen. Es ist hilfreich, sich auf eine gemeinsame Kultur der Zusammenarbeit mit National- oder Ständerätinnen stützen zu können. Diese Erfahrung kann ich einbringen, was aber nicht heisst, dass wir als Ärzteschaft unsere Berufsinteressen gegenüber der Politik durchsetzen können.
Wie meinen Sie das?
Das sage ich ganz bewusst so. Es ist offensichtlich, dass sich die beruflichen Rahmenbedingungen für viele Ärztinnen und Ärzte in den letzten Jahren verschlechtert haben. Im ambulanten Bereich sind sie gezwungen, mit einem völlig veralteten Tarif zu arbeiten. Die Gestehungskosten für die Ambulatorien und Praxen steigen, ohne dass die Tarife angepasst werden. Mit dem Generationenwechsel sinkt die Bereitschaft berechtigterweise massiv, unter immer schlechteren Bedingungen weit über eine normale 42-Stunden-Woche hinaus zu arbeiten. Dazu kommen ein zum Teil unverhältnismässig hoher Verwaltungsaufwand und immer mehr Mikroregulierung. Entsprechend kommt die Aufforderung an uns im Zentralvorstand, dass wir den Politikerinnen und Politikern deutlich sagen sollen, wie es läuft. Das machen wir, damit haben wir aber noch nicht gewonnen.
Weshalb?
Die meisten Parlamentarierinnen und Parlamentarier in der Gesundheitspolitik haben wenig vertiefte Kenntnisse in einem Gesundheitsberuf. Was die Komplexität der Gesundheitsversorgung angeht, sind sie Laien. Das ist der Nachteil eines Milizparlaments mit wenig Ressourcen für eine eigene Expertise. In ihrem Amt sind sie auf die Fachkenntnisse des BAG angewiesen. Dort fehlen die Ärztinnen in den Schlüsselpositionen ebenfalls. Mit dem professionellen Lobbying in Bundesbern verlieren sich viele Politikerinnen im Dschungel widersprüchlicher Aussagen verschiedener Stakeholdergruppen, von den Versicherern über die Berufsverbände bis zu den Industrievertretern. Die Ärzteschaft ist in diesem Puzzle ein sehr wichtiger Teil, aber nicht der einzige.
Das Gesundheitswesen und somit die Ärzteschaft steht vor strategischen Herausforderungen. Wo liegt der bedeutendste Schwerpunkt?
Das ist ganz klar die ambulante Tarifreform. Die Genehmigung des TARDOC durch den Bundesrat ist dringlich. Ich sage das immer und immer wieder, damit es alle immer wieder hören. Der Tarmed ist völlig veraltet: kein Hausarztkapitel, keine Interprofessionalität, keine Digitalisierung, keine Reformfähigkeit. Für die Sicherung der kosteneffizienten ambulanten ärztlichen Versorgung und deren Qualität benötigen wir diese Tarifreform. Niemand hat dazu auch nur ansatzweise eine brauchbare Alternative.
Yvonne Gilli erklärt, weshalb EFAS und TARDOC zentral für die Ärzteschaft sind.
© Eve Kohler
Doch der TARDOC wurde vom Bundesrat im Juni nicht genehmigt. Wie geht es nun weiter?
Als Tarifstruktur ist der TARDOC für den Bundesrat unbestritten. Nach dem für uns unerfreulichen Entscheid des Bundesrats sind wir damit doch einen Schritt weiter. Zum ersten Mal hat der Bundesrat sich auch auf die Forderung nach wenigen und sehr spezifischen Nachbesserungen geeinigt und die Genehmigung in Aussicht gestellt. Es finden jetzt Gespräche mit allen Tarifpartnern statt. Wichtig für uns sind insbesondere die weiteren Leistungserbringer, die Spitäler. Intern prüfen wir die Folgen, welche insbesondere die zusätzlichen Forderungen zur Kostenneutralität für die Ärzteschaft bedeuten. Diese müssen für alle Fachrichtungen tragbar sein, damit wir weiter hinter dem TARDOC stehen können.
Ein wichtiger Punkt in der FMH-Strategie ist der Erhalt der Tarifautonomie. Ist dieses Ziel in Gefahr?
Die Tarifautonomie ist ein Grundpfeiler im System der Schweizer Gesundheitsversorgung. In den laufenden Gesetzesrevisionen versucht das Eidgenössische Departement des Innern unter Bundesrat Alain Berset, seine Tarifkompetenzen zu erweitern. Diese politischen Intentionen, wie auch die Verzögerung der Genehmigung des TARDOC, untergraben die Tarifpartnerschaft und ebnen den Weg zu Amtstarifen. Es macht keinen Sinn, wenn zwei Tarifpartner miteinander verhandeln, aber überhaupt keinen Verhandlungsspielraum haben – beziehungsweise befürchten müssen, dass ihr Verhandlungsresultat am Schluss politisch übersteuert werden kann.
Die FMH engagiert sich beim TARDOC stellvertretend für die vielen Ärztinnen und Ärzte. Was können diese wiederum tun, um die FMH zu unterstützen?
Es ist wirklich wichtig zu erkennen, dass wir nur mit einer vereinten Stimme stark genug sind. Wenn wir glaubwürdig Lösungen aufzeigen und dafür einstehen, dann bin ich davon überzeugt, dass wir erfolgreich sein können.
Welchen Eindruck haben Sie? Ist die Ärzteschaft geeint?
Ja. In der schwierigen Zeit der Tarifverhandlungen und des ausdauernden Langstreckenlaufs auf dem Weg zur Genehmigung des TARDOC ist es gelungen, mit einer geeinten Stimme zu sprechen. Das ist keine Selbstverständlichkeit.
Neben TARDOC setzen Sie sich für EFAS ein, die einheitliche Finanzierung ambulanter und stationärer Leistungen. Weshalb?
Momentan werden die stationären Leistungen der Spitäler zu 55 Prozent über die Steuern finanziert und zu 45 Prozent über die Prämien. Die ambulanten Leistungen werden hingegen ausschliesslich über Prämien finanziert. Diese ungleiche Finanzierung führt zu einer immer höheren Prämienbelastung in der Bevölkerung, sogar dann, wenn die Gesundheitskosten nicht wesentlich steigen.
Weshalb ist das problematisch?
Immer mehr medizinische Leistungen können ambulant erbracht werden. Das bringt für die Betroffenen ein Mehr an Lebensqualität. Für die Gesellschaft ergibt sich ein grosser Nutzen. Ambulante Behandlungen sind kosteneffizient, sind verbunden mit dem Erhalt der Arbeitsfähigkeit und mit sozialer Integration. Aber aufgrund der uneinheitlichen Finanzierung erhöht sich damit die Prämienlast. Wir sprechen dabei aber nur von den Prämien und nicht von den Kosten. Das heisst, es geht um einen Fehlanreiz im Finanzierungssystem. Wir brauchen in Zukunft ein System, bei dem ambulante und stationäre Leistungen einheitlich finanziert werden, beide über Steuern und Prämien.
Solch eine Reform ist auf den ersten Blick für die Prämienzahlenden relevant. Welche Folgen würden für die Ärzteschaft langfristig ohne EFAS entstehen?
Ärztinnen und Ärzte leiden schon jetzt unter dem Kostendruck. In den Augen vieler ist es die Ärzteschaft, welche mit ihrer unmittelbaren Dienstleistung am Patienten die Kosten verursacht. Entsprechend gibt es Bestrebungen, das Korsett für die ärztliche Berufsfreiheit enger zu schnüren. Und das, obwohl die Ärzteschaft davor warnt, dass die Folgen von praxisfernen politischen Fehlanreizen eben einen hohen Verwaltungsaufwand, Mehrkosten und Fehlversorgung bzw. Fehlbehandlungen nach sich ziehen. Diese kommen das System immer teurer zu stehen, ganz gleich, ob sie eine Über- oder eine Unterbehandlung beinhalten. Ohne zielführende Reformen werden wir noch schwierigere Zeiten erleben.
In der Öffentlichkeit gelten allerdings oft Ärztinnen und Ärzte als die Verursachenden hoher Kosten.
Umfragen in der Bevölkerung zeigen, dass die Ärzteschaft ein gutes Image hat und dass das Vertrauen zur eigenen Ärztin, dem eigenen Arzt hoch ist. Wir können die Reputation halten, indem wir unsere Arbeit weiterhin gut machen, auf unsere Patientinnen und Patienten eingehen und Bescheidenheit zeigen. In der therapeutischen Beziehung liegt per se eine Asymmetrie. In der heutigen Gesellschaft braucht es auf Seite der Ärzteschaft dafür ein grosses Bewusstsein und Sensibilität für die Bedürftigkeit, welche wir alle erfahren, wenn wir selbst zu Patienten werden. Passend hierzu gibt es Entwicklungen hin zu Patient Empowerment oder Shared Decision Making. Wenn wir diese Prozesse unterstützen und die interprofessionelle Zusammenarbeit fördern, sehe ich neue Chancen für die Reputation der Ärzteschaft.
Reicht das, um den Generalverdacht zu entkräften?
Wie gesagt, in der Bevölkerung ist das Vertrauen in Ärztinnen und Ärzte hoch. Es ist wichtig, auf polemische Aussagen sachlich zu reagieren und Falschaussagen zu korrigieren. Ein Beispiel hierfür sind mehrere Artikel in der Schweizerischen Ärztezeitung, in der wir uns einerseits dem aktuellen Thema Prämienlast widmen, andererseits wieder auf den Nutzen einer qualitativ hohen Gesundheitsversorgung weisen. Hier können wir gegenüber Politik und Medien glaubwürdig wissenschaftlich basierte Expertisen abgeben.
Nun zu einer Neuerung: Die Schweizerische Ärztezeitung und das Swiss Medical Forum erscheinen ab sofort in einer Publikation. Welche Vorteile sehen Sie für die Leserschaft?
Für mich ist die Neugestaltung der Schweizerischen Ärztezeitung und des Swiss Medical Forum ein generationenübergreifendes Projekt. Das Swiss Medical Forum ist ein wichtiges Publikationsorgan in der Weiterbildungsphase von Ärztinnen und Ärzten, in dem auch junge Kolleginnen und Kollegen publizieren. Es freut mich, dass ihre Beiträge nun gemeinsam mit der Schweizerischen Ärztezeitung, unserem standespolitischen Organ, erscheinen. Ich sehe eine Chance darin, wissenschaftliche und politische Artikel nun gemeinsam vorliegen zu haben. Uns ist bewusst, wie sehr wir beide Bereiche brauchen und dass man sie miteinander verzahnen muss. Es braucht die wissenschaftliche Expertise, sie ist Kern des ärztlichen Berufs. Es braucht aber auch die Standespolitik, welche die Rahmenbedingungen festlegt und verbessert. Jetzt kommen diese zwei Welten zusammen.