«Die Medizin hat auf den Placebo-Effekt aufgebaut»

Wissen
Ausgabe
2022/37
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21001
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(37):70-71

Publiziert am 13.09.2022

ScheinmedikamenteDie Forscherin Kathryn T. Hall hat ein Buch zur Kraft von Placebos geschrieben, das im Oktober erscheint. Im Gespräch erklärt sie, weshalb eine wirksame Behandlung auch von der Interaktion mit Patientinnen und Patienten abhängt.
Kathryn Hall, Sie sind Mikrobiologin und Molekulargenetikerin und forschen seit 2010 an der Harvard Medical School zum Placebo-Effekt. Wie kamen Sie dazu?
Nach meinem PhD-Abschluss an der Universität Harvard habe ich etwa zehn Jahre lang in der pharmazeutischen Industrie gearbeitet. Dort habe ich gesehen, dass unsere Medikamente in klinischen Studien oftmals nicht besser abschnitten als Placebos. Das fand ich faszinierend. Zudem hatte ich eine persönliche Erfahrung, die mein Interesse am Placebo-Effekt weckte: Vom Pipettieren am Labortisch hatte ich starke Schmerzen im Handgelenk. Eine Freundin riet mir, Akupunktur auszuprobieren, und lange habe ich mich dagegen gesträubt. Schliesslich ging ich doch zu einer Akupunkteurin – und diese befreite mich in einer einzigen Sitzung von den Schmerzen, unter denen ich zwei Jahre lang gelitten hatte. Aber war es wirklich die Akupunktur, die meine Schmerzen beseitigt hatte, oder war das ein Placebo-Effekt? Vor diesem Hintergrund wollte ich das Ganze auf einer vertieften Ebene verstehen.
Nun haben Sie ein Buch über Placebos geschrieben, in dem Sie auch die Geschichte des Placebo-Effekts behandeln. Weshalb?
Es wird gern behauptet, dass vor der Neuzeit alle Medikamente Placebos waren. Wenn das tatsächlich wahr wäre, würde das zeigen, wie mächtig Placebos sind. Und schon in früheren Zeiten war bekannt, dass es die Wirksamkeit einer Behandlung erhöhen kann, wenn sie in einer fürsorglichen Interaktion verabreicht wird. Dieser Aspekt wird in der evidenzbasierten westlichen Medizin manchmal übersehen.
Kommt der Placebo-Effekt auch heute noch in Arztpraxen zum Einsatz, auch wenn Ärztinnen und Ärzte keine eigentlichen Placebos einsetzen?
Selbstverständlich. In jeder Behandlung kommt es zu einer Interaktion, die das Potenzial hat, den Placebo-Effekt oder auch den gegenteiligen Nocebo-Effekt auszulösen – und die Behandlung dadurch wirksamer oder aber weniger wirksam zu machen. Das beginnt schon, wenn ein Patient oder eine Patientin den Raum betritt, die Diplome an der Wand sieht, den antiseptischen Geruch einatmet. Dann ist entscheidend, wie die Interaktion mit der Ärztin oder dem Arzt erlebt wird: Ist er oder sie freundlich, kompetent und fürsorglich – oder kalt, herablassend, gestresst, grob? Das sind alles Informationen, die im Gehirn verarbeitet werden und das Ergebnis der Behandlung beeinflussen. Natürlich ist das ganze hochkomplex, aber sehr vereinfacht können wir sagen: Das, was wir erwarten, ist auch das, was wir bekommen. Erwarten wir zum Beispiel eine Schmerzlinderung, kann allein das in gewissen Hirnregionen zur Ausschüttung von körpereigenen Substanzen führen, die den Schmerz lindern. Gleichzeitig wirken selbst starke Schmerzmittel wie Morphium weniger gut, wenn Patienten nicht darüber informiert werden, dass sie sie erhalten, oder wenn sie denken, es handle sich nur um ein Placebo.
Wie können Ärztinnen und Ärzte den Nocebo-Effekt vermeiden? Sollten sie beispielsweise nicht über alle möglichen Nebenwirkungen von Medikamenten aufklären?
Aus ethischer Sicht muss der Arzt seine Patientinnen und Patienten darüber informieren, was genau sie bekommen und was sie erwarten können. Aber die gleiche Information kann auf unterschiedliche Weise kommuniziert werden. Anstatt zu sagen, dass bei fünf Prozent der Menschen eine bestimmte Nebenwirkung auftritt, kann man beispielsweise sagen: 95 Prozent haben überhaupt keine Nebenwirkungen.
In welchen Bereichen ist heute wissenschaftlich erwiesen, dass der Placebo-Effekt Patientinnen und Patienten helfen kann?
Die wichtigsten Bereiche sind Schmerzen und psychische Erkrankungen wie Depressionen. Auch bei der Behandlung von Reizdarmsyndrom und Parkinson-Symptomen haben sich Placebos als wirksam erwiesen, oder bei der Verminderung der Nebenwirkungen von Krebstherapien wie Übelkeit, Schmerzen und Fatigue.
Sind Placebos in den genannten Bereichen ähnlich wirksam wie Medikamente, die Wirkstoffe enthalten?
So einfach kann man das nicht sagen. Aber in klinischen Studien sehen wir, dass bei vielen Erkrankungen die Ergebnisse für die Medikamente nicht besser sind als die Ergebnisse der Kontrollgruppe, die ein Placebo erhält.
Das Schwierige ist: Wie gehen wir damit um, wenn ein Medikament, in dessen Entwicklung viel Zeit und Geld geflossen ist, bei dem man den Mechanismus sehr gut kennt, das auf ein ganz bestimmtes Gen oder Protein zielt, das sicher ist und eine Wirkung zu haben scheint – wie gehen wir nun damit um, wenn ein solches Medikament in klinischen Studien nicht besser abschneidet als das Placebo, gegen das es getestet wird?
Was würden Sie sagen, wie sollten wir damit umgehen?
Man könnte argumentieren, dass dieses Medikament nicht verkauft werden sollte. Aber können wir uns das leisten? Zumal wir oftmals nicht wissen, wie lange ein Placebo wirkt.
Wir müssen in Zukunft noch besser verstehen: Wer profitiert von einem Medikament oder einer Behandlung? Wer profitiert von einem Placebo? Vielleicht handelt es sich nicht um dieselben Personen. Das ist die Vision der Präzisionsmedizin, die wir anstreben.

Kathryn T. Hall und ihr Buch zu Placebos

Dr. Kathryn Tayo Hall schloss ihr PhD in Mikrobiologie und Molekulargenetik an der Harvard University ab und arbeitete dann zehn Jahre lang in der Biotech-Industrie in der Arzneimittelentwicklung. Anschliessend kehrte sie an die Harvard Medical School zurück und forscht seitdem zum Placebo-Effekt und seinen genetischen Grundlagen, seit 2017 als Assistenzprofessorin. Ihr Buch über Placebos und den Placebo-Effekt erscheint im Oktober auf Englisch im Universitätsverlag MIT Press, unter dem Titel: «Placebos. The biological power of the placebo effect.» Darin gibt Hall einen Überblick über die Geschichte von Placebos in der Medizin. Sie befasst sich damit, wie Erwartungen und Lernprozesse unsere Reaktion auf Placebos beeinflussen, mit Fortschritten in der Bildgebung, die Einblicke ins Innen-leben des Placebo-Effekts ermöglichen, mit dem Nocebo-Effekt und auch damit, wie psychologische Profile und Genetik dazu beitragen könnten, individuelle Placebo-Reaktionen vorherzusagen.
Red and blue pills on hand isolated
Klinische Studien zeigen, dass bei manchen Erkrankungen Medikamente nicht besser wirken als Placebos.
© Dmitrii Melnikov / Dreamstime
1 Hall K T, Loscalzo J, Kaptchuk T J. Genetics and the placebo effect: the placebome. Trends in Molecular Medicine. 2015; Vol 21, ISSUE 5, 285-294.
2 Hall K T, Loscalzo J, Kaptchuk T J. Pharmacogenomics and the Placebo Response. ASC Chemical Neuroscience. 2018; 9, 633−635.