Am Krankenbett des Klimas

Praxistipp
Ausgabe
2022/38
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21005
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(38):78-79

Publiziert am 20.09.2022

Nachhaltigkeit Das Klima ist krank. Die Klimaerwärmung führt zu mehr Krankheit und Leiden bei Mensch, Tier und Umwelt. Um dem Klima nicht noch weiter einzuheizen, heisst die Therapie «Netto-Null so rasch als möglich».
Wir werden zu einem «Notfall» gerufen – wir kennen die Situation vom Spital oder der Praxis. Wir haben nur spärliche Angaben. Unterwegs: Um was könnte es sich handeln? Habe ich alles bei mir, was ich brauche? Weiss ich genug über diese Art Notfall? Bei der betroffenen Person: eine rasche Einschätzung der Situation. Entschlossenes Handeln. Zufrieden, wenn wir dem Menschen helfen konnten.
Dr. med. Bernhard Aufdereggen
Präsident der Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz (AefU). An dieser Stelle schreibt er regelmässig über Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen.
Bernhard Aufdereggen

Klimaerwärmung als Notfall

Der diesjährige Sommer zeigte es mit aller Klarheit: Die menschengemachte Klimaerwärmung führt zu starken Hitzeperioden. Natur, Menschen und Tiere leiden. Eine Übersterblichkeit wird von Epidemiologen berichtet, trotz aller präventiven Massnahmen. In meinem heimatlichen Oberwallis erleben wir die Auswirkungen sehr direkt: Die Bergführerinnen und Bergführer in Zermatt weigern sich, die Menschen auf das Matterhorn zu führen. Der Permafrost schmilzt, das Matterhorn zerfällt. Die Gletscher verlieren an Masse und dämmern ihrem Ende entgegen. Starkregen verursachen Überschwemmungen. Klar ist: Wir alle tragen wesentlich zu diesen Veränderungen bei. Und viel massiver trifft es Menschen am Meer oder in trockenen Zonen der Erde mit weniger wirtschaftlichen und medizinischen Ressourcen. Ein Notfall? Angesichts von Corona, dem Ukraine-Krieg und den drohenden Energie-Engpässen erscheint das Thema weniger drängend. Zu Unrecht: Als Ärztinnen und Ärzte wissen wir um die Auswirkungen der Klimaerwärmung auf die aktuelle und zukünftige Gesundheit der Menschen. Internationale und nationale Studien zeigen eindrücklich: mehr Hunger, Migration, Infektionserkrankungen und Hitzetote. Zudem: Rund sechs Prozent des von der Schweiz emittierten CO2 stammen aus dem Gesundheitssektor. Ja, die Situation ist ein Notfall. Rasches und entschlossenes Handeln ist angezeigt.

Drei Therapieebenen

Erstens braucht es ehrgeizige politische und wirtschaftliche Massnahmen und entsprechenden politischen Druck, gerade von uns Ärztinnen und Ärzten. Wir sehen die Auswirkungen bei unserer täglichen Arbeit und können mit grosser Glaubwürdigkeit davon berichten. Das vom Bundesrat angepeilte Ziel mit Netto-Null 2050 genügt nicht [1]. Rascher greifende Massnahmen sind gefordert. Ein griffiges CO2-Gesetz ist dringend. Wir von den Ärztinnen und Ärzten für Umweltschutz (AefU) unterstützen die Gletscher-Initiative [2].
Zweitens soll jeder Wirtschaftszweig den CO2-Ausstoss ohne Qualitätsverlust vermindern. Dabei soll der Gesundheitssektor im Sinne eines Leuchtturm-Projektes vorangehen. Gute Beispiele aus dem Gesundheitssektor gibt es: «Smarter Medicine – Choosing wisely» [3], für den Spitalbereich «Green Hospital», die Positionierung der FMH [4] oder das Papier «Umweltbewusste Gesundheitsversorgung in der Schweiz» [5] der SAMW. In verschiedenen Ländern wurden für den Gesundheitssektor weitergehende Abklärungen durchgeführt und eingreifende Massnahmen in die Wege geleitet, so etwa im englischen Gesundheitssektor (NHS). Am 1. Juli 2022 wurde der NHS mit dem Health and Care Act 2022 zum ersten Gesundheitssystem, das Netto-Null-Emissionen in der Gesetzgebung verankert [6]. Wir von den AefU fordern eine nationale Taskforce [7], die Massnahmen im Gesundheitssektor anregen, aufarbeiten und durchführen soll. Das Klima profitiert von unserem Engagement beim Bau von Spitälern oder Praxen, beim Verkehrsverhalten – aber auch bei Medikamenten, die wir (nicht) einsetzen, wie wir am Beispiel der Asthmasprays gezeigt haben [8].
Drittens kann jeder und jede auch auf der individuellen Ebene ihren oder seinen Teil beitragen. Viel Kleines ergibt zusammen auch etwas Grösseres. Wie wir wohnen, heizen, uns (fort)bewegen und was wir essen – all dies hat auch mit dem Klima-Notfall zu tun.
Alle wissenschaftlichen Analysen weisen darauf hin, dass ohne energisches Handeln innerhalb der kommenden fünf bis zehn Jahre eine weitere Erwärmung des Klimas mit schwerwiegenden Auswirkungen auf Gesundheit und Überleben zu erwarten ist.
Worauf warten wir am Krankenbett des Klimas?
© Luca Bartulović