«Rotes, piepsendes Warnsignal: Energiereserve aufgebraucht»

Organisationen
Ausgabe
2022/40
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21008
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(40):37-39

Affiliations
Medizinstudentin, Universität Fribourg

Publiziert am 04.10.2022

PerspektivenwechselEin junger Long-COVID-Patient hat nicht mehr die Kraft, mit seiner Tochter zu spielen, zu arbeiten oder seiner Frau zu helfen. Die Medizinstudentin Christina Liu schildert seine Geschichte aus zwei konträren Perspektiven: aus der des Arztes und aus der Innensicht des Kranken. Ihr Aufsatz ist einer der Gewinnertexte der diesjährigen Essay-Aufgabe an der Universität Fribourg.

10.20 Uhr – H. Eiden

Heute habe ich es wieder einmal geschafft, ich sitze am Tisch – halte den Stift in der Hand und schreibe. Schreibe – aber langsam, sehr langsam. Bis vor kurzem, um 10.10 Uhr lag ich noch im Bett – und das seit gestern Abend um acht. Und wieder war es ein andauerndes Weinen einer meiner kleinen Töchter und das Aufbrausen meiner erschöpften Frau, welche mich aus dem Bett brachten. In mir, ein Gefühl von Scham – ich kenne und höre das Leiden meiner Familie, möchte helfen, dort sein – aber ich schaffe es einfach nicht, kann es mir nicht leisten.
Obwohl es Morgen ist und ich bis jetzt «geschlafen habe», fühlt sich mein Körper an, als wäre ich schon den ganzen Tag unterwegs gewesen. Jede einzelne Bewegung ist schwer und jede zusätzliche macht es noch schwerer. Seit ein paar Monaten benutze ich eine spezielle Uhr; sie berechnet mir meinen Energielevel. Ein Arzt meinte, sie könnte mir im Alltag helfen, meine Energie besser unter Kontrolle zu halten. Momentan: eine gelbe, etwas erhöhte Kurve. Ich muss enorm vorsichtig sein, wie ich mit meiner Energie umgehe, denn sie zu verlieren ist einfach, sie zurück zu gewinnen jedoch umso schwerer. Da ich weiss, dass das Programm heute lange ist und meine Familie mich noch brauchen wird – sollte ich jetzt sparsam sein.
Musste gerade eine kurze Schreibpause einlegen – wollte aber noch sagen … ich kann es einfach nicht glauben; nun sind es schon 1,5 Jahre her, seit ich COVID hatte. 1,5 Jahre in diesem Zustand der Müdigkeit und Energielosigkeit, welcher sich trotz hunderten von Behandlungsversuchen nicht verbessert hat. 1,5 Jahre, in denen ich immer wieder versuche und als Versuch gebraucht werde, für das Auffinden einer potenziell hilfreichen Therapie. 1,5 Jahre, seit denen ich nicht mehr fähig bin zu arbeiten. 1,5 Jahre, in denen meine Frau mit meiner minimalsten Unterstützung, mit zwei kleinen Kindern durch den Alltag muss. 1,5 Jahre, in denen sich Gefühle von Zweifel, Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Schuld, Scham und Verlust ansammeln … Ich höre wieder ein Geschrei – und ich weiss gerade nicht, ob es das äussere Geschrei meiner Tochter ist oder mein inneres. Ich bin müde – muss mich nochmals kurz hinlegen.

12 Uhr – H. Eiden

Seit einigen Monaten esse ich nur noch eine Mahlzeit pro Tag. Ein Arzt meinte, dass es gut wäre für mich, weniger zu essen. Einerseits um Energie zu sparen, andererseits um meinem etwas erhöhten Körpergewicht entgegen zu steuern. Zum Glück ist mein Appetit sowieso nicht mehr gross, denn meine gesamte Geruchs- und Geschmackswelt lässt sich durch faden Pappkarton zusammenfassen. Ich esse, weil ich muss.
Aber hey, es gibt drei Dinge, welche mir bis heute durch ein dezentes Geschmackssignal ein kleines bisschen Freude und Hoffnung geben: Wurst, Orangen und Schokolade. Meine Lieblingsdiät. Meine Frau hat mir einen farbigen Teller zubereitet. «Danke Jana», sage ich mit Blick auf den Teller gerichtet, weil ich weiss, dass mich der Blick in ihre tiefen und erschöpften Augen nur noch mehr schmerzen würde.

14 Uhr – H. Eiden

Bin wieder aufgewacht, nachdem mir die Gabel beim Essen aus der Hand fiel. Um 15 Uhr habe ich den Arzttermin – das kurze Hinlegen hat mein Energielevel wieder ein bisschen erhöht, eine Dusche sollte also noch drin liegen. Routinemässig setze ich mich beim Duschen hin, denn das Stehen braucht einfach zu viel Energie. Ich merke, wie mein Puls und meine Atmung ansteigen.
Durch ein E-Bike erleichtere ich mir die Fahrten zum Spital. Ein Auto können wir uns momentan nicht leisten, schon gar nicht mit meinem Arbeitslosengeld – und das ständige Hin und Her im öffentlichen Verkehr ermüdet mich sowieso nur mehr. Angekommen bin ich völlig ausser Atem – bin froh, habe ich noch ein paar Minuten im Warteraum, wäre dort auch fast eingeschlafen.

15 Uhr – Dr. Kollinger

Ich berichte über unten genannten Patienten am 05.02.21 in meiner Sprechstunde:

Anamnese

Seit 1,5 Jahren progressive Fatigue, energielos, morgens etwas besser, abends Kopfschmerzen (7/10), muss sich 4–5x/d hinlegen, kein regelmässiger Schlafrhythmus, wacht nachts immer wieder auf, fest in Alltag eingeschränkt, Dyspnoe NYHA3-4: Verbesserung durch Hinlegen, Verschlimmerung bei minimalsten Anstrengungen, keine Miktion/Stuhl-Probleme, isst nur 1x/d, Anosmie/Ageusie (ausser für Orangen, Wurst, Schokolade), seit 1 Monat immer wieder Fieberschübe, Schwierigkeiten beim Aufstehen, Gedankenkreisen, antriebslos (vor COVID unauffällig, gesunder Status).

Diagnose

Frederik Eiden, 35 Jahre, St.n. COVID-19-Pneumonie:

Labor

CRP Werte norm, Blutwerte norm, leicht erhöhte LDL Werte (4,1 mmol/L)

Bisherige Medikation

Bisherige Therapie

Ergotherapie (1x/Woche), Physiotherapie (1x/2 Wochen), Atemtherapie (2x/Woche wenn möglich)

Zusammenfassende Beurteilung

17 Uhr – H. Eiden

Es dauerte so lange – vom Arztzimmer zurück bis zu meinem Fahrrad – jeder Schritt fühlte sich so an, als würde ich auf nassem Zement laufen. Der Arzt meinte, dass meine Entzündungs- und Lungenwerte nicht schlechter geworden seien, obwohl es sich so anfühlt. Er durchlöcherte mich wieder mit Fragen, kontrollierte meine Medikamente, schlug mir wieder irgendwelche komischen Therapien vor und erinnerte mich an meine extra Kilos. Ich solle mehr Sport machen und mich bewegen. Der Lungenarzt meinte dasselbe, jedoch um meine Lunge zu trainieren. Wie soll ich das aber hinkriegen, wenn mir schon die Energie für eine Dusche oder die Schritte aus meiner Haustür fehlt?
Dazu meinte er noch, ich solle mal einen Psychotherapeuten in Betracht ziehen. Wow, jetzt bin ich auch noch depressiv? Ich weiss langsam echt nicht mehr für was ich zum Arzt, all diesen Ärzten, gehe. Jedes Mal Energieverlust, aber kein Verbesserungsgewinn. Und das Schlimmste ist: das Unwissen. Nicht nur von mir selbst, sondern von jeglichen Ärzten. Ein neues Virus, eine unbekannte Krankheit mit unerforschten Folgen und Therapien. Ach, ich bin einfach am Ende. Keine Lust und keine Energie, um wieder zu fallen und wieder aufzustehen. Zu Hause angekommen verspüre ich wieder die Reue, dass ich es nicht geschafft habe, noch kurz für meine Familie einkaufen zu gehen. Ich konnte einfach nicht mehr. Meine Uhr piepst, ein rotes Warnsignal. Muss mich hinlegen.

19 Uhr – H. Eiden

Ich liege immer noch, versuche Tagebuch und Schreiber in einer stabilen Position zu halten. Meine Uhr zeigt wieder eine gelbe Kurve, fühle mich schlapp. Mein Wille ist aber hier – meine Frau und meine Kinder brauchen mich. Als ich aus dem Zimmer rauskam, sah ich meine ältere, dreijährige Tochter alleine spielen – sanft wiegt sie ihre Puppe in den Armen und streicht ihr durchs Haar. Werde ich jemals wieder ein Vater für sie sein können? Ich setze mich neben meine Tochter – sie umarmt mich und ruft: «Papa, komm wir lesen etwas!» Zwei Seiten später – ich spüre, wie mir die Energie aus dem Körper gezogen wird und meine Atemzüge mit jedem Satz schwerer und schneller werden.
Auf einmal ein «Verdammt» von Jana aus der Küche – der Reis ist angebrannt. «Ich komme gleich Jana … mach dir k...», ich sehe sie auf dem Küchenboden, zusammengerollt, Hände im Gesicht, kein Ton, nur ein Seufzer und meine einjährige Tochter daneben. Hände, Gesicht und Kleider, alles voller Tomatensauce. «Ich kann nicht mehr! Ich kann einfach nicht mehr alleine! Schau mich nicht so an Fredrik – das alles macht mich einfach fertig, du, die Kinder, dieses blöde Long COVID …!» In diesem Moment – ein rotes piepsendes Warnsignal meiner Uhr.

22 Uhr – H. Eiden

Ich werde aus dem Halbschlaf und von meinen unruhigen Gedanken geweckt. Meine Mutter ruft aus Deutschland an: «Hey Fredrik, immer noch müde? Wollte dir nur kurz sagen, dass es Papa momentan gerade nicht gut geht. Er spricht nicht wirklich auf die Chemotherapie an.»
Eigentlich sollte ich jetzt bei ihnen sein – sie unterstützen, ihnen helfen, sie begleiten, wenigstens besuchen. Aber nein, keine Chance. Sein junger Sohn fühlt sich einfach kränker als er selbst. Im Hintergrund höre ich Jana am Telefon – sie klagt und weint: «Ich muss gehen … einfach irgendwohin. Ich bin so alleine ohne seine Hilfe, habe nichts mehr im Griff … in eine Psychiatrie für Mutter-Kind meinst du? ...»
Ich sitze noch träge auf dem Bett. Wie soll das nur weitergehen?! Werde ich jemals wieder Energie verspüren? Freude? Motivation?
Und wenn ich an morgen denke … einfach all das, nochmals von vorne? Wie lange noch? Ich höre meine schweren Atemzüge. Mein Herz schlägt. Meine Hand bewegt sich immer langsamer auf dem Papier, der Druck meines Schreibers wird immer schwächer …
Essay-Wettbewerb
An der Universität Fribourg verfassen Medizinstudierende im Rahmen des Unterrichts in Medical Humanities einen Essay über eine Krankheitsgeschichte, die ihnen im Hausarztpraktikum begegnet ist. Kernaufgabe ist der Perspektivenwechsel zwischen der trockenen, faktischen Sprache der Medizin und der persönlichen Erfahrungswelt der Patientinnen und Patienten: Die Studierenden lernen dabei, sich in die PatientInnen einzufühlen und erleben die Herausforderungen der Arzt-Patienten-Kommunikation quasi «hautnah». Die 20 besten Essays jährlich werden online publiziert, www.unifr.ch/med/de/assets/public/professoren/king/Booklet_Essays_Final.pdf, die beiden Siegeressays mit einem von der Familie Piller gestifteten Preis ausgezeichnet. Der Essay von Christina Liu erhält 2022 einen Sonderpreis zum Thema Long COVID.
Schlafen, um Energie zu sammeln? Das funktioniert bei Long-COVID-Betroffenen nicht.
© Gilbert Beltran / Unsplash