Soll ich bleiben oder lieber gehen?

Hintergrund
Ausgabe
2022/38
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21017
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(38):12-16

Publiziert am 20.09.2022

BerufswechselImmer mehr Ärztinnen und Ärzte steigen aus dem Beruf aus und orientieren sich neu. Die Coronapandemie hat das Problem zwar verschärft, aber manche bleiben ihrer Berufung trotz allem treu. Drei Gesprächspartnerinnen verraten, weshalb sie sich für ihre individuellen Wege entschieden haben.
Der Fall sorgte diesen August in Schweizer Zeitungen über einen Zeitraum von vier Tagen täglich für neue Schlagzeilen: Am Spital Einsiedeln haben alle Assistenzärztinnen und -ärzte auf einen Schlag gekündigt [1]. Der Ärztenachwuchs warf der Spitalleitung vor, ihn regelmässig zu Mehrarbeit über dem gesetzlich erlaubten Limit von 50 Stunden pro Woche genötigt zu haben. Ausserdem seien Weiterbildungen gestrichen worden, die für die Ausbildung zwingend nötig gewesen seien. Die Glaubwürdigkeit der Vorwürfe wurde auch vom Verband schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzten (VSAO) gestützt, wie dieser später dem Blick bekannt gab [2].

Viele Fachkräfte steigen aus

Der Fall ist die Spitze des Eisbergs eines Problems, das in Schweizer Spitälern schon seit längerem gärt. Gesundheitsfachpersonen fühlen sich von diversen Seiten unter Druck gesetzt, sei es von der Spitalleitung, vom anstrengenden Alltag mit den Patienten oder vom zunehmenden administrativen Aufwand. Sehr viele erwägen deshalb einen Berufswechsel. Laut einer Analyse des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan) steigen etwa jeder dritte Arzt und jede dritte Ärztin aus dem Beruf aus [3]. Bei Pflegepersonen und Hebammen sind es sogar fast die Hälfte.
Dass in Spitälern hart gearbeitet wird und oft viele Überstunden verrichtet werden müssen, ist schon lange bekannt. Doch in der letzten Zeit scheint sich die Situation vieler Betroffener verschlechtert zu haben – besonders seit Beginn der Pandemie. So melden sich seit einiger Zeit auffällig viele Spitalärztinnen und -ärzte bei ReMed, der Beratungs- und Hilfestelle der FMH, an die sich Ärztinnen und Ärzte in Not wenden können [4]. «Früher meldeten sich vor allem ältere Hausärzte mit eigener Praxis bei uns, die wegen der Tätigkeit als Alleinunternehmer unter Druck standen», erklärt Peter Christen, Leiter von ReMed und Facharzt für Allgemeine Innere Medizin. Heute seien es deutlich mehr jüngere Medizinerinnen, die als Angestellte in den Spitälern arbeiten.
Gabriela Kieser wollte lieber Unternehmerin als Ärztin sein.

Wenn Spitalärzte Hilfe brauchen

Den Grund dafür ortet Christen vor allem beim gestiegenen Aufwand am Arbeitsplatz. Hilfebedürftige Ärztinnen und Ärzte rutschen zudem oft wegen zusätzlichem Druck und Angst vor einem Jobverlust in die Krise. Aber auch, weil sie Beruf und Familienleben nicht mehr vereinbaren können, weil sie wegen psychischer oder körperlicher Leiden selbst krank werden, und weil es wegen zwischenmenschlichen Problemen am Arbeitsplatz zur Überlastung kommt. ReMed bietet diesen Personen in allen drei grossen Landessprachen eine 24-Stunden-Notfallnummer an [5] (siehe Kasten), und die FMH finanziert allen Betroffenen eine Beratungszeit von zwei Stunden.
Ihnen wird bei einem Anruf der Hotline individuell geholfen. Facharzt Peter Christen erklärt: «In einem ersten Schritt arbeiten wir heraus, wie es zu der Krisensituation kommen konnte. Dann klären wir ab, welche konkreten Schritte den Betroffenen in ihrer jeweiligen Situation helfen können.» Möglich ist auch rechtliche Beratung, wenn bei einem Problem das Arbeitsrecht tangiert wird. Die Art der Unterstützung hängt davon ab, ob es sich um ein akutes oder chronisches Problem handelt, und ob es stellenbezogen oder generell auftritt. Jährlich nutzen fast 200 Ärztinnen und Ärzte das Angebot von ReMed [6], die Tendenz ist steigend. Laut Peter Christen überlegen sich etwa 30 bis 40 davon einen Berufswechsel.
Für diesen extremen Schritt ist aber nicht immer nur der Druck im Beruf verantwortlich. Es gibt auch den Fall, dass ein Mediziner oder eine Medizinerin in ein Berufsfeld wechselt, das vergleichbar stressig oder sogar noch herausfordernder ist.
So haben es etwa prominente Ärztinnen und Ärzte getan wie Starmanager Daniel Vasella, der vor seiner zweiten Karriere Oberarzt am Inselspital Bern war. Oder NZZ-Wissenschaftsredaktor Alan Niederer, der seine Facharztprüfung in Innerer Medizin bereits absolviert hatte. Oder Unternehmerin und Verwaltungsrätin Gabriela Kieser, die gemeinsam mit ihrem Mann die bekannte Schweizer Fitnessstudio-Kette «Kieser Training» aufbaute.

Wechsel trotz Bestnoten

Den drei Berufswechslern ist eines gemeinsam: Sie starteten in komplett neuen Berufsfeldern als Quereinsteiger, konnten sich aber dennoch nie vollständig von der Medizin lösen. Gabriela Kieser erklärt: «Als ich mich vor 25 Jahren entschied, zusätzlich die Ausbildung zum Master of Business Administration zu absolvieren, war mir klar, dass ich für eine Zeit lang keinen Kontakt mehr mit Patienten haben werde.» Das war für eine Ärztin, die ihr Studium mit Bestnoten abschloss und beste Karten für den Sprung nach ganz oben hatte, ein schwieriger Schritt. Doch Kieser reizte die Herausforderung, unternehmerisch tätig zu sein, und eine Firma international aufzubauen.
Wenn Gabriela Kieser zurückblickt, ist sie auch heute noch von ihrer damaligen Entscheidung überzeugt. «Ich erfahre von meinen Freundinnen, die noch als Ärztinnen in der Praxis tätig sind, viel über die Zustände im Gesundheitswesen», erklärt Kieser. «Es scheint, dass heute der administrative Aufwand deutlich grösser ist als früher und dass man als Medizinerin oft einfach zu wenig Zeit hat, um auf die Patienten adäquat eingehen zu können.» Die Unternehmerin und Ärztin berät heute konsiliarisch Kunden mit chronischen Beschwerden am Bewegungsapparat, die mit Kieser Training eine Verbesserung ihrer Beschwerden erzielen möchten.
Kieser kann auf diesem Weg Menschen etwas Gutes tun, ohne dass sie unter dem vom Gesetz verordneten Zeitdruck steht, und ohne dass der hektische Spitalalltag ihrem Wirken Grenzen setzt. Sie denkt gerne an ihre Zeit als Assistenzärztin. Eine Spitalkarriere wäre allenfalls eine reale Option gewesen. Doch sie ist zufrieden mit ihrem beruflichen Werdegang.
Alexandra Röllin ist mittlerweile leidenschaftliche Hausärztin.

Eine Ärztin zweifelt

Nicht hundertprozentig sicher, ob sie alles nochmals genauso machen würde, ist sich Allgemeinmedizinerin Alexandra Röllin, die in einer Praxis arbeitet. «Die Ausbildungszeit im Spital empfand ich als hart, weil manches sehr hierarchisch organisiert war und man ab und zu Dinge tun musste, die aus meiner Sicht keinen Sinn hatten.» Die Ärztin hatte auch Mühe mit sehr bürokratisch denkenden Mitarbeitenden («das haben wir schon immer so gemacht») und der fehlenden Individualität im medizinischen Alltag, sowohl in Bezug auf die Bedürfnisse des Patienten oder der Patientin, aber auch der Ärztinnen und Ärzte. Diese Faktoren seien in einer grossen Organisation möglicherweise unumgänglich, entsprächen aber nicht ihrer Persönlichkeit, so Röllin.
«Meine Rettung war der Weg in die Praxis», erklärt die Medizinerin. Nachdem sie ein Praktikum bei einem Hausarzt absolviert hatte, war das für sie klar. Dort hatte sie nämlich die Freiheit, sich für besonders berührende und komplizierte Fälle auch einmal mehr Zeit zu nehmen. «Mir gefällt an der Arbeit in der Praxis zudem, dass man seine Patienten langfristig betreuen kann», sagt Alexandra Röllin. Es entsteht dabei über die Jahre eine Vertrauensbeziehung, die einzigartig ist. In ihrer Praxis hat Röllin die verschiedensten Patienten erlebt. Wegen der starken Verbundenheit mit den Menschen sieht sie bei einem Kranken Lebensfacetten aller Art, die neben ihr oft nur der engste Familienkreis mitbekommt. Röllin kann dadurch anderen Menschen eine Stütze sein, was sie heute sehr erfüllt. Dass es so kommen würde, sei ihr aber sehr lange nicht klar gewesen, wollte sie doch ursprünglich Wissenschaftsjournalistin werden. Erst ein Gespräch mit der Berufsberatung hat sie zum Medizinstudium geführt, das sie dann enorm spannend und vielfältig fand. Danach waren vor allem Zufälle und das gelungene Praktikum die Gründe, wieso Röllin schliesslich ihre Berufung fand.
Wohin soll der berufliche Weg führen? Diese Frage muss ein jeder Arzt und jede Ärztin für sich selbst beantworten.
© Somnuek Saelim / Dreamstime

Was der Ärztin wichtig ist

Anästhesistin Simone Menth hat sich dagegen für eine Spitalkarriere entschieden. Sie ist mit ihrem gewählten Weg zufrieden, auch wenn sie häufig zu später Stunde Dienst hat. «Heute hat man oftmals komplexere Krankheitsverläufe und die administrativen Arbeiten haben vor allem in anderen Disziplinen stark zugenommen. Doch im Gegensatz zur Zeit vor dem Gesamtarbeitsvertrag sind wir besser geschützt vor unendlich langen Schichten», berichtet sie. Die Arbeitszeit sei früher um einiges länger gewesen. In den Spitälern, in denen sie seither gearbeitet hat, seien bezüglich Dauer und Effizienz aber laufend Verbesserungen realisiert worden.
Besonders wichtig sind für die Oberärztin ethische Aspekte. Simone Menth erklärt: «Heute kann die moderne Medizin unglaublich viel mehr machen als früher. Doch das sollte immer individuell abgewogen und evaluiert werden. Nicht alle medizinischen Behandlungsmöglichkeiten führen per se zu einer Verbesserung der Lebensqualität.» Dass Ethik für Menth ein wichtiges Thema ist, zeigt sich in ihrer Biografie. Erst kürzlich ging die Anästhesistin mit einem Zürcher Projekt für humanitäre Hilfe für einige Wochen nach Afrika, wo sie Fälle und Situationen antraf, die sie nachdenklich stimmen.

Etwas Konkretes bewirken können

Was Menschen auf der ganzen Welt eint, ist, dass sie in ihrem Leben irgendwann Krankheit und Leid verspüren. Ärzte und Ärztinnen bilden die Berufsgruppe, die zumindest einen Teil dieses Leides von den Schultern anderer Menschen nehmen können – auch wenn sie sich damit manchmal selbst beladen müssen. Ob man dazu trotz aller Schwierigkeiten bereit ist, ist eine individuelle Frage, die jede Medizinerin und jeder Mediziner für sich selbst beantworten muss. Zumindest Menth ist aber klar, weshalb sie weiter Ärztin bleiben will. Sie sagt: «Ich habe und hatte stets das Gefühl, damit etwas Konkretes in der Welt bewirken zu können.»

Benötigen Sie Hilfe?

ReMed ist eine Dienstleistung der FMH, der Ärztinnen und Ärzten in Krisensituationen jederzeit zur Verfügung steht. Fachpersonen bieten per Telefon Gespräche auf Augenhöhe von Arzt zu Arzt an. Falls nötig kann auch an Spezialisten vermittelt werden, ambulant oder stationär. Wenn Sie oder ein Arzt/eine Ärztin aus Ihrem Umfeld Unterstützung benötigen, ist ReMed unter den folgenden Kontaktdaten für Sie da:
24-Stunden-Hotline:
0800 0 73633
E-Mail-Auskunft:
Kontaktformular im Internet:
Manche Ärztinnen und Ärzte suchen den Ausweg aus dem Gesundheitswesen.
© Hansjörg Keller / Unsplash