Datenmanagement bei Sudden Cardiac Death

SIWF
Ausgabe
2022/37
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21046
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(37):30-33

Affiliations
a Dr. med., Fachärztin für Anästhesiologie, Fachärztin für Intensivmedizin, Notärztin (SGNOR), Oberärztin, Departement für Anästhesie und Schmerztherapie, Inselspital, Universitätsspital Bern, Universität Bern, b PD Dr. med. et MME, Fachärztin Allgemeine Innere Medizin, Notärztin SGNOR, Schwerpunkt Klinische Notfallmedizin SGNOR. Präsidentin Schweizerisches Institut für ärztliche Weiter- und Fortbildung, c Dr. med., Facharzt für Anästhesiologie, Notarzt (SGNOR), Chefarzt Schutz & Rettung Zürich Datenmanagement Reanimation (Kickoff Option 1; 28/30), Herkreislaufstillstand (Kickoff Option 1; 22/30)

Publiziert am 13.09.2022

Datenerfassung Schweizweit erleiden 8000 Menschen pro Jahr einen plötzlichen Herztod [1] mit entsprechenden individuellen gesundheitlichen und sozioökonomischen Auswirkungen. Das Überleben mit gutem neurologischen Outcome beträgt ca. fünf Prozent und bedingt eine funktionierende Rettungskette mit high-quality basic life support und raschem Transport an spezialisierte Zentren.
Samstagabend Juli 2021, die Fussball-Schweiz verfolgt die Euro 2021, Dänemark gegen Finnland. Kurz vor Ende der ersten Halbzeit bricht der dänische Nationalspieler Christian Erikson zusammen. Die spätere Diagnose wird lauten: Ausserklinischer plötzlicher Herzkreislaufstillstand (sudden cardiac arrest; SCA), erfolgreich reanimiert.
SCA hat enorme Auswirkungen auf Betroffene und ihre Familien. Er ist mit hohen Anforderungen an das gesamte Gesundheitswesen verbunden und hat aufgrund verlorener Lebensjahre bei guter Gesundheit relevante gesellschaftliche, ökonomische und politische Aspekte.

Measure to improve

Die Relevanz von SCA wurde in den letzten Jahren auf internationaler Ebene zunehmend erkannt. So widmen die 2021 aktualisierten Richtlinien zur Reanimation des European Resuscitation Councils (ERC) der Epidemiologie des SCA ein eigenes Kapitel und fordern neben der systematischen Datenerfassung auch deren Dokumentation in entsprechenden Registern [2]. Kürzlich in Resuscitation publizierte Daten aus dem US-amerikanischen Register CARES (Cardiac Arrest Registry to Enhance Survival) zeigen, dass der gesundheitliche und sozioökonomische Impact des SCA entgegen allgemeiner Annahmen zunimmt: Trotz der Aufwände und Kosten für Prävention, Schulung der breiten Bevölkerung und die professionelle Behandlung und Forschung hat die Krankheitslast durch SCA zugenommen [3].
Er stellt nun eine der Hauptursachen für den Verlust an Lebensjahren bei guter Gesundheit in den USA dar. Australischen Daten zeigen, dass der Ausfall an Produktivität nach SCA dem aller Krebserkrankungen zusammen entspricht [4]. Erste europäische Projekte (EuReCa und EurReCa 2 [5]) lassen vermuten, dass die Situation hier ähnlich aussieht. Leider fehlt aber bis heute eine europaweite Datenerhebung und -auswertung. Die Forderung nach einer systematischen Datenerfassung zu Inzidenz von SCA in der Bevölkerung, Risikofaktoren, Behandlung und funktionellem Outcome sowie regionaler Unterschiede wurde unter dem Schlagwort «measure to improve» von der Global Resuscitation Alliance and Resuscitation Academy aufgenommen: Nur was wir messen, können wir auf Stärken und Schwächen analysieren und schlussendlich auch verbessern (www.globalresuscitationalliance.org).

Fehlendes Qualitätsmanagement

Die präklinischen Daten bei SCA werden seit 2016 schweizweit durch die Rettungsdienste gemäss internationalem Standard (Utstein style template) erfasst und in «SWISSRECA» dokumentiert. Diese Datenerfassung gehört zu den Zertifizierungskriterien für Rettungsdienste durch den Interverband für Rettungswesen (IVR). Die Daten zur innerklinischen Behandlung sind zwar in den im klinischen Alltag verwendeten Patientenmanagementsystemen vorhanden, werden aber selten oder unvollständig mit den SIWSSRECA-Daten verknüpft.
Die eigentlich unverzichtbaren – da für das Individuum sowie gesamte Gesundheitssystem relevantesten – Outcome-Daten nach Spitalentlassung inklusive dem neurologischen Outcome und Funktionalität im Alltag, zum Beispiel gemessen am Cerebral Performance Score (CPC; Tab. 1) nach sechs Monaten, werden schweizweit nur sporadisch erfasst. Hier stellt die Multidisziplinarität in der Behandlung dieser Patientinnen und Patienten eine entscheidende Hürde dar. Je nach Ursache und Verlauf sind unterschiedliche Fachdisziplinen beteiligt und federführend, und wechseln sich auch bei der individuellen Person selbst häufig ab. Folglich fühlt sich keine Fachdisziplin komplett zuständig – und entsprechend auch keine Fachgesellschaft verantwortlich für einen gesamtheitlichen Überblick.
Tabelle 1: Cerebral Perfomance Category
1gute cerebrale Leistungsfähigkeitkann einer Arbeit nachgehen,höchstens milde neurologische oder psychologische Defizite
2mässige cerebrale Behinderungbei Bewusstsein, unabhängig im Alltag, Arbeit in geschütztem Umfeld möglich
3schwere cerebrale Behinderungbei Bewusstsein, im Alltag auf Hilfe angewiesen
4Koma, vegetativer Zustandkeine Reaktion auf / Interaktion mit Umwelt
5verstorben, Hirntod 
Tabelle modifiziert nach [9].
Des Weiteren fehlen im hektischen und durch administrative Arbeiten überladenen klinischen Alltag vielen Akutdisziplinen nicht nur die strukturellen Ressourcen, sondern auch der Anreiz für die Datensammlung, obwohl auf individueller Ebene das Interesse am Verlauf der einzelnen Person häufig gross ist. In Fachgebieten mit kleinen Fallzahlen wie der Pädiatrie sind Datenlage und strukturierte Analyse des Outcomes noch schlechter – obwohl hier eine strukturierte und multizentrische Datenerfassung einen grossen Beitrag an die Qualitätssicherung liefern könnte.

Spezialisierte Zentren gefordert

Neben vollständiger und verlässlicher Datenerfassung und Registern fordern sowohl die 2021 ERC Guidelines zur Reanimation als auch kürzlich erschienene Publikationen die Behandlung von Personen mit SCA in spezialisierten, hierfür qualifizierten, zertifizierten Zentren [6]. Dieser Standard für andere schwerkranke Patientinnen und Patienten, wie Verbrennungsopfer oder Personen mit Schlaganfall, wird auf europäischer Ebene zunehmend auch für die Gruppe der Personen mit SCA gefordert.
Patientinnen und Patienten im und unmittelbar nach Herzkreislaufstillstand profitieren von einer sofortigen, hochspezialisierten, aber auch individualisierten Abklärung und Therapie, welche das reibungslose Zusammenspiel multipler Fachdisziplinen und eine umfassende Infrastruktur voraussetzt. So profitiert die schwangere Patientin mit peripartaler Kardiomyopathie und SCA im Rahmen einer hypertensiver Entgleisung vom raschen Erkennen und Transport an das geeignete Zentrum mit Behandlungsspektrum bis hin zum Etablieren einer extrakorporellen Zirkulation bei gleichzeitig optimalem geburtshilflichem und neonatologischem Management. Die Angehörigen der 93-jährige Patientin nach ROSC (return of spontaneous circulation), aber ohne Bewusstsein und mit einer schlechten neurologischen Prognose profitieren vom interdisziplinären Team mit dem notwendigen Wissen und technischen Mitteln der Neuroprognostifikation, welche sie in dieser belastenden Situation kompetent begleiten.
In der Schweiz wurden sämtliche obengenannten Forderungen bereits 2020 in der «Nationalen Überlebensstrategie bei Herzkreislaufstillstand» vom SRC formuliert [7]. Ebenso fordert das Leitbild des Forum Notfall FMH zur Notfallversorgung die Einweisung «in das für die definitive Versorgung der schwersten Schädigung geeignete Zielspital», wobei «für spezielle Patientenkollektive (Polytrauma, Schwerbrandverletzte, Hirnschlag, Akutes Koronarsyndrom) entsprechende Zentren definiert» worden sind [8]. Auf dieser Liste fehlt die zeitkritische und hochkomplexe Behandlung der schwerstkranken Patientinnen und Patienten im und unmittelbar nach SCA.

Das Cardiac Arrest Center Bern

Die Schweizer Spitäler haben interne Strukturen entwickelt, um Personen nach SCA umfassend zu behandeln. Um obengenannten Punkten der Datenerfassung und -auswertung und daraus folgend Erfassung von Verbesserungspotential gerecht zu werden, liess sich das Inselspital Bern 2020 zum schweizweit ersten Cardiac Arrest Center zertifizieren.
Im Cardiac Arrest Center werden die Daten der Betroffenen lückenlos nachverfolgt: Von der Spitaleinlieferung bis zu den Nachuntersuchungen.
© Chiradech Chotchuang / Dreamstime
Zur möglichst lückenlosen Erfassung aller am Inselspital behandelten SCA-Patientinnen und -patienten werden sämtliche Eintritte durch je eine Study Nurse des Notfallzentrums und der Klinik für Intensivmedizin gescreent, die nachfolgenden Daten durch die behandelnde Klinik registriert, im Berner Reanimationsregister erfasst und für das Benchmarking ins deutsche Reanimationsregister übertragen. Die präklinischen Daten aller OHCA-Patientinnen und -patienten werden vom Rettungsdienst Bern tabellarisch an das Cardiac Arrest Center weitergegeben und mit den innerklinischen Daten verknüpft.
Bei überlebenden Personen wird nach 30 Tagen und nach 6 Monaten der CPC als grobes Mass für Funktionalität im Alltag erhoben. Diese Aufgabe übernimmt der «Forschungsassistent» der Intensivmedizin, da mit dieser im Stellenplan integrierten Ressource eine lückenlose Nachverfolgung der Betroffenen gewährleistet ist. Um die Daten neben dem Qualitätsmanagement auch für eigene Forschungsprojekte oder Kooperationen an internationalen Studien nutzen zu können, werden die Patientinnen und Patienten beziehungsweise ihre Angehörige für die Einwilligung der Datenerfassung angefragt (general consent respektive informed consent zur Teilnahme an einem Forschungsprojekt).
Cardiac Arrest Center bedeutet nicht nur Datenerfassung: Vielmehr müssen die bestehenden Patientenpfade mit ihren ausser- und innerklinischen Schnittstellen erfasst, überprüft, oder auch erstmalig beschrieben werden. Daraus folgt auch die Definition klarer hausinterner Handlungsanleitungen im Sinne eines auf das jeweilige Zentrum zugeschnittenen «Hausstandards».
Dies ermöglicht das reibungslose Funktionieren notwendiger und sinnvoller Abläufe auch in hektischen, häufig initial unklaren und zudem für das behandelnde Team insgesamt seltenen Situationen. Das Erarbeiten, Implementieren, Umsetzen und kontinuierliche Überprüfen sämtlicher Abmachungen erfordert das Engagement aller Beteiligten vom Rettungsdienst bis hin zur Rehabilitationsmedizin.
Ein weiterer Punkt im Rahmen der Zertifizierung ist der Nachweis definierter Schulungsanstrengungen, welche neben regelmässiger Schulung und Auffrischung der Kompetenzen in BLS, ILS oder ALS (Basic/Immediate/Advanced-Life-Support) auch spitalinterne Abläufe bei einem SCA umfassen. Das Inselspital verfügt über die gesamte Palette an mechanischen Herzunterstützungssystemen, zum Beispiel im Rahmen des eCPR (Reanimation mit Hilfe eines ECMO-Systems) oder als Linksherzunterstützungssystem für Personen im kardiogenen Schock nach erfolgreicher Reanimation. Diese Optionen müssen beschrieben und bekannt sein, um im Ernstfall dem richtigen Patienten, der richtigen Patientin im gesamten Spitalnetzwerk schnellstmöglich zur Verfügung gestellt werden zu können. Gleichzeitig müssen aber auch die Limitationen bekannt sein, um in aussichtlosen Fällen nicht unerfüllbare Hoffnungen zu wecken und unnötig Ressourcen einzusetzen (zum Beispiel Transfer einer Person mit bereits lange andauerndem SCA zur Evaluation einer eCPR).
Entsprechend dieser Anforderungen war der Schulungsaufwand am Inselspital gross. Wie an Zentrumspitälern üblich verfügen sämtliche Mitarbeitenden über die BLS Grundkompetenz, was dank langjähriger Zusammenarbeit mit dem Berner Simulations- und CPR-Zentrum (BeSiC) bereits vorgängig gewährleistet war. Um sicherzustellen, dass alle klinisch tätigen Mitarbeitenden ihrem Aufgabenbereich und oben genannten Forderungen entsprechend regelmässige Schulungsaufforderungen erhalten, bedarf es einer gut funktionierenden Zusammenarbeit zwischen den Schulungsverantwortlichen, Dienstplanung und vorgesetzten Stellen.
Die Erfahrungen zeigen, dass auch nach erfolgreicher Zertifizierung Entwicklungspotential besteht. Der Aufwand, die Daten der 198 Patientinnen und Patienten im Jahr 2020 und der 249 im Jahr 2021 zu sammeln, zu überprüfen und zu validieren, war gross. Um dem bereits durch administrative Arbeiten überfrachteten Klinikalltag keinen weiteren Papierstapel aufzubürden, wird am Inselspital parallel zur bereits laufenden Datenerfassung an deren Vereinfachung gearbeitet.
Ein Pilotprojekt in Zusammenarbeit mit der Berner Fachhochschule für Technik und Informatik sieht eine webbasierte Lösung vor, bei der ein Tablet den Patientinnen und Patienten auf seinem Weg durch das Spital vom Übertreten der Türschwelle der Notfallstation bis zur Verlegung auf die Normalstation begleiten soll. So können alle wichtigen Ereignisse zeitnah eingetragen werden. Ebenso wäre eine Verlinkung mit den präklinisch erhobenen Daten (SWISSRECA) oder anderen Registern (zum Beispiel deutsches Reanimationsregister für Benchmark) wünschenswert, um den Aufwand der Dateneingabe in multiple Register zu reduzieren. Dies würde die zurzeit aufwändige Datenerfassung deutlich vereinfachen, und bei grossflächigem Einsatz dem Ziel «measure to improve» näherkommen.

Erste Resultate aus Bern

Die Aussagen aus dem ersten Benchmark mit den Vergleichskliniken sind aktuell limitiert, da die Dateneingabe noch unvollständig war. Doch bereits die ersten Zahlen zeigen, dass am Inselspital vieles bereits richtig gemacht wird:
2020 wurden am Berner Inselspital 198 Personen nach ausserklinischem SCA behandelt. Im Vergleich zur Gesamtpopulation der OHCA Patientinnen und Patienten im deutschen Reanimationsregister wiesen die Inselspital-Patienten eine ähnliche Alters- (knapp 75% der Personen zwischen 40-80 Jahre, 20% über 80 Jahre, 5% zwischen 18-40, jünger als 18 Jahre <1%) und Geschlechterverteilung auf (2/3 männlich).
Die unter Reanimation oder nach ROSC ans Inselspital transportierten Patientinnen und Patienten hatten verglichen mit dem deutschen Reanimationsregister etwas häufiger ein Kammerflimmern als ersten Rhythmus dokumentiert, seltener eine Asystolie (14,1% vs 34,4%). Inselspital-Patienten wurden häufiger einem Temperaturmanagement zugeführt, weniger häufig einer Koronarangiographie (41%). Die Neuroprognostikation hatte einen hohen Anteil an Bildgebung; 20% der Personen erhielten ein MRI, 52% ein CT des Schädels. Seitens Outcome wurden 41,9% der Personen lebend entlassen (Vergleichspopulation 31,6%), davon 95,2% mit gutem neurologischen Outcome, definiert als CPC 1 + 2 (Vergleichspopulation 72,8%). Ob diese Ergebnisse «nur» die Folge der besseren Patientenauswahl ist (initialer Rhythmus Kammerflimmern), oder der systematischen und strukturierten Patientenbehandlung, wird sich in den Folgejahren zeigen.

Das Ziel: schweizweites Netzwerk

Unverbindliche Anfragen bezüglich eines gemeinsam generierten Datenpools und daraus abzuleitender Forschung und Benchmarking zum präklinischen SCA bei den grossen Spitälern in Bern, Lausanne, Luzern und Zürich sind auf positive Rückmeldungen gestossen. Der Weg, die erfassten Daten nicht nur zum Qualitätsmanagement, sondern auch zu Forschungszwecken zu nutzen, wurde bereits durch das positive Votum der zuständigen Ethikkommission in Bern geebnet, sodass sich weitere Zentren relativ einfach über ein Amendment anschliessen könnten.
So soll ein schweizweites Cardiac Arrest Network entstehen, welches von gegenseitigem Erfahrungsaustausch und der Kooperation in nationalen und internationalen Forschungsprojekten lebt. Die bisherigen Anfragen an Stiftungen zu Förderung eines solchen Projektes wurden leider abgelehnt. Gerade in einem so schwierigen Forschungsfeld wäre eine Unterstützung und erfolgreiche Zusammenarbeit der nationalen Zentren besonders wichtig. Wir hoffen, dass die beschriebene Initiative des Inselspitals andere Zentren motiviert, auch mitzumachen, um die Versorgung von Menschen mit einem plötzlichen Kreislaufstillstand in der Schweiz zu optimieren.

FMH-Forum

Das FMH-Forum Notfall ist ein Zusammenschluss der ärztlichen Fachgesellschaften, die sich für eine Optimierung der medizinischen Notfallversorgung in der Schweiz engagieren. Schwerpunkte sind die zukünftige Rolle der ärztlichen Grundversorgerinnen und Grundversorger in der Betreuung ambulanter Notfallpatientinnen und -patienten, die Verbesserung der Rettungskette und der professionelle Rettungsdienst.
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